Forscher prognostiziert neue Bewegungen: Der Protest sucht sich andere Wege – legal und illegal
Massenproteste sind derzeit nicht möglich. Wie funktionieren Demonstrationen in Zeiten der Coronakrise?
Es war eine Demo der anderen Art: Hunderte Schilder lagen vor gut einer Woche einsam auf der Wiese vor dem Reichstag. „Die Uhr tickt“ stand zum Beispiel darauf. Währenddessen trafen sich die Klimaaktivisten von „Fridays for Future“ im Netz: Trotz technischer Probleme verfolgten zu Spitzenzeiten mehr als 20.000 Menschen die Redebeiträge von Aktivisten, Musikern, Wissenschaftlern und Autoren. Abstands- und Hygieneregeln einzuhalten war so kein Problem.
Seit Beginn der Pandemie ist die Versammlungsfreiheit in Deutschland stark eingeschränkt. In Berlin etwa waren bis Sonntag unter freiem Himmel nur Demonstrationen mit maximal 20 Teilnehmern erlaubt, ab Montag sind es 50. Massendemonstrationen mit Tausenden Teilnehmern werden aus Gründen des Infektionsschutzes noch für lange Zeit nicht möglich sein. Staut sich da etwas auf?
Der Berliner Protestforscher Swen Hutter beobachtet das Demonstrationsgeschehen in Deutschland während der Pandemie. Er sagt: „Autokorsos, die ,Fridays for Future‘-Schilder vor dem Bundestag, Mini-Kundgebungen: Der Protest sucht sich derzeit andere Wege.“
Aus Sicht von Hutter könnte es allerdings langfristig zum Problem werden, wenn solche Proteste nur geringe Aufmerksamkeit bekommen. „Bei physischem Straßenprotest gibt es klare Mechanismen, wann Medien berichten und wann die Politik sich gezwungen sieht, zu reagieren. Je größer der Protest, desto relevanter.“
Wenn der Protest aber nicht auf der Straße stattfinden könne, sondern nur virtuell, müsse man Wege finden, damit er dort nicht verpuffe. „Die Politik muss das trotzdem aufnehmen.“ Der ehemalige Piraten-Politiker Christopher Lauer forderte im Tagesspiegel eine Berliner Plattform für Online-Demos.
Auch während der Coronakrise wollen gesellschaftliche Gruppen ihren Anliegen Gehör verschaffen. So machten vergangene Woche etwa Reisebüros auf ihre prekäre Situation während der Pandemie aufmerksam – in mehreren Städten gab es kleine Demonstrationen, in denen die Reisebüros einen Rettungsschirm forderten. Durch Dresden rollte ein Konvoi aus hupenden Reisebussen.
Protestforscher rechnet mit zwei Arten des Corona-Protests
Der Protestforscher Dieter Rucht prognostiziert, dass in nächster Zeit zwei Arten des Corona-Protests zu sehen sein werden: Einerseits Demonstrationen von Menschen, die ökonomisch oder anderweitig von den Corona-Einschränkungen betroffen sind. Und andererseits Proteste für die Versammlungsfreiheit an sich. „Das ist eine Art Metaprotest, wie er bereits im linksliberalen Spektrum oder bei Bürgerrechtsorganisationen diskutiert wird.“
Derzeit sind neben genehmigten Mini- Demonstrationen auch immer wieder illegale Proteste zu beobachten. Am 1. Mai lieferten sich in Berlin Hunderte vermummte Autonome ein Katz-und-Maus-Spiel mit der Polizei. Bestimmt wird das Bild der Proteste in der Coronakrise aber von den „Hygienedemos“ in Berlin.
[Alle aktuellen Entwicklungen in Folge der Coronavirus-Pandemie finden Sie hier in unserem Newsblog. Über die Entwicklungen speziell in Berlin halten wir Sie an dieser Stelle auf dem Laufenden .]
In den vergangenen Wochen versammelten sich samstags auf dem Rosa-Luxemburg-Platz illegal hunderte Menschen, um gegen die Coronabeschränkungen zu protestieren. Zunehmend dominieren Verschwörungstheoretiker und Rechte diese Zusammenkünfte. Auch am 1. und 2. Mai kam es zu solchen Protesten rund um den Rosa-Luxemburg-Platz. Protestforscher Rucht glaubt, dass nicht allen Teilnehmern klar ist, in welcher Gesellschaft sie sich dort bewegen: Einige Menschen gingen wegen eines Stichwortes zu diesen Protesten, seien aber „völlig ahnungslos, für welche Personen sie dort die Kulisse bilden“.
Mehr als 4000 Demonstranten in Stuttgart
Auch in anderen Städten sind solche Anti-Lockdown-Proteste zu beobachten. Laut „Stuttgarter Zeitung“ versammelten sich beispielsweise am Samstag zur fünften „Mahnwache Grundgesetz“ mehr als 4000 Demonstranten auf dem Canstatter Wasen, einem Festgelände am Ufer des Neckars in Stuttgart.
Unter ihnen seien auffallend viele Menschen gewesen, die gegen einen aus ihrer Sicht jetzt drohenden „Impfzwang“ protestierten. Zuletzt hätten sich zunehmend Aktivisten aus dem rechten Spektrum unter die Teilnehmer der „Mahnwachen“ gemischt, schrieb das Blatt.
Ein Redner in Stuttgart war der Anwalt Ralf Ludwig. Er gehört zur neuen Partei „Widerstand2020“ – wobei unklar ist, ob diese bereits die formalen Kriterien für eine Partei erfüllt. Der Zusammenschluss wendet sich unter anderem gegen die Corona-Entscheidungen der Bundesregierung. Auf der Webseite der Partei behauptet „Widerstand2020“, bereits gut 100.000 „angemeldete Mitglieder“ zu haben. Es sieht aber so aus, als ob schlicht jeder, der die Seite besucht, dazu gezählt wird.
[Wenn Sie alle aktuellen Entwicklungen zur Coronavirus-Krise live auf Ihr Handy haben wollen, empfehlen wir Ihnen unsere runderneuerte App, die Sie hier für Apple-Geräte herunterladen können und hier für Android-Geräte.]
Der Rechtsextremismus-Forscher Matthias Quent ist dennoch beunruhigt. „Vor Kurzem sagte ich noch: Bisher haben die Unzufriedenen und Frustrierten, Verschwörungserzähler, Esoteriker, Impfgegner, Antisemiten und Rechtsradikale hierzulande kein Kollektiv gebildet und daher sei die Gefahr überschaubar. Mit ,Widerstand2020‘ ändert sich das nun.“
Zu welchen Protesten die Pandemie langfristig führt, muss sich noch zeigen. Forscher Hutter prognostiziert, dass die ökonomischen Folgen der Coronakrise zu starken Verwerfungen in der Bevölkerung und zu Verteilungskonflikten führen werden. Er rechnet damit, dass es zu neuen Protestbewegungen kommt. „Und sobald größere Versammlungen wieder erlaubt sind, werden die sich auch auf der Straße zeigen.“
- bbbbbb
- Brandenburg neu entdecken
- Charlottenburg-Wilmersdorf
- Content Management Systeme
- Das wird ein ganz heißes Eisen
- Deutscher Filmpreis
- Die schönsten Radtouren in Berlin und Brandenburg
- Diversity
- Friedrichshain-Kreuzberg
- Lichtenberg
- Nachhaltigkeit
- Neukölln
- Pankow
- Reinickendorf
- Schweden
- Spandau
- Steglitz-Zehlendorf
- Tempelhof-Schöneberg
- VERERBEN & STIFTEN 2022
- Zukunft der Mobilität