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Ertrinkende Flüchtlinge im Mittelmeer: Mit welchen Schikanen Seenotretter behindert werden

Behörden erschweren mit absurden Fallstricken die Seenotrettung im Mittelmeer. Das Bundesverkehrsministerium ist vorn dabei. Es folgt einer Logik.

Nun ist die „Alan Kurdi“ wieder frei, sie hat Donnerstagabend den Hafen von Palermo verlassen, nach sieben Wochen Behördenirrsinn, Einschüchterungsversuchen und offenen Drohungen. Es waren auch sieben Wochen, in denen Gorden Isler immer wieder neue Meldungen über Ertrunkene auf seinem Smartphone las und sich dachte: Diese Menschen hätten wir vielleicht retten können.

„Was uns passiert ist, war kein Zufall“, sagt Isler am Telefon. „Diese Schikanen haben System.“

Mehrere Hundert Menschen sind 2020 beim Versuch, über das Mittelmeer nach Europa zu gelangen, bereits ertrunken. Im Juni gab es bislang offiziell 96 Tote. Die tatsächliche Zahl dürfte höher liegen, denn viele Seenotretter, die sonst in der Region in internationalen Gewässern kreuzen und nach verunglückten Booten Ausschau halten, sind derzeit zwar einsatzbereit, werden aber unter Strafandrohung am Auslaufen gehindert.

Gorden Isler, Sprecher der deutschen Rettungsorganisation „Sea-Eye“, die das Schiff „Alan Kurdi“ betreibt, sagt: „Die Coronapandemie hat leider dazu geführt, dass das Sterben im Mittelmeer weitgehend aus dem Blick der Öffentlichkeit verschwunden ist.“ Und: „Unsere Gegner haben Corona gezielt genutzt, Seenotrettung weiter zu kriminalisieren.“

Die „Alan Kurdi“ rettete zuletzt im April 150 Migranten vor dem Ertrinken. Kurz darauf wurde das Schiff im Hafen von Palermo von den italienischen Behörden festgesetzt. Begründung: Eine Inspektion habe ergeben, dass die „Alan Kurdi“ gegen Auflagen verstoße. Zum Beispiel verfüge das Schiff lediglich über drei Toiletten. Die deutsche Schwesterbehörde – das Schiff fährt unter deutscher Flagge – widersprach deutlich, doch Italien blieb stur. „Man muss sich das einmal vorstellen“, sagt Gorden Isler, „wir sollen ernsthaft Flüchtlinge ertrinken lassen, weil wir ihnen an Bord angeblich nicht genug Sanitäranlagen bieten könnten?“

[Aktuelle Entwicklungen zur Coronavirus-Pandemie finden Sie hier in unserem Newsblog. Die Entwicklungen speziell in Berlin an dieser Stelle.]

Mitarbeiter anderer Hilfsorganisationen berichten von ähnlichen Versuchen, sie durch Bürokratie am Retten zu hindern. Ein italienischer Staatsanwalt etwa wollte ein Schiff von „SOS Méditerranée“ und „Ärzte ohne Grenzen“ beschlagnahmen lassen, weil darauf angeblich der Müll nicht korrekt getrennt wurde. Die Kleidung der aus dem Meer Geretteten müsse als „toxischer Müll“ deklariert werden. Und immer wieder wird Schiffen nach einem Rettungseinsatz das Einlaufen in Häfen verwehrt.

An diesem Montag ist es ein Jahr her, dass sich die deutsche Kapitänin Carola Rackete einem derartigen Verbot widersetzte und ihr Schiff mit 40 Geretteten an Bord nach wochenlanger Odyssee in den Hafen von Lampedusa brachte. Rackete wurde daraufhin vorübergehend festgenommen, erst auf öffentlichen Druck hin freigelassen. Der Oberste Gerichtshof Italiens entschied später, die Deutsche habe korrekt und dem Seerecht entsprechend gehandelt.

„Corona als Vorwand, Seerecht zu brechen“

Zwar hat Italien inzwischen eine neue Regierung, der damalige rechte Innenminister Matteo Salvivi ist fort. Trotzdem habe sich „innerhalb der EU und an der EU-Außengrenze nichts grundlegend geändert“, schreibt Carola Rackete in einer Erklärung zum Jahrestag: „Wenn überhaupt, dann hat sich die Lage im letzten Jahr weiter verschlechtert. Malta an erster Stelle, aber auch andere europäische Staaten einschließlich Deutschland, nutzen die Corona-Pandemie als Vorwand, um Menschenrechte auszusetzen und das Seerecht zu brechen.“ Die vielen Toten jeden Monat seien keine Opfer eines unerwarteten Unfalls oder einer Naturkatastrophe. „Sie ertrinken, weil die Europäische Union es so will. Um diejenigen abzuschrecken, die ebenfalls die gefährliche Route über das Mittelmeer wagen könnten.“

Das Schiff „Alan Kurdi“ der deutschen NGO Sea-Eye.
Das Schiff „Alan Kurdi“ der deutschen NGO Sea-Eye.
© Cedric Fettouche/sea-eye.org/AFP

Der Druck auf die privaten Seenotretter folgt einer inneren Logik. Denn Ertrinkende, die von ihnen aus Seenot gerettet werden, bringen die Hilfsorganisationen anschließend in einen europäischen Hafen – Kapitäne sind nach internationalem Seerecht verpflichtet, Gerettete in einem sicheren Hafen abzusetzen. Das vom Bürgerkrieg zerrissene Libyen, von dem aus die meisten Flüchtlinge ihre Überfahrt starten, kommt dafür nicht infrage. Dasselbe würde – theoretisch – auch für staatliche Schiffe gelten, würde etwa die Bundesregierung eine Seenotrettungsmission initiieren. Eine solche Mission gibt es nicht.

Stattdessen unterstützt Deutschland die sogenannte libysche Küstenwache, Milizen einer Bürgerkriegspartei. Schiffe dieser Milizen wurden vom italienischen Staat gestellt, die EU finanziert die Ausbildung der Besatzungen und deren Ausrüstung.

Die sogenannte Küstenwache geht in internationalen Gewässern gegen die verbliebenen zivilen Seenotretter vor – auch mit Waffengewalt. Schiffe wurden bedrängt und gerammt, es fielen Schüsse. Vor allem aber bringen die Milizen aufgegriffene Flüchtlinge grundsätzlich zurück nach Libyen – und internieren sie dort in Lagern. In diesem Jahr wurden bislang 5000 Menschen inhaftiert.

Vergewaltigungen und Zwangsarbeit in den Lagern

Was ihnen dort widerfährt, bezeichnen NGOs und auch die UN als eklatante Verstöße gegen das Menschenrecht. Die Zustände in den Lagern seien „absolut schrecklich“, sagt etwa Safa Msehli von der Internationalen Organisation für Migration (IOM), einer Unterorganisation der Vereinten Nationen. Bis September vergangenen Jahres arbeitete Msehli in Tripolis, inspizierte von dort aus etliche Lager. Am Telefon berichtet sie von stark überfüllten Räumen, Wasser- und Nahrungsmangel. Inhaftierte, mit denen Msehli sprechen durfte, erzählten von Missbrauch und Fällen, in denen Mitgefangene entführt wurden.

Viele Flüchtlinge in den Lagern sind traumatisiert. In einem traf Safa Msehli ein 14-jähriges schwangeres Mädchen, das auf seinem Weg nach Libyen von verschiedenen Schmugglern und Schleusern missbraucht worden war und nun versuchte, die Schwangerschaft zu verheimlichen: „Sie wusste nicht einmal, wer der Vater sein würde.“

Safa Msehli durfte jedoch nur offizielle Gefängnisse besuchen. Daneben gibt es auch solche, zu denen Hilfsorganisationen keinen Zugang haben – geschätzte 1000 Migranten sind in den vergangenen sechs Monaten dorthin gebracht worden. Überlebende berichten von Gewalt, Verstümmelung und Versklavung. Inhaftierte würden gefoltert, um Verwandte zu Lösegeldzahlungen zu zwingen.

Safa Msehli sagt: Libyen ist definitiv kein sicherer Ort, an den Gerettete zurückgebracht werden dürften.

Die systematischen Menschenrechtsverletzungen sind auch der Bundesregierung bekannt. Das Auswärtige Amt verglich die libyschen Gefängnisse vor drei Jahren mit „Konzentrationslagern“. Zur Rechtswidrigkeit der Rückführungen nach Libyen befragt, reagiert die Bundesregierung seit Jahren mit der Feststellung, sie werde darauf hinwirken, dass die libyschen Partner künftig „geltendes Recht einhalten“.

Carola Rackete im Juni nach der Ankunft in Lampedusa, wo sie von der Polizei zum Verhör abgeführt wurde.
Carola Rackete im Juni nach der Ankunft in Lampedusa, wo sie von der Polizei zum Verhör abgeführt wurde.
© REUTERS/Guglielmo Mangiapane

Dass die Europäische Union weiterhin die sogenannte Küstenwache und das System der Rückführungen unterstützt, hält „SOS Méditerranée“ für einen Skandal: „Völkerrechtsbruch und die Gefährdung von Menschenleben werden so billigend in Kauf genommen.“ In einem gerade veröffentlichten Report hat die Hilfsorganisation auf 70 Seiten Vergehen der Libyer dokumentiert. Sie fordert, ein eigenes Rettungsprogramm der EU-Staaten zu initiieren. Dies sei umso notwendiger, da die Zahl der Flüchtenden in den kommenden Monaten stark zunehmen könnte.

Seit die Türkei Anfang des Jahres die libysche Regierung und deren Milizen massiv aufrüstete, konnten diese im Bürgerkrieg gegen Warlord Khalifa Haftar an Boden gewinnen – was dazu führte, dass vertriebene Schleuserbanden in Küstenorte zurückkehren konnten und nun wieder verstärkt Fluchtwillige in Schlauch- und Holzbooten auf dem Meer aussetzen.

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Während die EU vor Libyen auf dortige Milizen setzt, verstößt 1000 Kilometer nordöstlich die Küstenwache eines Mitgliedsstaats gegen internationales Recht. Vor der Insel Lesbos wurden im Juni mehrfach Flüchtlinge von der griechischen Küstenwache aufs offene Meer gebracht, dort in aufblasbaren Rettungsinseln ausgesetzt und sich selbst überlassen. Andere Migranten, die versuchten, von der Türkei nach Lesbos zu gelangen, werden in internationalen Gewässern von der Küstenwache abgefangen, ihre Boote zurück in Richtung türkisches Hoheitsgebiet gezogen, die Motoren anschließend unbrauchbar gemacht. Mehrere dieser illegalen Aktionen sind auf Videos dokumentiert.

Gorden Isler, der Sprecher von „Sea-Eye“, sagt am Telefon, man müsse differenzieren. Innerhalb der Bundesregierung schwele ein Dissens. Während das Auswärtige Amt betont, Seenotrettung sei eine rechtliche wie humanitäre Verpflichtung, auch der „Beitrag privater Seenotrettung“ sei wichtig und dürfe nicht behindert werden, agieren zwei CSU-geführte Ministerien entgegengesetzt.

Im April schrieb das Innenministerium unter Horst Seehofer die deutschen Seenotretter an und appellierte, wegen Corona „derzeit keine Fahrten aufzunehmen und bereits in See gegangene Schiffe zurückzurufen“. Aktiv – und wirkungsvoll – behindert das Verkehrsministerium unter Andreas Scheuer die Retter: Durch den Austausch eines einzigen Wortes in einer Bundesverordnung hat sie gleich mehrere deutsche Boote stillgelegt.

Erst im vergangenen Jahr hatte das Oberverwaltungsgericht Hamburg bestätigt, bei der privaten Seenotrettung handle es sich um eine politisch-humanitäre Tätigkeit, die unter Freizeitgestaltung falle. Derart genutzte Sportboote benötigen, im Gegensatz zu kommerziell betriebenen, kein sogenanntes Schiffssicherheitszeugnis.

Das Verkehrsministerium konterte das Gerichtsurteil nun, indem es eine Verordnung reformierte, die regelt, wer ein solches Zeugnis nicht vorweisen muss: Dabei wurde das Wort „Freizeit“ durch „Erholung“ ersetzt. Da sich die Lebensretter bei ihren Einsätzen nicht erholen, müssen sie nun den fraglichen Schein erwerben. Wie genau sie ihre Schiffe dafür umrüsten müssen und welche Kosten dabei anfallen, ist ihnen unklar.

Vom Verkehrsministerium haben sie keine Hilfe zu erwarten. Ein Sprecher des Ministeriums sagte bei der Vorstellung der Änderung am 10. Juni in der Bundespressekonferenz auf eine entsprechende Frage hin: „Die verantwortliche Dienststelle Schiffssicherheit steht sicherlich als Ansprechpartner zur Verfügung, wenn es um die Umsetzung der Maßnahmen geht.“ Eine Absicht, die Seenotrettung einzuschränken, bestreitet er. Der Gesetzesanpassung hätten „ausschließlich schiffssicherheitsrechtliche Erwägungen zugrunde“ gelegen.

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Die wenigen, die aktuell noch operieren dürfen, sollen aber bald Verstärkung bekommen: Im Juli soll das neue Rettungsschiff „Sea-Watch 4“, das unter anderem von der evangelischen Kirche mitbetrieben wird, erstmals vor der libyschen Küste kreuzen, derzeit liegt es noch in einem spanischen Hafen. Der bayerische Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm, der das Projekt in den vergangenen Monaten vorantrieb, wirft der EU „moralisches Versagen“ vor.

Insbesondere wehrt er sich gegen Einwände, durch die Seenotrettung entstehe ein „Pull-Effekt“, der immer mehr Menschen zur Flucht über das Mittelmeer animiere: Wie Studien übereinstimmend belegten, habe es keine Auswirkungen, ob Rettungsschiffe auf See seien oder nicht. In Hamburg rüsten Ehrenamtliche derweil ein aufgekauftes Torpedofangboot der Bundeswehr um. Die „Rise Above“ soll ebenfalls im Mittelmeer aushelfen.

Die Verordnungsänderung des Verkehrsministeriums und die damit verbundenen Umbauten werden das Auslaufen zwar verzögern, sagt der „Rise Above“-Gründer, aber auf keinen Fall stoppen.

So wird es weitergehen, sagt Gorden Isler von „Sea-Eye“. „Die Behörden denken sich neue Schikanen aus, wir versuchen irgendwie zu reagieren.“ Es sei ein ewiges Katz-und-Maus-Spiel, nur eben eines, bei dem Menschen sterben.

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