Verfassungsrechtler Christoph Möllers zu Corona: „Wir leben in einem quasi grundrechtsfreien Zustand“
Das Demonstrationsrecht ist jetzt schon über Gebühr eingeschränkt, sagt Verfassungsrechtler Möllers. Und warnt vor Deutschlands Mangel an EU-Solidarität.
Herr Professor Möllers, an diesem Platz reden wir an Ostern und Weihnachten oft mit Geistlichen, mit Bischöfen. Da Ostern dieses Jahr in eine Zeit fällt, da viele Grundrechte wegen des Infektionsrisikos eingeschränkt sind: Können Sie, ein Verfassungsjurist, uns ein „Fürchtet euch nicht!“ zurufen?
Ja, das Grundgesetz als Zivilreligion! Von Bischöfen bis zu den Ethikräten wird unsere Verfassung als Werteordnung beschworen. Ich halte das eher für den Ausdruck eines Mangels an eigenen Kriterien der Beteiligten. Was sich aber sagen lässt: Wir haben die letzten vier Wochen vergleichsweise unautoritär eine Lage durchgestanden, die zu autoritären Antworten eingeladen hat.
Wir haben sicherlich Glück im Unglück, aber wir konnten soweit auch feststellen, dass Regierung und Verwaltungen effizient reagierten. Das ist jedenfalls vorläufig ein guter Eindruck, der Deutschland auch im Ausland bescheinigt wird.
Wirklich? Sie haben kürzlich selbst aufgezählt, was wegen Corona alles eingeschränkt oder „versehrt“ ist: die Versammlungsfreiheit, die Vereinsfreiheit, die Religionsfreiheit, das allgemeine Persönlichkeitsrecht, die Berufsfreiheit.
Es stimmt, wir leben in einem quasi grundrechtsfreien Zustand. Und es wäre besser, wenn das die Ausnahme bliebe.
Allerdings ist er untypisch, oder?
Der Ausnahmezustand reagiert historisch als Belagerungszustand auf Krieg oder innere Unruhen. Seuchen sind aber nicht neu als Begründung dafür, Rechte zu suspendieren. Das Infektionsschutzgesetz hat viel von einem Polizeigesetz. Dahinter steckt der alte Gedanke der demokratischen Diktatur, die vorläufig alles einem Zweck unterwirft. Etwas hat sich allerdings verändert. Wir sind daran gewöhnt und legen zurecht Wert darauf, dass im Zweifelsfall erlaubt ist, was nicht verboten wurde.
Jetzt sind im Zweifelsfall viele Dinge verboten: der Gottesdienst oder die Parkbank. Und wir haben normalerweise eine legalistische Kultur, alles muss gesetzlich geregelt werden. Jetzt haben wir Kontaktverbote in einem Gesetz geregelt, in dem nichts Genaues dazu steht. Vor zwei Monaten hätte man noch gesagt: So etwas muss gesetzlich zumindest befristet werden. Das ist ein erstaunlicher Kontrast zu dem ja nicht ganz schlechten Zustand, den wir sonst haben.
Erleben wir auch die Suspendierung des juristischen Verstandes, von der ein Kollege von Ihnen kürzlich sprach? Die Klagen gegen die Maßnahmen hatten ja auch vor den Gerichten nicht so viel Erfolg.
Wenn das Verwaltungsgericht Berlin urteilt, die Religionsfreiheit sei durch das Verbot von Ostergottesdiensten nicht bedroht, weil Gottesdienste nicht deren Kern ausmachten: na ja. Das ist wohl nur im religiös unmusikalischen Berlin plausibel.
Das gemeinsame Projekt Infektionsbekämpfung ist natürlich vernünftig, aber viele Entscheidungen beißen sich mit unserer hergebrachten juristischen Logik. Das sollte man nicht als Einstieg in den Autoritarismus denunzieren, aber man sollte auch nicht darüber hinweggehen.
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Werden die Gerichte das später nachholen, nach der Krise?
Ich glaube nicht, dass es irgendwann die große verfassungsgerichtliche Abrechnung mit allen Verordnungen und Gesetzen dieser Zeit geben wird. Ich glaube aber, dass die Gerichte sich im Kleinen mit der Zeit mehr trauen werden. Schon jetzt würde sicher Recht bekommen, wer darauf klagen würde, allein und mit Sicherheitsabstand auf einer Parkbank zu lesen.
Wir sollten uns allerdings von der Vorstellung einer Justiz verabschieden, die im politikfreien Raum urteilt. Das tut sie nie, auch wenn diese Illusion in Deutschland gern gepflegt wird. Das wird gerade sehr anschaulich und sollte uns eine Lehre sein, wenn es mal um wirklich autoritäre Bedrohungen geht.
Die Sie aber aktuell nicht sehen?
Was mich irritiert, sind die vielen kleinen Übertretungen, die nicht nötig gewesen wären. Dass der Bundesgesundheitsminister im Infektionsschutzgesetz das Recht bekommt, das Gesetz selbst im großen Stil zu ändern und es zu vollziehen, missachtet ohne Not das Grundgesetz. Die Regierungen benötigen gerade viel Vertrauen und bekommen es auch. Damit muss die Politik aber auch sorgfältig umgehen.
Sie schrieben kürzlich über die „Selbstentmächtigung der Parlamente“ in der Krise. Dort werde gern an die Regierung abgegeben und nicht mehr viel diskutiert.
Dass die Parlamente jetzt Maßnahmen der Regierung stützen, heißt noch nicht, dass sie ins Autoritäre abgleiten. Die Gefahr ist auch nicht, dass wir das Schäublesche Notparlament bekommen, von dem man nicht recht weiß, was es soll, und für das der Bundestagspräsident ja auch nicht viel Unterstützung bekam.
Wir brauchen aber dringend Abgeordnete – da denke ich besonders an die Regierungsfraktionen – die bereit sind, auch dann genau hinzuschauen, wenn es drängt. Immerhin hat irgendwer verhindert, dass der Bundesgesundheitsminister selbst ermächtigt wurde, einen pandemischen Notstand zu erklären. Es wäre interessant herauszufinden, wem das gelungen ist. Also: Ich bin nicht brennend besorgt, aber nachdenklich macht mich eine gewisse Kritiklosigkeit im Prozess schon.
Das ist allerdings ein üblicher Reflex in Krisen: Überlassen wir alles möglichst ein paar starken Figuren, seien wir kein Sand im Getriebe, auch der Föderalismus, die vielen Länder verzögern doch nur effektives Handeln.
Ich würde es umgekehrt sehen. Die föderale Abstimmung bewährt sich gerade. Ob man es mag oder nicht, Söder gegen Laschet: Wenn wir schon von einem Exekutivkomitee regiert werden, sollte das wenigstens noch einen politischen Prozess kennen, eben die Diskussion zwischen Bund und Ländern.
Der Vollzug von Gesetzen ist auch leichter, wenn kooperative Akteure ihn übernehmen. Das britische und französische Modell starker Zentralisierung scheint weniger effektiv und wird ungemütlich, wenn die Zentrale ausfällt. Im US-Modell dagegen arbeiten viele Institutionen in Konkurrenz zueinander.
Brauchen wir nicht eine demokratische Exit-Strategie? Wir werden zum Beispiel nach allem, was wir bisher wissen, noch sehr lange mit physischem Abstand leben müssen. Aber wie lange können wir mit dem Verbot von Demonstrationen leben?
Nicht mehr lange. Die Versammlungsfreiheit ist zusammen mit der Meinungsfreiheit das demokratienächste Grundrecht. Gerade in einer Zeit, in der wir wenig parlamentarische Debatte haben, ist es eine demokratische Ressource, auf die Straße zu gehen und Aufmerksamkeit zu erregen.
In Berlin wurden sogar Demonstrationen verhindert, die das Abstandsgebot einhielten, selbst eine in Autos.
Das lässt sich nicht rechtfertigen und ist jetzt schon verfassungsrechtlich unmöglich.
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Sind die Deutschen nicht einfach zu brav? Muss es nicht Sorge machen, dass alle die Einschränkung ihrer Freiheiten klaglos schlucken?
Ich fände es schwer, dem zuzustimmen. Dass die Bevölkerung sich regeltreu verhält, würde ich nicht als Konformismus denunzieren. Wir haben ein gemeinsames Problem und wir halten uns deswegen an gewisse Regeln.
Für politische Grundrechte setzen sich immer Minderheiten ein. Gerade deshalb sind sie aber das Salz in der Suppe und deswegen müssen sie gerade dann handeln und auf die Straße gehen können, wenn es schwierig ist, Gegenöffentlichkeit zu organisieren.
Welche Grundrechtseinschränkungen richten aus Ihrer Sicht den größten Schaden an?
Neben dem Versammlungsverbot denke ich an die Religionsfreiheit. Es ist keine Kleinigkeit für einen Katholiken, zu Ostern nicht zur Messe gehen zu können; der Empfang der Hostie funktioniert nicht digital, das ist insofern ein extrem intensiver Eingriff. Religion ist aber nicht mehr systemrelevant…
… aber Religionsfreiheit schon?
Sie ist ein interessantes Indiz dafür, wie eine Gesellschaft verfasst ist. So schräg, wie Religiosität heute erscheint und so wenig sinnstiftend sie im Gemeinwesen noch wirkt – das sehen Religionsfunktionäre natürlich anders – würde ich sagen, dass sich gerade am Schutz des Schrägen die Freiheitlichkeit der Gesellschaft erweist. Aber entscheidend an allen Eingriffen ist die Kumulation: Es hängt ja praktisch jedes Grundrecht davon ab, dass man das Haus verlassen kann.
Wenn wir alle die Corona-App bekommen, wäre das wieder möglich. Eine verpflichtende App oder man bleibt zu Hause – wäre das hinnehmbar?
Eine freie Entscheidung wäre das nicht. Als Entweder-Oder müsste es einer strikten gerichtlichen Prüfung unterliegen.
Was halten Sie unter Datenschutzaspekten davon?
Wenn ich die App richtig verstanden habe, scheint mir der Ansatz – Bluetooth, dezentral und anonymisiert – beeindruckend. Es muss aber sichergestellt sein, dass es eine dezentrale Open-Source-Lösung gibt. Diese App darf nicht ein weiterer Schritt zur Abhängigkeit öffentlicher Institutionen von Digitalkonzernen werden, von denen wir oft belogen wurden und weiter belogen werden.
In der Pandemie ist die Gefahr noch größer, dass eine vermeintlich einfache Lösung teuer eingekauft wird. Nur kein weiterer Riesenauftrag, der weitere Abhängigkeiten nach sich zieht, wie es sich auch an den Universitäten beobachten lässt.
Und die Lösung, ältere Menschen zu isolieren, damit die Jungen und Gesunden wieder freier sind? Der frühere Grünen-Abgeordnete Hans-Christian Ströbele will bis zum Verfassungsgericht ziehen, falls das kommt.
Ich weiß nicht, ob man da überhaupt das Verfassungsrecht bemühen muss. Intensivbetten und Krankenhäuser sind für alle da. Wo soll es enden, wenn wir bestimmten Risikogruppen vorschreiben, sie müssten sich so verhalten, dass sie anderen nicht die Plätze wegnehmen?
Die Logik müsste man dann über Corona hinaus verallgemeinern. Angesichts der Altersstruktur unserer Gesellschaft wäre auch ein großer Teil betroffen.
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Wir sprachen von fehlender Befristung der Notmaßnahmen. Ab wann würden Sie ungeduldig werden?
Dafür gibt es juristisch keinen Maßstab, wir können nicht sagen: Bis zum 26. April ist das alles noch verfassungsgemäß, ab dem 27. nicht mehr. Ungeduld wird in der Gesellschaft entstehen, auch weil der ökonomische Druck zunimmt und die Rechtfertigung schwerer wird. In einer liberalen Gesellschaft sollte das von selbst gehen.
Auch da sind Sie zuversichtlich für das Funktionieren der Demokratie?
Mittelfristig ja. Langfristig weiß niemand, wie viel soziale Zerstörung in dieser Pandemie geschieht und ob unsere liberale Ordnung dann die Probe besteht. Corona traf sie in einer ohnehin schwierigen Zeit. Sie bewährt sich aktuell, das zeigt auch der Blick auf die Beliebtheit der AfD. Aber die andere Möglichkeit, ein Umschwung der Stimmung, bleibt immer im Hintergrund.
Besteht Europa den Coronatest?
Das ist tatsächlich das größte institutionelle Problem, das ich sehe. Für die Europäische Union ist die Coronakrise sehr, sehr schlecht. Das liegt einerseits an überzogenen Erwartungen: Selbst eine funktionierende EU hätte keine eigenen Gesundheitsämter vor Ort, es gäbe immer eine föderale Arbeitsteilung. Andererseits aber es gab einen Moment, in dem schnelle Solidarität nötig war, der jedenfalls symbolisch verpasst wurde.
Zu Beginn war die Kommission fast unsichtbar. Von Deutschland wurden die Grenzen geschlossen. Nun haben wir eine sehr komplexe, zum Teil aber aufgeschobene Lösung für die finanzielle Solidarität. Die steht jedenfalls im Kontrast zur selbstverständlichen Großzügigkeit, mit der innerstaatlich agiert wird. Es ist erstaunlich, wie schwer es in Deutschland fällt zu verstehen, dass die politischen Kosten einer zögerlichen Haltung nicht nur für sich höher sein können als die wirtschaftlichen, sondern dass sie auf Dauer auch neue wirtschaftliche Kosten nach sich ziehen.
Hat sich die deutsche Haltung in der Euro- Krise bewährt? Ich glaube nicht. Immer neue Solidaritätsdefizite sind eine große Bedrohung für die Europäische Union.
Der frühere Kommissionspräsident Jacques Delors sprach von einer tödlichen Gefahr. Sie auch?
Ich würde sagen: Für die EU geht es langsam ans Eingemachte.