Coronavirus trifft auf Flüchtlingskrise: Die doppelte Hölle von Lesbos
Bis das Coronavirus das griechische Lager Moria erreicht, ist nur eine Frage der Zeit. Es trifft dort auf 20.000 Menschen, Gewalt – und besten Nährboden.
- Sebastian Leber
- Annette Kögel
- Katja Demirci
- Frank Jansen
- Kai Müller
Selbst wenn man die Insel noch bei guter Gesundheit erreiche, sagt Sophie MacCan, werde man „mit jedem Tag, den man auf Lesbos verbringt, ein bisschen kränker. Die Insel macht einen krank.“ MacCan ist 36 Jahre alt, Britin, sie lebt in London, und sie ist wider Willen eine Art Managerin dieses Zustands geworden.
Als Mitarbeiterin eines Ärzte-ohne-Grenzen-Teams, die sich um Zahlen und Daten kümmert und dafür sorgt, dass man die Situation im und rings um das Flüchtlingslager von Moria im Osten der Insel besser versteht, kennt sie den Krankenstand dort ziemlich genau. Sie weiß, wie viele Kinder in der von Ärzte ohne Grenzen betreuten Tagesklinik in Behandlung sind, täglich 100, wie viele psychotherapeutisch betreut werden, nämlich 60, dass 340 an chronischen Infekten, Herzproblemen, Asthma und Epilepsien leiden.
Und jemand mit einer Expertise wie MacCan muss auch wissen, dass die Ankunft des Coronavirus’ im Lager wohl nur noch eine Frage der Zeit sein wird. Das, was von Medien seit einigen Wochen die Hölle von Moria und Hölle auf Lesbos genannt wird, würde dann eine doppelte. Und dann bricht am Montag auch noch erneut ein Brand aus. Dabei ist ein sechs Jahre altes Mädchen ums Leben gekommen, die Feuerwehr geht nicht von Brandstiftung aus.
8000 Kinder, 1000 auf sich allein gestellt
Ärzte ohne Grenzen fordert die Evakuierung der EU-Flüchtlingslager auf den griechischen Inseln. Die Lebensbedingungen dort seien ein idealer Nährboden für Covid-19. In einigen Bereichen des Lagers gebe es nur eine Wasserzapfstelle für 1300 Bewohner, und Seife sei nicht erhältlich.
Am Freitag schien es dann so weit zu sein, dass in Moria, wo Europas Flüchtlingskrise kulminiert, die Coronapandemie angekommen ist - und damit auf für ihre Verbreitung denkbar bestem Boden. Es gab ein Gerücht, es kursierte auf Facebook, die Rede war von einem oder gar zwei Krankheitsfällen im Lager. Anderswo auf der Insel ist das Virus nachweisbar da, Mitte der vergangenen Woche wurde der erste Krankheitsfall bekanntgegeben.
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Sophie MacCan sagt am Telefon, dass unter den 20000 Menschen, die sich in Zelten und provisorischen Behausungen in Moria angesiedelt haben, 8000 Kinder leben, von denen 1000 auf sich allein gestellt sind. Sie hausen im Dreck, umgeben von Gewalt. Die hygienischen Zustände seien so furchterregend, dass die Abwehrkräfte der Lagerbewohner aufgezehrt werden. „Wir schaffen eine kranke Bevölkerung“, sagt MacCan.
Menschen, Müll und guter Wille
Die Flüchtlinge sitzen in der Falle.
So sehen es die Helfer vor Ort. Und auch sie fühlen sich am Rand Europas gefangen. Eingekeilt in einem Konflikt, dessen Aggression sich in Brandstiftungen, körperlichen Attacken entladen hat. Es zwingt sie, „Maßnahmen wie in einem Bürgerkriegsgebiet zu ergreifen“, wie es MacCan ausdrückt. Zwei Tage blieb die Klinik vorvergangene Woche aus Sicherheitsgründen geschlossen. MacCan reagiert äußerlich gelassen, doch erfreulich sei die aufkeimende Gewalt nicht.
Und nur an der Oberfläche ist der Konflikt einer zwischen Einheimischen und all den Fremden, die die Urlaubsinsel mit Menschen, Müll und gutem Willen überhäufen. „Die Insulaner haben sich wirklich offen gezeigt“, sagt MacCan, „aber sie sind jahrelang im Stich gelassen worden.“ Die Ursprünge der aufgeladenen Situation reichen, wenn nicht vier Jahre, so doch sechs Monate zurück.
„Weil es unserer Kultur entspricht“
Chistina Chatzidakis wohnt seit 68 Jahren auf Lesbos, ihr ganzes Leben lang auf Lesbos. Das Coronavirus auf der Insel? „Das wäre ein Desaster“, hatte Chatzidakis zwei Tage vor dem Facebook-Gerücht gesagt. Nein, schreibt sie zwei Tage später in einer Whatsapp-Nachricht, es sei noch nicht so weit, „noch nicht“. Es habe einen Test gegeben, der Test war negativ.
Gemeinsam mit anderen Freiwilligen hat sie in der Hauptstadt Mytilini eine Hilfsorganisation gegründet, Syniparxi, die sich um Flüchtlinge auf der Insel kümmert – seit zwei Jahrzehnten. Erst waren es Menschen aus der Sowjetunion, aus dem nahen Albanien, dann irgendwann Kriegsflüchtlinge aus Afghanistan. 2011 kamen die ersten Syrer.
„Warum ich das tue?“, sagt Chatzidakis, „weil es unserer Kultur entspricht, weil wir den Schwächsten helfen wollen.“ Für Syniparxi sind das vor allem unbegleitete Kinder, die im Lager von Moria quasi eingesperrt sind, weil sie allein nicht hinausdürfen. „Wir haben sie dort rausgeholt, Ausflüge mit ihnen unternommen, ihre Feiertage mit ihnen gefeiert.“
Kriminelle, Diebe
Dass ihre Insel nun weltweit als Insel der Faschisten in den Medien auftaucht, mache sie unglücklich. „Aber die Menschen sind sauer.“ Nicht auf die Flüchtlinge – auf die griechische Regierung, die Lesbos und seine Bewohner ihrem Schicksal überlässt.
Unter so vielen Flüchtlingen seien auch Kriminelle, Diebe. Dass sich viele Inselbewohner darüber aufregen, hätten sich Rechtsradikale zunutze gemacht – und beinahe die Überhand gewonnen. Doch den Mob, der ab Ende Februar pöbelnd und prügelnd über die Insel zog, fanden die Einwohner abstoßend, sagt Chatzidakis. Noch vor einer Weile hätten etwa 270 Menschen im Lager gearbeitet, angestellt von der Regierung, mittlerweile seien es noch rund 30. „Sie haben früher schon einmal versucht, das Leben für die Flüchtlinge so hart zu machen wie möglich.“ Damit bloß niemand mehr kommen wolle. Es hat nicht funktioniert.
„Der Regierung in Athen egal“
An dem Tag Mitte Juli 2019, als die konservative Partei Nea Demokratia die Parlamentswahl gewann, lebten weniger als 6000 Flüchtlinge in Moria. Das war das Doppelte dessen, wofür das Aufnahmelager konzipiert war. Innerhalb eines halben Jahres hat sich die Zahl auf jene 20000 erhöht.
Nikolaos Panagiotopoulos, 34 Jahre alt, hält viel auf die Solidarität der Insulaner. Jetzt sei sie abgenutzt, sagt der Mann, der seit drei Jahren als Verantwortlicher des International Refugee Rescue Comitee (IRC) auf Lesbos tätig ist. Die Bevölkerung habe erfahren müssen, „dass sie der Regierung in Athen egal ist“.
Premierminister Kyriakos Mitsotakis gewann die Wahl mit dem Versprechen, eine restriktivere Flüchtlingspolitik zu betreiben, als es die zuvor regierenden Sozialisten getan hatten. Doch auch seine Partei bekam den Zustrom über die Ägäis nicht besser in den Griff. So verfiel Mitsotakis’ Regierung auf die Idee, ein neues Auffanglager im dünn besiedelten Norden der Insel bauen zu wollen. Ende Februar kam es zu den schweren Krawallen, Straßensperren wurden errichtet, Einrichtungen von Hilfsorganisationen gingen in Flammen auf. „Der Druck wird einfach an die 38000 Einheimischen weitergegeben.“
Sie wissen, wer er ist
Die teilen sich mit den Migranten das Krankenhaus, die Schulen, Busse und Läden. Panagiotopoulos sagt, „man müsste die Kapazitäten verdoppeln. Das ist aber nicht passiert.“ „Die vergangenen drei Wochen waren aufreibend“, sagt er. „Immer auf dem neuesten Stand bleiben zu müssen und die Lage für die 90 Mitarbeiter des IRC zu checken, hat mir keine Ruhepause gegönnt.“ Noch ist ihm selbst nichts passiert, aber es gebe Leute, „die mir auf der Straße zu verstehen geben, dass sie wüssten, wer ich bin und was ich hier tue.“
„Der Rechtsstaat ist außer Kraft gesetzt“, sagt Erik Marquardt, Europaabgeordneter der Grünen aus Berlin. Seit mehr als zwei Wochen ist er auf Lesbos, beobachte, wie die Polizei rechtradikale Gewalttäter gewähren lässt. „Vermummte, bewaffnete Gruppen dürfen sich in der Öffentlichkeit frei bewegen, Schrecken verbreiten, kein Beamter greift ein.“ Auf Hilfsorganisationen und Geflüchtete werde Jagd gemacht. Es gibt „Straßensperren rechter Banden, die mit Eisenketten jeden verprügeln wollen, der mutmaßlich nicht auf der Insel geboren wurde.“
„Kommt und holt sie euch“
Nicht auf der Insel geboren wurde auch der von Halle aus agitierende Identitären-Aktivist Mario M. Er ist nach Lesbos gereist, gemeinsam mit einem weiteren Identitären - und dem NPD-Mann Jonathan S. Ende vorvergangener Woche wird Jonathan S. in mutmaßlich von griechischen Linken attackiert, der NPD-Mann erleidet eine Platzwunde am Kopf. Mario M. postet im Internet Bilder, auf denen er mit dem blutenden Jonathan S. zu sehen ist. M. ballt neben S. die rechte Faust, darunter steht auf Englisch eine Botschaft an die griechischen „Kameraden“: „Es sind einige Antifa-Ratten auf den Inseln. Kommt und holt sie euch.“
Mario M. ist auf Lesbos auch als „Reporter“ des Magazins „Compact“ unterwegs. Das Magazin, das Verschwörungstheorien stapelt und „Freiheit für Beate Zschäpe“ fordert, schlachtet den Angriff auf die Rechten in Mytilini als Märtyrer-Story aus. Mario M. habe gerade einen Ladenbesitzer interviewt, als acht dunkel gekleidete Angreifer gekommen seien. Jonathan S., von „Compact“ mit seinem Künstlernamen „Johannes Scharf“ genannt, habe „mehrere Hiebe mit einem Totschläger auf den Hinterkopf“ abbekommen.
„No Way“
„Compact“ spinnt die Geschichte weiter. Mario M. sei im Flugzeug nach Lesbos von deutschen Linken erkannt worden, diese könnten die Informationen an griechische Autonome weitergegeben haben. Außerdem soll ein türkischer Twitter-Account den Aufenthaltsort von Mario M. kurz vor dem Angriff gemeldet haben. „Die Türken unter Führung ihres Präsidenten Erdogan haben durchaus ein Interesse daran, dass der Einfluss europäischer Patrioten an der hart umkämpften Grenze so klein wie nur irgend möglich gehalten wird“, schreibt „Compact“.
Der Wortführer der Identitären Bewegung wiederum, der Österreicher Martin Sellner, postet am 4. März ein Foto, zusammen mit Anhängern von der griechischen-türkischen Landgrenze. Die Gruppe steht an einer Schnellstraße und präsentiert ein Transparent mit der Aufschrift „No Way“, eingerahmt von aufgemaltem Stacheldraht. Auf dem Spruchband steht auch: „You will not make Europe your home“.
„Hier wird es zur Zielscheibe“
Als Erik Marquardt, der grüne Europaabgeordnete, von Vermummten mit Schlagstöcken mit dem Tod bedroht worden sei, habe die Polizei nicht die Täter mitgenommen, sondern ihn. Auf der Wache hätten die Beamten ihm gesagt, er solle sich halt künftig von den Stränden fernhalten und nicht mehr beobachten, wie die Ankommenden behandelt werden.
Noch immer versuchten Rechte, mit Straßensperren das Camp Moria von der Inselhauptstadt Mitilini zu isolieren, Mitarbeitern von Hilfsorganisationen den Zugang zu versperren. Dass auf Lesbos noch keine „national befreiten Zonen“ gewaltbereiter Rechtsextremer errichtet wurde, sei kein Verdienst der Polizei, sondern der Mehrheit der Inselbewohner, die sich dagegen stellten. Einige Organisationen hätten ihre Teams von der Insel abgezogen, andere ihre Mitarbeiter angewiesen, in ihren Wohnungen zu bleiben. „Die Arbeitsbedingungen sind schlimmer als in manchen Kriegsgebieten. Anderswo werden Autos durchgewunken, wenn ein rotes Kreuz drauf ist. Hier wird es zur Zielscheibe.“
Sich prügeln oder zu Hause bleiben
Und auch Marquardt sagt: Die rechten Bürgerwehren würden als Teil einer Strategie der maximalen Abschreckung stillschweigend geduldet. „Dass die griechische Regierung so handelt, ist eine Sache“, sagt Erik Marquardt. „Aber dass die anderen 26 Staaten dies decken und die EU-Kommission keinerlei Druck macht, das ist ein Armutszeugnis.“
„Die Flüchtlinge haben natürlich große Angst“, sagt Nikolaos Xypolytas, Dozent an der Universität der Ägäis in der Inselhauptstadt Mytilini. Seit einem Jahr unterrichtet er dort Soziologie, Spezialgebiet Migration.
Dass die Situation auf Lesbos jetzt zu einer Zurschaustellung rechtsradikaler Macht werde, regt Xypolytas auf. Auch weil es der Bevölkerung nur die Wahl zwischen zwei Optionen lässt: sich prügeln – oder zu Hause bleiben. Auch er sei schon in einem Zeitungsartikel attackiert worden: Sein Postgraduate-Kurs zum Thema Massenmedien und Migration züchte die nächsten Gutmenschen a la George Soros heran.
Als am vorvergangenen Wochenende Rechte wieder zuschlugen, sei er zu Hause geblieben. „Ich hätte eh nur meine Freunde getroffen und über die aktuelle Situation gesprochen“, sagt er. Er zog es vor zu lesen. „Es ist eine dunkle Zeit.“
Sie üben. Fliehen
Auch die Bewohner des Camps Moria verließen es derzeit nicht, sagt er. Es sei kaum zu erahnen, wie sich die Menschen fühlen. Sie hätten einen langen Prozess der Ausgrenzung hinter sich. Erst im Herkunftsland, dann in der Türkei und nun in Griechenland, sagt Xypolytas. Bis nichts mehr bleibt als der nackte Wunsch zu überleben. „Wir werden hier Tote haben“, sagt Nikolaos Xypolytas, „es ist nur eine Frage der Zeit.“
Im Mittelmeer würden gleißende Sonnenstrahlen tänzeln, der Frühling kündige sich an, zugleich herrsche angespannte Stimmung an Bord, sagt Flo Strass ins Handy, die Crew schaue immer wieder prüfend bis zum Horizont auf die See. Strass ist 32 Jahre alt, Kreuzbergerin und diensthabende Leiterin an Bord der „Mare Liberum“. Das Schiff gehört zu einem gleichnamigen Berliner Verein, üblicherweise kreuzt es in den Gewässern zwischen türkischem und griechischem Hoheitsgebiet, um humanitäre Beobachtungsfahrten zu machen. Doch im Moment bekäme es „nicht die Erlaubnis eines Hafens, anlegen und Vorräte auffüllen zu dürfen, weil die Sicherheit für uns nicht garantiert werden könne“.
Es wird Nachtwache gehalten
So ankern die sechs Crewmitglieder – eine Spanierin, eine Französin, vier Deutsche Ehrenamtliche – vor einer Bucht im Süden der Insel. Bei Wasser und Verpflegung weiß man sich zu helfen, für andere Situationen wird gerade geübt. „Wir trainieren, wie wir reagieren, falls wir wieder angegriffen werden“, sagt Strass. Also, wie alle möglichst schnell von Bord kommen und fliehen können zum Beispiel.
Ein paar Tage zuvor seien Einheimische im Hafen auf das Schiff zugerannt, Männer hätten gebrüllt, hätten Benzin auf Deck gegossen. Flo Strass sagt, sie könne gut schlafen, aber Nachtwache werde gehalten.
Aber es werden auch Vorbereitungen getroffen, so schnell wie möglich wieder rauszufahren. „Jetzt ist das wichtiger denn je“, sagt Strass.
Im Internet ist in einem Film zu sehen, wie Küstenwachen-Mitarbeiter den Passagieren eines Migranten-Schlauchboots durch bewussten Wellenschlag Angst machen. Männer schlagen mit einem Bootshaken auf Leute an Bord ein.
Menschen schlafen auf Steinen
„Wir haben auch Angst vor dem Coronavirus, das kann sich bei den Verhältnissen in den Camps noch leichter verbreiten“, sagt eine Betreiberin eines kleinen Hotels in Skala Sikamineas am Telefon, einem Fischerort im Nordosten von Lesbos. Skala Sikamineas ist eine Postkartenidylle, wären da nicht die schreienden durchnässten Kinder, zitternden Männer in der Hocke am Handy und die Wollmützen als Not-Kopftücher benutzenden Frauen.
Nachts spenden den Gestrandeten brennende dünne Äste am Strand Wärme. Menschen schlafen auf den Kieselsteinen, in den Straßen. Bis vor kurzem sorgten in Skala Sikamineas noch Freiwillige aus der halben Welt - Australien, Neuseeland, USA, Skandinavien, Polen, Österreich - zusammen mit der griechischen Küstenwache und internationalen und lokalen Hilfsorganisationen dafür, dass die aus der Türkei ankommenden Schlauchbootpassagiere an Land ins Transitlager II weitergefahren wurden.
Das wurde angezündet. Morgens sitzen die Fischer nun zwischen Fremden aus aller Welt, flicken ihre Netze. Und auch hier Hilfsprojekte ihre Ehrenamtlichen gebeten, die Insel zu verlassen. „Im Moment ist es aber schön ruhig, ein Glück„, sagt die Hotelbetreiberin, die namentlich nicht genannt werden will. Schon zwei Tage keine Neuankünfte aus er Türkei.
„Wie wenig kostet ein Brot?“
So sehr Griechen auf Lesbos selbst nicht mehr können, so sehr tun einigen die gezeichneten Flüchtlinge dennoch weiter leid. „Wie wenig kostet ein Brot? Und es stillt den Hunger der Hungrigen“, sagt die Hotelbetreiberin Meer. Im Fernsehen habe sie gesehen, dass Recep Tayyip Erdogan nun schon von neun Millionen Migranten in der Türkei spricht.
Als das One Happy Family Community Center (OHF) gerade Feuer fing, war eine junge Frau aus Köln gerade bei einem nahegelegenen Supermarkt. „Als ich rauskam und die Flammen sah, dachte ich, das kann doch nicht wahr sein“, sagt sie. Die Behörden ermitteln wegen Brandstiftung. Die 29-Jährige Krankenschwester, die in dem Zentrum nahe Moria ehrenamtlich arbeitet- eine Klinik, eine Schule, ein Café, ein Frauenraum, ein Laden, von einem Schweizer und einem deutschen Verein betrieben -, will ihren Namen ebenfalls nicht veröffentlicht wissen.
Frontscheiben werden zertrümmert
OHF vermittelte zwischen Einheimischen und Gestrandeten, bot Kindern die Chance, die Umstände zwischen Matsch und Müllbergen und unter Plastikplanen unter freiem Himmel zu vergessen. Die Frau erzählt von einer „eingeschränkten Stimmung“, die sie spürt. An Mietwagen von Ehrenamtlern haben wohl Einheimische Blechschäden angerichtet, Frontscheiben zertrümmert. Sie möchten nicht, dass die Zahl der Migranten womöglich bald so hoch wie die der Inseleinwohner. Sie möchten nicht, hart arbeitend wegen der Wirtschaftskrise und haushalten müssend - vor sich in der Warteschlange am Geldautomaten Migranten dabei zusehen, wie sie die 90 Euro Hilfe Monat für Monat fürs Nichtstun abheben.
Viele Griechen möchten nicht mehr, dass Helfer den Migranten helfen, in ihre Heimat einzudringen, die ihnen nicht mehr zu gehören scheint. „Ich gucke mich jetzt öfter vorsichtig um“, sagt die Krankenschwester. Womöglich hat sie dabei auch schon den deutschen Robert P. entdeckt. Zu den rechten Fanatikern, die es nach Griechenland zieht, zählt auch er und sein Blogger-Kollege Oliver F. sowie ein Begleiter. Sie brechen Anfang März auf, zunächst nach Athen, dann nach Lesbos. Robert P. ist deutschen Sicherheitsbehörden bekannt, er gilt als Anhänger der Identitären, als Reichsbürger – und als Waffenfreak.
„Die einzige Europäerin“
Kurz nach dem Anschlag in Hanau gibt er in einem Video zynische Sprüche von sich, an der Wand hinter P. hängen zwei Pistolen und eine Maschinenpistole. „Glaubt mir, ich würde gerne 'ne Menge Leute umlegen, so richtig persönlich“, sagt P. und betont: „Ich liebe Waffen“. Was P. an der Wand hängen hat, ist aber offenbar ungefährlich. Leute aus Sicherheitskreisen sagen, nach Erkenntnissen der Polizei seien die Pistolen und die Maschinenpistole „Dekowaffen“.
In einem Vorort von Athen posieren P. und Oliver F. in einer Wohnung für ein Video. Zwischen ihnen sitzt die Mutter von P., eine Griechin. Animiert von den beiden Männern erzählt die Frau, dass es in den 1970er Jahren in Deutschland schön war, sie aber vor zwei Jahren bei einem Besuch „nur noch weg“ wollte – weil sie in einem Bus „die einzige Europäerin“ gewesen sei. Und am in der Nacht zum vorvergangenen Sonntag teilweise zerstörten One Happy Family Center sagt er, das Haus habe gebrannt, weil die Hilfsorganisation illegale Einwanderer aus der Türkei ins Land brachte.
„Wir leisten Erstversorgung“, sagt die Krankenschwester.
Menschenrechte habe er sich erhofft
Die Klinik, in der sie arbeitet, ist nicht von Feuer und Löschwasser beeinträchtigt, alle prüfen, wieder die Arbeit dort aufzunehmen. Derzeit sind die meisten Migranten aus Pakistan, Iran und Afrika, weit weniger Syrer als 2015 erreichen die EU. Es kommen auch viele Afghanen. Einer davon ist Zabi.
Er sei 31 Jahre alt, habe in Afghanistan als Übersetzer für Ärzte und Psychologen gearbeitet, spreche sechs Sprachen. Er sei vor einem halben Jahr auf der Insel angekommen, erzählt er. Und: „Als Mensch und Flüchtling tut es mir weh mitzubekommen, was nun auf Lesbos passiert“. Seither lebt er in Moria, wo er sich einen Container mit etwa zehn weiteren Männern teile. „Wir hören hier von den Demonstrationen gegen Flüchtlinge“, erzählt er am Telefon. Und dass er die Beweggründe der Bevölkerung verstehen kann. Alle Geflüchteten einfach nach Griechenland zu schaffen, das sei ja keine Lösung. „Griechenland braucht Unterstützung, nicht nur von der EU, sondern von der ganzen Welt.“ Leider verstehe er kein Griechisch. Zu gern würde er sich die Beweggründe der Demonstranten erklären lassen und durchdringen. Einerseits.
„Aber wir haben unsere Heimat ja nicht zum Spaß verlassen“, sagt Zabi. Menschenrechte, das habe er sich von Europa erhofft, sagt er. Und es hatte ja auch nicht so schlecht begonnen: Als das Boot, in dem er saß, einen Strand im Norden der Insel ansteuerte, waren das erste, was er gesehen habe, winkende Menschen. Sie waren Mitarbeiter internationaler Hilfsorganisationen, die den Ankommenden zu verstehen gaben, in ihre Richtung zu steuern. Er erinnert sich an eine erste Registrierung an Land, an Essen und vor allem an warmen Tee.
Angststörungen, Depressionen, Panikattacken
Eine Stunde habe anschließend die Fahrt in einem Polizeibus gedauert, der ihn und die anderen ins Camp von Moria brachte, dort habe es Essen, Decken und Informationen gegeben. Die ersten Nächte habe Zabi auf dem Boden geschlafen und bekam rasch mit, an was für einem gefährlichen Ort er gelandet war. Überfüllt. Unsicher. „Es gibt noch immer viel Streit“, sagt Zabi, auch Messerstechereien, es werde gestohlen. Dass er bald einen richtigen Schlafplatz zugewiesen bekam, liege an etwas, das er auf Englisch als seine „medical condition“ beschreibt. Er leide an einer Angststörung, sei depressiv, habe Panikattacken, nehme Tabletten. Doch so sei das Leben, sagt er. Manchmal bleibe einem nichts anderes übrig, als die Situation zu akzeptieren.
Im Camp hat er sich nun zum Zahnarzthelfer ausbilden lassen, die meiste Zeit verbringe er in der dortigen Zahnklinik. Schon allein, weil ihm die Beschäftigung ein Gedankenfrieden bringe - er ist nicht leicht zu erreichen. Der erste Versuch eines Gesprächs scheitert daran, dass er zwei Notfallpatienten in die Klinik der Hauptstadt Mytilini begleiten musste. In vier Monaten, so hoffe Zabi, werde er Papiere bekommen. Einen Pass, mit dem er legal aus Griechenland aus- und am liebsten in Deutschland einreisen kann. „Ich habe Träume und Ziele“, sagt er. Nach neun Jahren Schulbesuch in Afghanistan erstmal einen ordentlichen Abschluss machen zum Beispiel. Dann Zahnarzthelfer werden, sich verlieben, eine Familie gründen.