Türkei nach der Wahl: AKP-Chef Davutoglu tritt aus dem Schatten von Erdogan
In der Türkei ist der gemäßigtere Premier Davutoglu gegenüber Präsident Erdogan gestärkt aus der Wahl hervorgegangen. Er könnte auf einen versöhnlicheren Politikstil setzen.
Für Ahmet Davutoglu war der Sieg der türkischen Regierungspartei AKP vom Sonntag nicht nur ein großer politischer, sondern auch ein persönlicher Erfolg. Der Triumph vom 1. November lässt den türkischen Ministerpräsidenten und Vorsitzenden der AKP erstmals aus dem Schatten des übermächtigen Präsidenten und AKP-Gründers Recep Tayyip Erdogan treten. Davutoglu gilt als gemäßigter als das politische Raubein Erdogan – doch zumindest bisher hält der Premier am harten Kurs gegenüber Kritikern fest.
Der Wahlerfolg der AKP sei der „Sieg des Lehrers“, analysierte die Zeitung „HaberTürk“. Mit der breiten Parlamentsmehrheit im Rücken könnte der frühere Universitätsprofessor Davutoglu ab sofort versuchen, den Einfluss des als „Meisters“ der AKP verehrten Erdogan auf die Regierungsarbeit zu begrenzen. Besonders wichtig sei, dass sich Davutoglu nach der Wahl zur Bedeutung rechtsstaatlicher Regeln bekannt habe, schrieb der Kolumnist Taha Akyol in der „Hürriyet“.
Der 56-jährige frühere Politikprofessor Davutoglu aus dem zentralanatolischen Konya hat seine politische Karriere dem fünf Jahr älteren Erdogan zu verdanken. Er arbeitete zunächst als außenpolitischer Berater des damaligen Premiers und wurde 2009 zum Außenminister ernannt. Als Erdogan im vergangenen Jahr ins Präsidentenamt wechselte, machte er Davutoglu zum Ministerpräsidenten.
Bisher agierte Davutoglu so treu als Gefolgsmann Erdogans, dass er bei Kritikern der Regierung als Marionette verhöhnt wird. Nun aber hat Davutoglu nach einem von ihm selbst geführten Wahlkampf in der Türkei mehr als 49 Prozent der Stimmen eingefahren und die AKP auf 317 Sitze im Parlament gebracht.
Einige Beobachter erwarten, dass Erdogan künftig nicht mehr ohne weiteres in allen Bereichen der Regierungsarbeit seinen Willen durchsetzen kann. Anders als Erdogan ist Davutoglu für einen eher versöhnlichen Politik-Stil bekannt. Deshalb lautet die erste Erwartung an den Premier, dass die AKP die Rechte der politischen Minderheit respektiert und mit der Opposition zusammenarbeitet, soweit das möglich ist.
„Hürriyet“-Kommentator Akyol hob hervor, Davutoglus Hinweise auf den Wert des Rechtsstaates zeigten, dass sich der Premier der derzeitigen Probleme bewusst sei. Er sei sicher, dass Davutoglu es ernst meine, wenn er sage, er wolle sich um alle Bürger – und nicht nur um AKP-Wähler – kümmern. Ex-Präsident Abdullah Gül und andere Politiker forderten nach der Wahl ebenfalls ein Ende der überharten Rhetorik und eine neue Rücksichtnahme im Umgang miteinander.
Die Frage ist, ob Davutoglu diesen Appellen folgen kann und will. Viele Kommentatoren gehen davon aus, dass sich der „Lehrer“ weiter dem „Meister“ Erdogan unterordnen wird.
Einschüchterung der Kritiker
Die ersten Tage nach der Wahl wurden jedenfalls nicht von einem abnehmenden, sondern eher von einem weiter wachsenden Druck der Regierung auf ihre Kritiker geprägt. So verhinderten die Behörden die Auslieferung der neuesten Ausgabe des regierungskritischen Nachrichtenmagazins „Nokta“ und nahmen Chefredakteur Cevheri Güven und den leitenden Redakteur Murat Capan fest. Bereits in den vergangenen Wochen waren Ausgaben von „Nokta“ verboten worden.
Zwei Tage nach Davutoglus Sieg nahm die Polizei am Dienstag zudem 44 mutmaßliche Anhänger des Erdogan-Feindes Fethullah Gülen fest, darunter hohe Verwaltungsbeamte und Polizeioffiziere. Erdogan wirft der Bewegung des islamischen Predigers Gülen vor, die staatlichen Institutionen der Türkei unterwandern zu wollen, was Gülen zurückweist. Auch die Luftangriffe auf die PKK-Kurdenrebellen im Südosten der Türkei und im Nordirak gehen weiter.
Die Haltung der türkischen Führung beunruhigt nicht nur Kritiker in der Türkei selbst, sondern auch die USA. Präsidentensprecher Josh Earnest beklagte die „Einschüchterung“ von Erdogan-Gegnern in der Türkei und den Druck auf die Medien. Ankara sei aufgerufen, „universelle demokratische Werte“ aufrechtzuerhalten. Das Thema dürfte beim Besuch von Barack Obama in der Türkei Ende kommender Woche eine Rolle spielen.