Asyl in Europa: Drei Millionen weitere Flüchtlinge bis 2017, 600.000 allein im Winter
Die EU rechnet mit einem anhaltend großen Andrang von Flüchtlingen. Die Vereinten Nationen erwarten nicht, dass ihre Zahl im Winter sinkt. In Deutschland dürften 2015 schon jetzt 800.000 Schutzsuchende angekommen sein. Ein Überblick.
Die EU-Kommission erwartet bis 2017 die Ankunft von drei Millionen weiteren Flüchtlingen in Europa. Das erklärte die Brüsseler Behörde am Donnerstag in ihrem Wirtschaftsausblick für die Jahre 2015 bis 2017. Zuvor hatte EU-Kommissar Pierre Moscovici erklärt, der Flüchtlingsandrang werde eine "schwache, aber positive" Wirkung auf das Wirtschaftswachstum in der EU haben.
Die UNO geht davon aus, dass auch in den Wintermonaten täglich rund 5000 Flüchtlinge über die Türkei nach Europa kommen werden. In diesem Jahr sind nach UN-Angaben schon mehr als 752.000 Bootsflüchtlinge über das Mittelmeer nach Europa geflohen. Fast 3500 Menschen kamen auf dem gefährlichen Weg ums Leben. In der Nacht zum Donnerstag ertranken erneut zwei Flüchtlingskinder vor der griechischen Insel Kos, nachdem ihr Boot 250 Meter vor der Küste gekentert war. 14 Menschen überlebten das Unglück. Vor der Küste Libyens rettete die spanische Marine rund 500 Flüchtlinge aus Seenot.
Bislang seien die Flüchtlingszahlen auf dem Mittelmeer im Winter immer stark zurückgegangen, erklärte das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR. In diesem Jahr sei damit aber nicht zu rechnen. Wie aus einem in Genf veröffentlichten Bericht zum Finanzbedarf für diesen Winter hervorgeht, rechnet das UNHCR bis Februar mit der Ankunft von durchschnittlich 5000 Flüchtlingen pro Tag. Die EU müsse sich in diesem Zeitraum daher auf die Ankunft von 600.000 neuen Flüchtlingen einstellen.
Unterdessen nähert sich die Flüchtlingszahl in Deutschland schon jetzt der vom Bundesinnenministerium für das ganze Jahr 2015 vorausgesagten 800.000. Wie das Ministerium am Donnerstag mitteilte, wurden von Januar bis Oktober rund 758.500 neue Asylsuchende und Flüchtlinge amtlich registriert. Allein im Oktober seien 181.200 hinzugekommen. Berücksichtigt man, dass viele Flüchtlinge erst mit Verzögerung registriert werden, dürfte die Zahl von 800.000 schon längst übertroffen sein.
Thomas de Maizière warnt vor zu großen Hoffnungen
Flüchtlinge sollten nach Ansicht von Bundesinnenminister Thomas de Maizière mit Deutschland nicht zu große Hoffnungen verbinden. "Viele bringen Träume von besserem Leben mit", sagte de Maizière am Donnerstag in Berlin. Viele hätten enorme Hoffnungen. "Einige von ihnen werden in Erfüllung gehen, andere nicht."
Oft nährten Schlepper unrealistische Erwartungen, etwa hinsichtlich eines Begrüßungsgelds, sagte der CDU-Politiker weiter. Nicht alle Flüchtlinge, die in Deutschland bleiben könnten, würden gleich schnell wirklich Fuß fassen. Flüchtlinge bräuchten daher Realismus, eine Haltung des Ankommens und Geduld, ergänzte de Maizière. Auch die Menschen in Deutschland müssten sich auf die Flüchtlinge einstellen: "Neugier ist von allen erforderlich."
Für eine schnellere Integration von Flüchtlingen mit Bleibeperspektive auf dem Arbeitsmarkt plädierte de Maizière dafür, flexibler mit der Prüfung von Qualifikationen umzugehen. "Wir werden mit den bisherigen Einzelfallverfahren auf Dauer nicht zu Rande kommen." So könnten Betroffene anfangen zu arbeiten, die Qualifikationen könnten dann stufenweise deutlich werden. "Wir wollen die Menschen fördern und fordern." De Maizière äußerte sich auf einer Konferenz zu Fachkräftezuwanderung und Flüchtlinge.
Die Zahlen im Überblick
Die Daten zu Flüchtlingen und Asylbewerbern lassen sich hinsichtlich Asylanträgen, Easy-Zahlen, Dunkelziffer und Prognosen aufschlüsseln.
Asylanträge: Die beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) eingegangenen Asylgesuche bilden die einzige gesicherte Zahl. Im Oktober waren dies 54.877. Das waren 11.800 mehr als im September und 157,9 Prozent mehr als im Oktober vorigen Jahres. Seit Jahresanfang haben 362.153 Menschen einen Asylantrag gestellt. Das sind schon jetzt rund 160.000 mehr als im Gesamtjahr 2014 mit knapp 203.000 Anträgen.
Easy-Zahlen: Eingereist sind im Oktober aber weitaus mehr Flüchtlinge und Asylbewerber. Das zeigt die Datenverwaltung Easy, in der Schutzsuchende registriert werden, um nach einem festgelegten Schlüssel auf die einzelnen Bundesländer verteilt zu werden. Dort wurden laut Innenministerium im Oktober 181.166 Neuzugänge erfasst. Diese Zahl übersteigt die Asylanträge, weil viele Asylsuchende schon vor dem Asylantrag von den Ländern an die Kommunen weitergeleitet werden, da die Kapazitäten der Erstaufnahmeeinrichtungen erschöpft sind. Der formale Asylantrag kann sich daher um Wochen verzögern. Diese Zahl macht auch deutlich, dass sich beim Bundesamt für Migration eine immer größere Bugwelle noch nicht eingereichter Asylanträge aufbaut. Hauptherkunftsländer der Neuzugänge waren im Oktober demnach Syrien (88.640), Afghanistan (31.051) und Irak (21.875).
Dunkelziffer: Aber auch die Easy-Zahlen bilden die Wirklichkeit nicht voll umfassend ab. Manche entziehen sich jeder Registrierung, etwa weil sie Deutschland nur zur Durchreise beispielsweise nach Schweden nutzen wollen. Aus den Ländern heißt es, vielerorts fehle es an Personal und Kapazitäten, neu eintreffende Flüchtlinge rasch zu registrieren.
Prognose 2015: Erst im Sommer hat das Bundesinnenministerium die Prognose gestellt, dass in diesem Jahr mit 800.000 Flüchtlingen und Asylbewerbern zu rechnen sei. Diese Voraussage ist überholt, wird bisher aber nicht korrigiert, obwohl Vertreter der Länder oder auch SPD-Chef Sigmar Gabriel längst von einer Million Flüchtlingen ausgehen.
Asyl-Entscheidungen: Das Bundesamt für Migration entscheidet zwar über weitaus mehr Anträge als im vorigen Jahr. Doch mit dem raschen Zustrom der Flüchtlinge hält es nicht Schritt. Laut Innenministerium hat die Behörde von Januar bis Oktober 205.265 Entscheidungen getroffen, mehr als doppelt so viele wie im selben Zeitraum 2014. Davon erhielten 39,7 Prozent der Asylbewerber den Flüchtlingsstatus laut Genfer Konvention zuerkannt und dürfen damit in Deutschland bleiben. Davon wiederum wurden 1682 (0,8 Prozent aller Entscheidungen) als Asylberechtigte nach Artikel 16a des Grundgesetzes anerkannt.
Die Zahl der noch unerledigten Anträge stieg bis Ende Oktober um fast 30.000 auf 328.207. Hinzu kommt eine nicht bezifferbare Zahl von Flüchtlingen, die bereits registriert sind, deren Asylantrag aber noch nicht erfasst wurde. (AFP, rtr, dpa)
Flüchtlinge, Asyl, Kosten, Drittstaaten: Lesen Sie hier einen Hintergrund-Artikel über Daten und Begriffe.