Anlaufpunkt für Flüchtlinge: Ist Libyen noch zu retten?
Über Libyen führt eine zentrale Transitroute für Flüchtlinge. Dort herrschen Anarchie und Willkür. Warum es so schwierig ist, das Land zu stabilisieren.
Vor der Küste Libyens zeigt sich dieser Tage die dunkle Seite des Sommers. Menschenschmuggler nutzen das gute Wetter, um Flüchtlinge in überladenen Holz- und Schlauchbooten auf die lebensgefährliche Reise nach Europa zu schicken.
Die EU wollte diese Entwicklung verhindern. Doch Europas Libyen-Politik ist nach Meinung von Hilfs- und Migrantenorganisationen unmenschlich und schafft es zudem nicht, das nordafrikanische Bürgerkriegsland zu stabilisieren.
Wie ist die Lage im Mittelmeer?
Die relativ ruhige See und die warmen Temperaturen machen Überfahrten im Sommer leichter als im Winter. Von Libyen und dem benachbarten Tunesien aus starten derzeit fast täglich Flüchtlinge aus Afrika und Asien in Richtung Italien.
Allein in den vergangenen Tagen wurden mehr als 60 Leichen aus dem Wasser geborgen; das Rettungsschiff „Ocean Viking“ der Organisation SOS Mediterranee nahm in der vergangenen Woche 527 Menschen an Bord. Die Hilfsorganisation rief die EU-Länder auf, die Menschen aufzunehmen. Noch ist aber nichts geschehen.
Seit Jahresbeginn sind mehr als 21.000 Flüchtlinge in Italien angekommen, das sind fast zwei Drittel der Gesamtzahl des vergangenen Jahres. Mehr als 700 Menschen sind nach Schätzungen der Internationalen Organisation für Migration (IOM) der Vereinten Nationen seit Januar in dieser Gegend des Mittelmeeres ertrunken.
Der IOM zufolge hat die libysche Küstenwache in diesem Jahr schon fast 16.000 Flüchtlinge auf dem Weg nach Europa aufgegriffen und nach Libyen zurückgebracht – mehr als im ganzen vergangenen Jahr.
Welche Rolle spielt Libyens Küstenwache?
Die Rolle der libyschen Küstenwache ist zwielichtig. Sie erhält Geld und Ausbildungshilfe von der EU, um die Flüchtlinge aufzuhalten. Nach Medienberichten unterstützt die europäische Grenzschutzagentur Frontex die libysche Küstenwache aber bei illegalen „Pushbacks“, der erzwungenen Rückkehr von Flüchtlingsbooten in libysche Gewässer – ein Skandal, sagen Menschenrechtsgruppen.
Darüber hinaus wird der Küstenwache vorgeworfen, mit den Menschenschmugglern gemeinsame Sache zu machen.
Eine EU-Seenotrettung gibt es seit 2019 nicht mehr. Private Organisationen füllen diese Lücke. Die UN hielten Europa in einem Bericht im Mai vor, bei ihrer Zusammenarbeit mit der libyschen Küstenwache die Menschenrechte der Flüchtlinge zu ignorieren. Abgefangene Migranten sollten nicht in Lagern untergebracht werden, sondern an einem „sicheren Ort“, fordert auch UN-Menschenrechtskommissarin Michelle Bachelet.
Italiens Geheimdienst geht Medien zufolge davon aus, dass in den Küstengebieten Libyens fast 70.000 Menschen auf die Überfahrt in die EU warten. Gesicherte Zahlen gibt es jedoch nicht.
Was droht den Menschen in Libyen?
Das Land ist ein zentraler Anlaufpunkt für Migranten – und das schon seit vielen Jahren. Unter dem früheren Herrscher Muammar al Gaddafi lebten Millionen Menschen als Gastarbeiter in Libyen. Die Ausländer erledigten unterschiedliche Jobs, halfen bei der Ernte, in der Ölindustrie, auf dem Bau und in den Privathaushalten.
Bis heute hat sich daran kaum etwas geändert. Hinzugekommen sind jene, die unbedingt nach Europa wollen. Sei es, weil sie sich ein besseres Leben versprechen oder vor Krisen und Konflikten fliehen müssen. Doch mit Libyen erreichen sie einen Staat, der nur noch auf dem Papier besteht. So etwas wie eine öffentliche Ordnung und eine funktionierende Wirtschaft gibt es nicht.
Nach Angaben des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR benötigen mehr als 900.000 Menschen humanitäre Hilfe.
Das gilt auch für die fast 43.000 Männer und Frauen, die beim UNHCR als Asylsuchende und Flüchtlinge registriert sind. Die meisten kommen den Angaben zufolge aus dem Sudan, Syrien, Eritrea und aus den Palästinensergebieten. Sie alle sind Willkür und Übergriffen ausgesetzt. Vielen droht, in die Fänge von Menschenhändlern zu geraten.
Als dramatisch gelten die Zustände in den Internierungslagern der Interims-Regierung. Dort werden jene festgehalten, die von der Küstenwache im Mittelmeer abgefangen und nach Libyen zurückgeführt werden. Schätzungsweise 6000 Eingekerkerte gibt es – und sie leben zumeist unter furchtbaren Bedingungen, sagt Marie von Manteuffel, Expertin für Flucht und Migration bei der Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen.
„In Containern und Lagerräumen sind die Menschen auf engstem Raum zusammengepfercht. Drei bis vier Gefangene müssen sich zum Teil einen Quadratmeter Fläche teilen. Das zwingt sie, sich in Schichten hinzulegen, um ein wenig schlafen zu können.“ Zudem fehle es an natürlichem Licht, ausreichender Belüftung und Trinkwasser. Der Mangel an Nahrung sei besorgniserregend.
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Gleiches gelte für die zunehmende Gewalt in den Haftzentren. „Die Gefangenen werden von den Wachleuten immer wieder geschlagen und misshandelt. Die Aufpasser setzen sogar Waffen ein, um die Leute davon abzuhalten, die Behausungen zu verlassen.“ In zwei Camps hätten die Übergriffe eine derartige Dimension angenommen, dass sich Ärzte ohne Grenzen genötigt sah, die medizinische Versorgung in den Lagern vorerst auszusetzen.
Noch schlimmer dürfte es in den inoffiziellen Internierungslagern zugehen, die nicht von Regierungsbehörden, sondern von Milizen und Schmugglern betrieben werden. Dort haben Helfer keinen Zutritt. „Was uns aber berichtet wird, lässt kaum eine andere Einschätzung zu: Das Grauen kennt in diesen Kerkern keine Grenzen“, sagt Marie von Manteuffel.
Von Erpressung, schwerer körperlicher Gewalt, Vergewaltigungen, Folter und Sklaverei sei immer wieder die Rede. Auch gibt es Hinweise auf Ausbeutung durch Zwangsarbeit. Das heißt, die Gefangenen müssen für libysche Auftraggeber schuften.
Warum geht es politisch nicht voran?
Libyen ist seit dem Sturz von Langzeitdiktator Gaddafi vor zehn Jahren ohne einheitliche Führung und erlebte in den vergangenen Jahren einen Krieg zwischen zwei rivalisierenden Regierungen im Ost- und Westteil des Landes. In den vergangenen Monaten gab es immerhin einige Fortschritte. So herrscht seit Herbst ein Waffenstillstand, der zumindest teilweise eingehalten wird; seit Februar ist außerdem eine Übergangsregierung im Amt.
Europa unterstützt die UN-Bemühungen um die Bildung einer Einheitsregierung für das ganze Land nach Wahlen im Dezember. Doch auf dem Weg dorthin gibt es große Schwierigkeiten. Ein von den Vereinten Nationen einberufenes Dialog-Forum libyscher Gruppen konnte sich in tagelangen Beratungen vorige Woche nicht auf rechtliche Grundlagen für die Dezember-Wahlen einigen.
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Ob die Abstimmung überhaupt noch stattfinden kann, ist ungewiss. Libyen-Experte Wolfram Lacher von der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin schrieb auf Twitter, einige Politiker im Dialog-Forum wollten verhindern, dass sie ihre Machtpositionen an eine gewählte Regierung abgeben müssten. Deshalb versuchten sie, die Stimmabgabe zu verzögern. Bisher hat die EU kein Rezept, um die Wahlen zu retten.
Ist sich die internationale Gemeinschaft in Libyen einig?
Nein. Konkurrierende ausländische Akteure mischen weiter in Libyen mit, um sich Einfluss in Nordafrika und Zugang zu den reichsten Ölvorräten des ganzen Kontinents zu sichern. Bei der zweiten Libyen-Konferenz in Berlin im Juni versprachen die Teilnehmer zwar, alle ausländischen Kämpfer „unverzüglich“ aus dem nordafrikanischen Land abzuziehen.
Schon beim ersten Treffen in Berlin im vergangenen Jahr hatten sie sich verpflichtet, sich nicht in Libyen einzumischen. Nach wie vor gibt es jedoch keine Anzeichen dafür, dass Russland, die Türkei, Ägypten oder die Vereinigten Arabischen Emirate ihre Soldaten oder Söldner aus Libyen zurückziehen.
Wegen der gegensätzlichen Interessen der ausländischen Mächte und des Stillstands im politischen Prozess dürfte die Lage in Libyen vorerst instabil bleiben, zumal die Supermacht USA bisher kein Interesse zeigt, sich im Sinne der UN intensiv in dem Konflikt zu engagieren. Deshalb ist der Waffenstillstand in Gefahr.
Rebellengeneral Chalifa Haftar, der im vergangenen Jahr mit einer Offensive auf die Hauptstadt Tripolis scheiterte und große Teile des Landes kontrolliert, deutete an, dass er seine Truppen wieder zu den Waffen rufen könnte. Sollte es keine Wahlen geben, sei er bereit, wieder gegen „Kriminelle und Milizen“ in Tripolis vorzugehen.
Wird Libyen auf Dauer ein Problem für Europa bleiben?
In den vergangenen Jahren hat die EU nach eigenen Angaben mehr als 700 Millionen Euro investiert, um Libyen zu stabilisieren. Das Geld soll staatliche Institutionen stärken, die Wirtschaftsentwicklung antreiben und die Zivilgesellschaft unterstützen.
Allerdings litt Europas Politik lange unter der Konkurrenz der EU-Mitglieder Frankreich und Italien, die ihre eigenen Interessen verfolgen und zeitweise gegeneinander arbeiteten. Zudem steht die EU Ländern wie Russland und der Türkei, die militärisch in Libyen präsent sind, machtlos gegenüber.
Das bedeutet: Die EU ist zwar die Hauptbetroffene der Migration aus Libyen über das Mittelmeer, aber kaum in der Lage, um die Entwicklung in dem nordafrikanischen Land entscheidend zu beeinflussen.