800.000 neue Pässe ausgegeben: Syriens Regime verdient gut an Flüchtlingen
Seit Januar hat das Regime von Baschar al Assad 800.000 neue Pässe ausgegeben - und gut daran verdient. Experten sehen darin zudem politisches Kalkül.
Unter die zehntausenden syrischen Flüchtlingen, die an der türkischen Westküste auf die Reise nach Griechenland warten, mischen sich immer mehr Menschen, die frisch aus dem Flugzeug kommen. "Syrer aus dem Libanon und dem Irak kommen ganz legal auf dem Luftweg in die Türkei, fliegen nach Bodrum oder Istanbul und reisen von dort aus an die Küste“, sagt Taner Kilic, Vorsitzender des türkischen Flüchtlingshilfsverbandes Mülteci-Der. Kilic zufolge hat diese Gruppe zum Anstieg der Flüchtlingszahlen in Griechenland beigetragen. Eröffnet wurde die neue Fluchtroute nicht zuletzt durch eine neue Freigiebigkeit der syrischen Regierung: Sie hat allein seit Januar mehr als 800.000 Pässe ausgegeben.
Täglich werden offenbar 3000 neue Pässe ausgegeben
Nach einem Bericht der regierungstreuen syrischen Zeitung "Al Watan“ werden derzeit etwa 3000 Pässe pro Tag ausgestellt; seit Jahresbeginn sind es bereits 829.000. Neue Regeln erleichtern die Beantragung oder Verlängerung eines syrischen Passes. Die gleichzeitig stark gestiegenen Pass-Gebühren für Syrer im Ausland haben der Staatskasse in Damaskus laut "Al Watan“ seit Januar mehr als eine halbe Milliarde Dollar (458 Millionen Euro) eingebracht.
Syrer brauchen in der Türkei kein Visum. Sie können also ohne Probleme einreisen. Wie der türkische Flüchtlingsexperte Kilic dem Tagesspiegel am Donnerstag sagte, bleiben viele Syrer nach der Ankunft mit dem Flugzeug nur wenige Tage in der Türkei, bevor sie mit dem Boot nach Griechenland fahren. Ein Flugticket von Beirut nach Istanbul kostet weniger als 400 Euro pro Person – da die illegale Reise in die Türkei mit Hilfe von Schleppern ebenfalls Geld kosten würde, ist die Flugreise mit neuem Pass eine Alternative für die Flüchtlinge. Insgesamt sind vier Millionen Syrer seit Ausbruch des Konflikts in ihrem Land ins Ausland geflohen.
"Das ist ein politischer Schritt von Damaskus"
Andere Experten bestätigen, dass viele Flüchtlinge neuerdings aus Syrien mit gültigen Pässen in die Türkei kommen. "Das ist eine ganz neue Entwicklung", sagt Murat Erdogan von der Hacettepe-Universität, der führende Migrationsforscher der Türkei. Auf die Frage, ob die Regierung von Präsident Baschar al Assad damit die Flüchtlingskrise in Europa absichtlich anheize, antwortete der Professor: "Natürlich. Das ist ein politischer Schritt von Damaskus." Möglicherweise steckt dahinter die Erwartung, dass der Flüchtlingsansturm die Europäer zu einer Lösung des Syrien-Konflikts unter Beibehaltung der derzeitigen Assad-Regierung bewegen wird.
Was immer die Beweggründe sein mögen: In der Türkei sehen sich die Behörden immer häufiger außerstande, die Flüchtlinge in den Küstengebieten von der Fahrt nach Griechenland abzuhalten. Kommunen und Bezirke müssten aufgegriffene Flüchtlinge versorgen und unterbringen, sagte Migrationsforscher Erdogan. "Die Kapazitäten sind überfordert."
In der Türkei leben bereits 2,5 Flüchtlinge aus Syrien und dem Irak
Den Vorwurf europäischer Politiker und Medien, die türkische Regierung lasse viele Flüchtlinge absichtlich nach Europa reisen, hält der Experte für abwegig. Ein solches Vorgehen würde türkischen Interessen widersprechen, sagte er: Mit einer absichtlichen Öffnung der Schleusen nach Europa würde die Türkei noch mehr Flüchtlinge anziehen. Schon jetzt bietet das Land rund 2,5 Millionen Menschen aus Syrien und dem Irak Zuflucht. Allein in Istanbul leben nach Schätzungen von Fachleuten mehr Syrer als in ganz Westeuropa.
Zur Überforderung der türkischen Behördenkommt hinzu, dass die Schlepperbanden immer besser organisiert sind. So stieß die Polizei im westtürkischen Izmir auf eine Lagerhalle, in der große Schlauchboote für den Transport von Flüchtlingen hergerichtet wurden. Presseberichten zufolge passen die Schleuser die Preise für die Überfahrt nach Griechenland sogar der Jahrszeit an: Demnach gibt es Sonderangebote für die besonders gefährliche Bootsreise in Herbst und Winter. Seit Januar hat die türkische Küstenwache rund 70.000 Flüchtlinge aus der Ägäis gerettet.
Opposition in Ankara kritisiert Behörden
Kritik gibt es dennoch. Zurzeit unternähmen die Behörden nicht genug gegen die Schlepperbanden, sagt Sezgin Tanrikulu, Vizechef der säkularistischen Partei CHP, der stärksten Oppositionspartei im türkischen Parlament. Vom Vorschlag der Europäer, Registrierungszentren für Flüchtlinge in der Türkei aufzubauen, hält er aber nichts. "Die Europäer wollen uns Geld geben und dann sagen: 'Behaltet ihr die Flüchtlinge'," sagte Tanrikulu dem Tagesspiegel. "Das ist unmoralisch."