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Eine Demonstrantin mit selbst gebautem Mundschutz und einer Plastikkrone steht am Rande einer Demonstration am Rosa-Luxemburg-Platz.
© Christoph Soeder/dpa

Zukunft der Corona-Demonstrationen: "Kommt keine zweite Welle, wird der Protest an Rückhalt verlieren"

Die Bewegung gegen Corona-Maßnahmen wird keine Wucht bekommen wie die Flüchtlingsfrage, sagt Protestforscher Rucht. Die AfD hat dennoch ein neues Thema.

Der Soziologe Dieter Rucht war bis zu seiner Emeritierung 2011 Ko-Leiter der Forschungsgruppe Zivilgesellschaft, Citizenship und politische Mobilisierung in Europa am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung und Honorarprofessor am Institut für Soziologie der Freien Universität Berlin.

Der Coronaprotest versammelt bisher keine Massen, hier ein paar hundert, dort auch einmal tausend. Ist das für einen Bewegungsforscher wie Sie überhaupt ein Thema?
Ein hochspannendes sogar, vor allem weil vieles an dieser Bewegung so uneindeutig ist. Gegen Atomenergie zu sein und dann gegen Atomkraftwerke zu demonstrieren ist eine glasklare Angelegenheit. Das ist Corona nicht.

Weshalb?
Extrem heterogen ist zunächst einmal, wer sich da versammelt. Da gibt es Bürger, die politisch nicht besonders aktiv sind, aber neugierig und ein Unbehagen über die Corona-Auflagen empfinden, das sie artikulieren wollen. Dazu kommen andere Themen, die mobilisieren: die Impfgegnerschaft, genereller Unmut über die politische Führung von der Kanzlerin bis zu Bill Gates, Verschwörungstheorien. Oder Unzufriedenheit über die Linie der eigenen Partei.

Da kann sich dann sogar ein Landesvorsitzender der FDP wie in Thüringen als Dissident in Szene setzen. Da sammelt sich vieles, was schwerlich auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen ist.

Nichts Gemeinsames?
Es ist schwierig, tendenziell aber heißt der Nenner Rechtspopulismus. Von dort kommt ein Gutteil der Forderungen, also die Elitenfeindschaft und die Verklärung der eigenen Rolle: Wir sind das Volk gegen „die da oben“, die man als selbstbezogen und womöglich korrupt verurteilt. Der Protest ist eher rechts- als linksaffin.

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Sie haben unter den Kritikerinnen der Corona-Maßnahmen jetzt nicht die genannt, die sich als Linke und Liberale Sorgen um die Demokratie machen. Dafür gibt es ja nachvollziehbare Gründe:  Sehr viele Grundrechte sind derzeit massiv eingeschränkt oder bis auf Null gefahren, angefangen beim sehr grundlegenden Versammlungsrecht.
Richtig, ich habe diejenigen noch nicht genannt, die sich berechtigte Sorgen um ihre Existenz machen, Friseure oder Gastronominnen, und deshalb gegen die Auflagen antreten. Die Verteidiger demokratischer Rechte protestieren aber nicht in dem Kontext, von dem wir eben sprachen. Diese achten schon darauf, dass sie exklusiv das Demonstrationsrecht ansprechen. Das hat zum Beispiel in Hamburg eine Gruppe von Verwaltungsrechtlern gemacht.

Ist Ihnen das Phänomen einer so gemischten Bewegung neu?
Nicht ganz. Seit der Weimarer Republik gab es schon strategische Versuche einer „Querfront“, die gezielt rechts und links zusammenbrachte, damals die gemeinsame Abneigung gegen die Weimarer Demokratie. Solche Koalitionen von strange bed fellows gibt es zuweilen in den Anfängen von Bewegungen, die sich erst sortieren müssen. Ein jüngeres Beispiel wären die Montagswachen für den Frieden 2014, die keine beeindruckenden Zahlen zusammenbrachten, in Berlin etwa bis zu 5000 Menschen, aber recht präsent in der Fläche waren. Unter dem Signum Friedenspolitik versammelten sich da Rechte und Linke, auch viel Laufpublikum, das nicht immer genau wusste, mit wem es da demonstrierte. 

Protestforscher Dieter Rucht
Protestforscher Dieter Rucht
© Paul Zinken/dpa

Das hat sich aber rasch verlaufen. Was ist Ihre Prognose für den Coronaprotest?
Ich rechne damit, dass er an Rückhalt verliert in dem Maße, in dem die Auflagen gegen die Pandemie gelockert werden – immer vorausgesetzt, dass es keine zweite Welle gibt. Und, ein zweiter wichtiger Punkt: der Protest wird sich ein Stück weit entmischen.

Es werden Leute zuhause bleiben, weil sie nicht hinter den falschen Fahnen und dubiosen Figuren mitlaufen wollen. Am Rosa-Luxemburg-Platz in Berlin können sie das bereits sehen. Drittens wird aber die AfD, die unter Corona an Aufmerksamkeit verloren hat, parteipolitisch Kapital aus den Protesten zu schlagen versuchen. Sie springt nun auf diesen Zug auf und muss das auch. Ihr Großthema Flüchtlinge zieht nicht mehr und hat nicht länger die Problemdimension von 2015.

[Alle aktuellen Entwicklungen in Folge der Coronavirus-Pandemie finden Sie hier in unserem Newsblog. Über die Entwicklungen speziell in Berlin halten wir Sie an dieser Stelle auf dem Laufenden]

Wird der Protest wie der um die Flüchtlinge seit 2015 die Politik verändern und vor sich hertreiben?
Die Politik ist natürlich verunsichert. Sie hat es schwer, darauf zu reagieren, weil sich ja zeigt, dass Sachinformation gegen Verschwörungstheorien und Impfskepsis wenig ausrichtet. Sie weiß auch nicht, ob die Gegenbewegung stärker wird und wie man dann darauf antworten sollte. Aber wie gesagt: Die Lockerungen werden diese Frage weitgehend beantworten. Mit einer ähnlich treibenden Wirkung, wie sie die Flüchtlingsfrage hatte, rechne ich nicht. Diesem Protest wird bald der Wind in den Segeln fehlen. Und Gruppierungen wie „Widerstand 2020“ gebe ich ohnehin keinerlei Chancen.

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