Julian Pahlke ist Seenotretter bei "Sea Eye" und Bundestagskandidat für die Grünen: „Es braucht politische Lösungen“
Der 29 Jahre alte Julian Pahlke erklärt, warum er für die Grünen als erster Seenotretter in den Bundestag einziehen will.
2016 haben Sie das erste Mal mit dem Rettungsschiff „Iuventa“ auf dem Mittelmeer Geflüchtete gerettet. Wie kam es dazu?
Mir ging es da wahrscheinlich wie vielen damals. Ich konnte die Bilder in den Medien nicht mehr ertragen und wollte etwas tun. Also habe ich mir überlegt, wo ich eine Hilfe sein kann. Ich bin begeisterter Wassersportler und habe mir zugetraut, mit auf See zu gehen. Ich war dann für die Organisation „Jugend Rettet“ erstmals Fahrer des Einsatzschlauchboots. Das sind diejenigen, die zuerst aktiv werden bei einer Rettung. Was wir da erlebt haben, hat mir keine Ruhe mehr gelassen. Dass wir nicht allen helfen konnten, dass Menschen vor unseren Augen ertranken, hat Spuren hinterlassen. Schließlich habe ich meinen Job bei einer Werbeagentur gekündigt, bin wieder rausgefahren und habe in Vollzeit Seenotrettung gemacht.
Wie hat sich Ihr Leben
durch die Seenotrettung geändert?
Meine Freunde hätten mir früher nicht zugetraut, dass ich so einen Weg einschlage, ich war vorher ein anderer Mensch. Mir ist erst durch die Arbeit bewusst geworden, was für ein wahnsinniges Privileg es ist, in Europa geboren zu sein, weiß zu sein. Mit dem Schiff „Iuventa“ haben wir über 14 000 Menschen gerettet, das ist für eine ehrenamtliche Organisation eine beachtliche Leistung. Auf einmal merkt man, dass man als Einzelperson dieser strukturellen Ungerechtigkeit etwas entgegensetzen kann.
Warum reicht Ihnen das nicht mehr?
Auch Aktivismus hat Grenzen. Wir können versuchen, die Lücke zu füllen, die unsere Bundesregierung und die EU auf dem Mittelmeer hinterlassen haben. Aber langfristig funktioniert das nicht. Es braucht politische Lösungen und die werden im Parlament beschlossen. Ich habe für die Seenotrettung viel politische Arbeit gemacht, immer versucht unser Thema auf die politische Tagesordnung zu heben und so etwas zu bewirken. Jetzt will ich mich nicht mehr nur an politischen Entscheidungen abarbeiten und sie möglicherweise von außen korrigieren, sondern Einfluss nehmen. Deshalb bin ich im Frühjahr 2019 den Grünen beigetreten, die mich sehr offen aufgenommen haben.
Was wollen Sie politisch erreichen?
Mit meiner Kandidatur möchte ich für die Menschen aus der Seenotrettung eine Brücke bauen zwischen Bewegung und Parlament. Mein Fokus wird weiterhin stark auf dem Themenkomplex Flucht und Migration liegen. Die Bundesregierung und vor allem Horst Seehofer und Andreas Scheuer haben bei dem Thema nicht nur versagt. Ihre Politik ist tödlich. Das „C“, das die Union im Namen trägt, stand mal für christliche Werte. Aber das, was die Union heute auf dem Mittelmeer anrichtet, ist genau das Gegenteil von christlicher Nächstenliebe. Ich trete an, um Organisationen zu stärken, die sich für Geflüchtete einsetzen. Und um politische Entscheidungen, die in der Vergangenheit so verheerende Auswirkungen hatten, in Zukunft zu verhindern und es besser zu machen. Die Grünen waren in der Vergangenheit oft an der Seite der Bewegungen.
Was kritisieren Sie
an der Bundesregierung?
Horst Seehofer blockiert die Aufnahme in über 200 Städten und Kommunen, die sich zum sicheren Hafen erklärt haben. Dabei wäre das ja der einfachste Weg, Menschen auf der Flucht eine sichere neue Heimat zu bieten. Wie man so einen demokratischen Willen von über 200 Städten allein in Deutschland ignorieren kann, ist mir völlig unverständlich. Das zeugt von einem völlig abstrusen Demokratieverständnis. Außerdem benutzt er Narrative, die wir ursprünglich von neofaschistischen Bewegungen kannten. Er hat sich seinen Sprech teilweise bei der Identitären Bewegung abgeguckt und kaum jemand stört sich daran, das ist beängstigend. Seenotrettung ist kein „Taxidienst“, wie er sagt, sondern rettet Leben und schützt die universellen Menschenrechte. Dass Seehofer es den Menschen in den Kommunen verbietet aufzunehmen und gleichzeitig Rechtsextremisten nach dem Mund redet, zeigt, wie sehr sich die Union von einer kleinen rechten Minderheit treiben lässt.
Welche Entscheidungen bemängeln Sie?
Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll. Allein, dass wir als zivile Seenotrettung antreten mussten, um die Lücke auf dem Mittelmeer zu schließen, weil es 27 EU-Staaten und auch ausdrücklich Deutschland nicht machen. Stattdessen unterstützt die Bundesregierung eine korrupte, milizenartige Küstenwache in Libyen, um Menschen wieder in lebensgefährliche, menschenunwürdige Lager zu bringen, wo viele gefoltert und als Sklaven verkauft werden. Diese menschenverachtende Politik muss beendet werden, wir brauchen legale Einreisewege. Andreas Scheuer hat persönlich dafür gesorgt, dass unsere Rettungsschiffe in der Ägäis nicht mehr auslaufen dürfen, weil ihnen die Registrierung entzogen wurde. Das ist die Realität, wie die große Koalition mit dem Thema Seenotrettung umgeht.
Was ist momentan Ihre größte Sorge?
Meine Generation beschäftigen zwei Themen ganz massiv: Flucht und Migration und der Klimawandel. Diese Themen hängen miteinander zusammen und wir müssen sie auch zusammen denken. Der Wahlkreis in Leer, in dem ich antreten möchte, liegt größtenteils unter dem Meeresspiegel. Wenn sich das Klima um nur ein Zehntelgrad mehr erhitzt als um 1,5 Grad, dann bleibt von Ostfriesland wenig übrig. Gleichzeitig kämpft dort die Bewegung „Ende Gelände“ gemeinsam mit dem Fußballverein und den Kirchen für die kommunale Aufnahme von Menschen auf der Flucht. Klimapolitik bedeutet für mich nicht nur, wie viele Windräder wir bauen, sondern auch wie wir mit Menschen umgehen, die aufgrund unserer Lebensweise zur Flucht gezwungen werden. Der nächste Bundestag ist der letzte, der die Klimakrise noch bewältigen kann.
Fahren Sie eigentlich selbst noch mit auf See?
Mich haben die Einsätze sehr mitgenommen und ich habe Traumata davongetragen, deshalb habe ich entschieden, lieber an Land zu bleiben und der Organisation zu helfen. Langsam fühle ich mich aber wieder bereit und möchte unbedingt noch mal bei einem Einsatz dabei sein.
Lea Schulze
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