Luxemburgs Außenminister über Flüchtlinge: "Man kann die Menschen nicht einfach abweisen"
Jean Asselborn hält nichts von einer Obergrenze für die Zahl der Flüchtlinge in der EU. Im Interview mit dem Tagesspiegel warnt er vor weiteren Grenzschließungen in Europa.
Herr Asselborn, gibt es eine Obergrenze für die Zahl der Flüchtlinge, die 2016 nach Europa kommen können?
Nein. Wenn Menschen, die Schutz suchen, an unsere Tür klopfen, dann müssen die Mitgliedstaaten der Europäischen Union die Genfer Konvention respektieren und sie aufnehmen. Deshalb kann man keine Zahl für eine Obergrenze festlegen – weder für die EU noch für die Mitgliedstaaten.
Nach Angaben der Vereinten Nationen sind allein im vergangenen Monat 218.400 Menschen übers Mittelmeer nach Europa geflohen. Wenn man diese Zahl zum Maßstab nehmen würde, ergäbe sich rechnerisch eine Zahl von 2,6 Millionen weiteren Flüchtlingen in Europa für das kommende Jahr. Wäre dies für die Europäische Union immer noch verkraftbar?
Wir müssen uns in den kommenden Monaten und Jahren weiter auf hohe Flüchtlingszahlen einstellen. In Regionen wie dem Nahen und Mittleren Osten oder der Sahelzone werden noch längere Zeit Unfrieden und Armut herrschen. Mir ist klar, dass der Zustrom der Flüchtlinge eine sehr große Herausforderung für Europa darstellt. Ich weiß nicht, ob jetzt schon der Höhepunkt erreicht ist – auch deshalb, weil ein Ende des Syrien-Konfliktes nicht absehbar ist. Vier Länder halten den Schlüssel zur Beendigung des Krieges in Händen: Iran, Saudi-Arabien, die USA und Russland. In der kommenden Woche ist wieder ein Treffen der Außenminister in Wien geplant. Wunder darf man dabei nicht erwarten. Aber es wäre schon viel gewonnen, wenn für die Menschen in Syrien ein Ende der Barbarei immerhin in Sicht käme.
Ein Schlüssel zur Lösung der Flüchtlingskrise liegt auch in der Türkei. Welchen Beitrag soll Ankara bei der Sicherung der türkisch-griechischen Grenze leisten?
Die türkisch-griechische Grenze darf keine Grenze sein, die wie seinerzeit die innerdeutsche Grenze gesichert wird. Es geht zunächst einmal darum, überhaupt zu kontrollieren, wer zu uns kommt und Asyl beantragt. Nach den Wahlen in der Türkei sollte es möglich sein, dass der türkische Ministerpräsident Davutoglu mit seinem griechischen Amtskollegen Tsipras zu einer verstärkten Kooperation bei der Grenzkontrolle kommt.
Gelegentlich ist in Athen zu hören, dass man einen größeren Einsatz bei der Flüchtlingskrise von Gegenleistungen der EU-Partner beim Schuldendienst abhängig machen solle. Was halten Sie davon?
Als ich in der zurückliegenden Woche in Athen war, habe ich keine derartigen Forderungen gehört. Ich glaube nicht, dass die Griechen die in der Euro-Krise gefassten Beschlüsse wieder in Frage stellen. Aber wahr ist auch: Einerseits haben die Griechen in den vergangenen Jahren enorme Einbußen hinnehmen müssen, in manchen Fällen war 60 Prozent des Einkommens einfach weg. Und jetzt wird von Griechenland auch noch verlangt, den Flüchtlingen einen vernünftigen Schutz zu gewähren. Griechenland befindet sich in einer außergewöhnlichen Lage und braucht außerordentliche Hilfe, um diese Last tragen zu können. Aber ich warne davor, eine künstliche Verknüpfung zwischen der Euro- und der Flüchtlingskrise herzustellen.
Was der Außenminister über die Willkommenskultur denkt
In welcher Form können die EU-Partner Athen in der Flüchtlingskrise helfen?
Die griechische Regierung hat den Willen, diese Herausforderung zu meistern. Aber Griechenland darf beim Aufbau der Auffangeinrichtungen, die nicht nur auf den Inseln, sondern auch auf dem Festland vor einer Umverteilung auf andere EU-Staaten aufgebaut werden müssen, nicht alleingelassen werden. Den Aufbau dieser Einrichtungen kann Griechenland nicht alleine schaffen. Das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR und die EU-Kommission müssen helfen. Andererseits gibt es in Athen auch die Angst, dass Hellas mit den Zehntausenden alleingelassen wird, die nicht nach der Genfer Konvention als Flüchtlinge anerkannt werden. Die EU muss einen Rahmen schaffen, um diese Menschen in Würde wieder in ihre Herkunftsländer zurückzubringen.
Und kann der türkische Präsident Erdogan von den Europäern eine Gegenleistung für seine Kooperation erwarten?
Es ist nicht abwegig, wenn die Europäer die Türkei finanziell unterstützen. Die Türkei hat zunehmend Probleme damit, den geflohenen Syrern eine Perspektive zu bieten. Im türkischen Kilis an der Grenze zu Syrien leben mehr Syrer als Türken. Auch in Istanbul leben 350.000 Syrer. Da können wir nicht nur zuschauen. Wenn der türkische Präsident Hilfszahlungen der Europäer von maximal drei Milliarden Euro erwartet, dann dient das zunächst einmal dazu, das Leben der Syrer in der Türkei erträglich zu machen.
Ziehen alle EU-Staaten dabei mit?
Wir haben gar keine Wahl. Die Summe von drei Milliarden Euro lässt sich noch verhältnismäßig leicht aufbringen. Damit ist die Diskussion mit der Türkei aber nicht beendet: Wir sollten uns auch gegenüber dem türkischen Wunsch nach Visaerleichterungen offen zeigen. Vor allem aber sollten wir den Mut haben, in den EU-Beitrittsgesprächen die Kapitel 23 und 24 zu öffnen, in denen es um die Grundrechte und die Justiz geht. Es wäre im Interesse der Menschen in der Türkei, wenn man die rechtsstaatlichen Verhältnisse durch einen Dialog mit den Europäern verbessern könnte.
Bei Ihrem jüngsten Besuch in Athen haben Sie 30 in Griechenland gestrandete Flüchtlinge vor der Umverteilung in Richtung Luxemburg verabschiedet. Gibt es eigentlich ein luxemburgisches Pendant zum deutschen Begriff der „Willkommenskultur“?
Gegenfrage: Ließe sich überhaupt eine „Unwillkommenskultur“ mit den europäischen Werten vereinbaren? Luxemburg hat nur seine Pflicht getan. Wir haben insgesamt 750 Flüchtlinge im Rahmen der Umverteilung zu übernehmen. Die Aufnahme der 30 Flüchtlinge aus Syrien und dem Irak ist dabei ein erster Schritt, der vor allem einen hohen Symbolcharakter hat.
Warum Asselborn Ungarns Premier Orban nicht für einen Europäer hält
Wie bewerten Sie den Kurs von Bundeskanzlerin Merkel, Flüchtlinge in Deutschland im Grundsatz erst einmal willkommen zu heißen?
Menschlichkeit verlangt natürlich Organisation, sonst kann auch Menschlichkeit im Chaos untergehen. Deutschland und die EU arbeiten daran, dass kein Chaos ausbricht. Wir sind auf einem mühsamen Weg, aber es gibt keinen anderen. Ich bin davon überzeugt, dass die Kanzlerin so reagiert hat wie jeder, der Europa richtig verstanden hat: Man kann die Menschen nicht einfach abweisen.
Heißt das im Umkehrschluss, dass einige wie Ungarns Regierungschef Viktor Orban, der die Grenzen seines Landes für Flüchtlinge dicht gemacht hat, Europa falsch verstanden haben?
Wenn alle so reagieren würden wie der ungarische Ministerpräsident, dann würde das bedeuten, dass sämtliche EU-Mitgliedstaaten wieder Zäune errichten würden. Alle würden dann auf dem Sofa sitzen und sich auf die Beobachterrolle zurückziehen. Ließe sich dies mit den menschlichen, demokratischen und rechtsstaatlichen Grundwerten vereinbaren, mit denen wir uns in der EU zu Recht identifizieren? In diesem Sinne ist Viktor Orban kein Europäer. Wir sollten uns an den Politikern in der EU orientieren, die verstanden haben, dass in Europa nicht nur die materiellen, sondern auch die menschlichen Werte etwas zählen.
Drohen im Schengen-Raum, in dem die Kontrollen abgeschafft sind, demnächst die Schlagbäume wieder herunterzugehen?
Neben der Wahrung der Menschlichkeit besteht die zweite große Aufgabe darin, genau dies zu verhindern. Der Verlust der Freizügigkeit, die sich aus dem Schengen-Abkommen ergibt, wäre ein Rückschlag für die Wirtschaft, vor allem aber auch für die Bürger – denken Sie nur an die vielen Grenzgänger. Wir haben nur noch ein paar Monate Zeit, um zu verhindern, dass überall in Europa die Grenzübergänge scharf überwacht werden.
Könnte es nicht zu diesem Szenario kommen, wenn es nicht zu der von Ihnen und Kanzlerin Merkel beschworenen Umverteilung der Flüchtlinge kommt?
Vor dem nächsten Rat der EU-Justiz- und Innenminister, den ich an diesem Montag leite, möchte ich mir einen Hinweis erlauben: Das System der Umverteilung darf man nicht aufgeben, auch wenn wir jetzt einen holprigen Start erlebt haben. Wir müssen sogar weiterdenken und diesem System in ein paar Monaten einen permanenten Charakter geben...
...das würde eine Umverteilung über die bislang beschlossene Zahl von 160.000 Flüchtlingen hinaus bedeuten.
Wenn wir sehen, dass die Umverteilung dieser 160.000 Schutzsuchenden richtig in Gang kommt, kann man sich auch über einen dauerhaften Mechanismus unterhalten. Aber da sind wir noch nicht.