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Demonstranten protestieren gegen die Errichtung eines neuen Flüchtlingslagers im Hafen von Mytilini, der Hauptstadt der griechischen Insel Lesbos.
© ARIS MESSINIS / AFP

Flüchtlingskrise auf Lesbos: Der neue Alltag auf der Insel – gefährlich für Flüchtlinge und Helfer

Auf Lesbos hoffen Flüchtlinge auf die Weiterreise nach Athen. Bei den Bewohnern der Ägäisinsel wachsen Frust und Gewalt. Ein Besuch vor Ort.

Plötzlich tauchen am Straßenrand Männer mit schwarzen Kapuzen auf. Es ist ein Montagabend auf der Küstenstraße von Mytilini, Lesbos. „Da sind welche!“, rufen die Männer. Sie tragen Stöcke in den Händen. Drei von ihnen lösen sich aus der Gruppe und rennen auf das Auto der Berichterstatter zu. Einer springt direkt davor, blinde Wut in den Augen.

Die anderen beiden versuchen auf den Wagen zu springen, die Fenster einzuschlagen. Als wir es schaffen, davonzufahren, werfen sie Steine. Auf unserer Flucht bemerken wir noch, dass eine afghanische Familie direkt auf die Gruppe zuläuft. Sie bemerkt die Gefahr nicht. Was mit ihr geschieht, wissen wir nicht.

Es ist der neue Alltag auf der griechischen Insel Lesbos. Für Helfer, Ärzte, NGO-Mitarbeiter, Journalisten – und Flüchtlinge. Für alle Fremden.

20.000 Flüchtlinge und Migranten leben nach offiziellen Angaben derzeit auf der Insel. Das Flüchtlingslager Moria, ein ehemaliges Gefängnis, hat aber nur Platz für 2800. Die übrigen Menschen campen um das Lager herum. Die Lage, sagt Boris Cheshikov, der für das UN-Flüchtlingshilfswerk auf Lesbos ist, sei extrem angespannt. Die Unzufriedenheit der Bevölkerung auf der einst touristischen Insel wächst. Nun verbreitet sich der Hass. Und auch Gerüchte.

Am Wochenende brannten wütende Inselbewohner die UNHCR-Erstaufnahmestelle über dem Fischerdorf von Skala Sikaminea nieder, die seit einigen Wochen schon außer Berieb war. Unter die Randalierer mischen sich nun offenbar auch Rechtsradikale.

Mit der Fähre ans Festland

Einen Tag nach der Ankündigung des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan, die Grenze zur EU zu öffnen, machen sich auch Flüchtlinge auf Lesbos auf den Weg zum Hafen, wollen mit einer Fähre das Festland erreichen. Mit Rucksäcken und Decken unter dem Arm versammeln sich hunderte Menschen am Hafen von Mytilini. Sie wollen in Sicherheit. Nach Athen.

Mit der letzten Fähre des Tages. Ein paar Meter weiter an der Küstenstraße stehen ein paar Duzend Geflüchtete der griechischen Bereitschaftspolizei gegenüber. Die Polizei reagiert überfordert, versucht die Menschen, die auch an den Hafen wollen, zurückzudrängen. In den vergangenen Tagen hatte sich immer wieder das Gerücht im fünf Kilometer entfernten Flüchtlingslager von Moria verbreitet, dass auch jene ohne Reiseerlaubnis auf die Fähre dürften.

Mittlerweile campen im Hafen hunderte Flüchtlinge. Es handelt sich zum Großteil um jene rund 500 Migranten, die am Wochenende von der Türkei nach Griechenland übersetzten. Sie seien von den Behörden und Hilfsorganisationen gar nicht erst ins offizielle Auffanglager gefahren worden, weil es überfüllt ist, sondern in einen mit Gittern abgegrenzten Bereich des Hafens gebracht worden, heißt es vor Ort.

Allein von Sonntag auf Montag sind um die 900 neue Flüchtlinge auf den Inseln angekommen. Siebenmal mehr als an einem gewöhnlichem Tag in diesem Jahr – aber lange nicht so viele wie 2015 oder 2016. Die Zahl bleibt überschaubar. Trotzdem gerät die Situation auf der Insel vollkommen außer Kontrolle. Einzelne rechtsradikale Gruppen, berichten griechische Medien, bewaffnen sich mit Ketten, Steinen und Messern. Ihr Ziel: Mietautos. Denn die könnten internationalen Helfern gehören, die genau wie die Flüchtlinge in ihren Augen nicht länger willkommen sind.

Die Wut ist groß

Schon vor einer Woche hat sich diese Wut zum ersten Mal bahngebrochen. Da kündigte die Regierung an, noch ein zweites Camp auf der Insel errichten zu wollen. Die Bewohner protestierten gegen die Spezialeinheit MAT und die griechische Regierung. Tausende Inselbewohner versammelten sich auf den Straßen rund um das Feld im schroffen Nordwesten der Insel, um ihr Land zu verteidigen. Bauern fällten einige Bäume, um der Polizei den Weg zu versperren.

Doch die Hundertschaft der Spezialeinheit MAT, die in den frühen Morgenstunden von der griechischen Regierung geschickt, auf der Insel ankam, läuft mit Wasserwerfer und Tränengas gegen die protestierende Menge an. Darunter Bauern, Studenten, Priester – aber auch Mitglieder politischer Parteien wie die Kommunistische Partei Griechenland, rechtsradikale Gruppierungen und Familien, Barbesitzer und Brotbäcker aus der Hafenstadt.

Nun, nach Erdogans Ankündigung, ist die Stimmung endgültig gekippt. In der Nacht von Montag auf Dienstag wird das Boot der Berliner Mission „Mare Liberum“, das die Menschenrechtssituation in der Ägäis beobachtet am Dock von Skala Loutron angegriffen. Eine Gruppe schwarz gekleideter Männer bedroht die Crew, begießt das Deck mit Benzin.

Solch koordinierten Angriffe mutmaßlich rechtsradikaler Gruppen ereignen sich immer wieder auf der Insel.

Die Campbewohner sind auf sich allein gestellt

Immer mehr freiwillige Helfer verlassen aus Sicherheitsgründen die Insel. Vor den Toren des Flüchtlingslagers schließt auch die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen vorübergehend ihre Kinderklinik. Nur noch ein Sicherheitsmann patrouilliert am Zaun. Auch die Hilfsorganisation „Lighthouse Relief“ stellt die Erstversorgung im Norden ein.

Von nun an sind die 20.000 Campbewohner komplett auf sich allein gestellt.

Keiner kann mehr dokumentieren, was mit den Menschen passiert. Ob es Verletze gibt. Wer akute Hilfe braucht.

Das trifft vor allem jene, die jetzt mit Schlauchbooten an den Stränden ankommen. Freiwillige, die sonst Erste Hilfe geleistet haben, sie mit Wasser und Decken versorgt haben, fehlen nun. Viele von ihnen können auch nicht im Camp registriert werden, weil Randalierer die Zufahrtsstraßen blockieren.

Schwierige Arbeitsbedingungen für Journalisten

Zugleich wird es für Journalisten immer schwieriger überhaupt über die Zustände zu berichten. „In Teilen Griechenlands herrscht offenbar ein rechtsfreier Raum“, sagt der Geschäftsführer von „Reporter ohne Grenzen“, Christian Mihr. Die Organisation berichtete von mehreren Übergriffen auf deutsche Journalisten.

Und der griechische öffentlich-rechtliche Fernseh- und Radiosender ERT schränke die Berichterstattung über die aktuelle Situation auf den griechischen Inseln ein. Berichte über Zusammenstöße zwischen Anwohnern und der Polizei könnten von regionalen Korrespondenten ohne die Zustimmung der Geschäftsführung nicht mehr auf der Internetseite des Senders veröffentlicht werden. (mit dpa/epd)

Franziska Grillmeier

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