Humboldt-Rede von Wolfgang Schäuble: Europa muss mehr sein als der „Kontinent des guten Gewissens“
Bundestagspräsident Schäuble fordert von der EU mehr Willen zur Gestaltung. Das gelte für die Digitalisierung ebenso wie für Migration oder Verteidigung.
Europa leidet unter einem mangelnden Ehrgeiz, den globalen Wandel aktiv zu gestalten. „Wir müssen dynamischer werden“, forderte Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) am Donnerstagabend in seiner Europa-Rede vor Studenten des europäischen Verfassungsrechts an der Humboldt-Universität. „Für Europa reicht es nicht, sich als Kontinent des guten Gewissens zu begreifen.“ Er verlangte mehr Veränderungsbereitschaft und mehr Gestaltungswillen von der Digitalisierung über Migration, Militär und Sicherheitsfragen bis zur Russlandpolitik.
„Unsere Souveränität wird davon abhängen, ob wir die Herren über unsere Daten bleiben“, sagte Schäuble laut Redemanuskript. Er bezog sich nicht ausdrücklich auf den Streit, ob der chinesische Konzern Huawei Schlüsseltechnologie für den Aufbau des deutschen 5G-Netzes liefern darf. Sicherheitsexperten warnen vor einer Datenabschöpfung. Die Europäer müssten ihren eigenen Weg „zwischen dem datenkapitalistischen Universum des Silicon Valley und dem Social Scoring“ in China finden, sagte Schäuble. Europa dürfe „nicht bloß Zaungast der digitalen Revolution bleiben“. Es „liegt doch allein an uns, ob wir Europäer durch eigene Kraft jetzt die in der Künstlichen Intelligenz liegenden Chancen für uns nutzen“ oder später auf die Erfindungen anderer reagieren müssten.
Deutschland trägt Schuld an Macrons Ungeduld
Der Bundestagspräsident sieht einige Gründe, warum Europa nur zaghaft vorankomme, in Deutschland. „Wenn es in unserem ureigenen Interesse liegt, wirksam Einfluss zu nehmen“, dürfe sich „unsere Verantwortung“ nicht darin erschöpfen, „Konfliktparteien Mahnungen von der Seitenlinie aus zuzurufen. Dann müssen wir Deutschen bereit sein, selbst einen Beitrag vor Ort zu leisten“ und „materielle und moralische Kosten zu übernehmen“.
Schäuble nahm Frankreichs Präsidenten Emmanuel Macron in Schutz, der mit seiner Kritik an der Nato („Hirntod“) sowie seinen Vorschlägen zu Reformen der EU und zu einer europäischen Verteidigung, die die Abhängigkeit von den USA verringert, breiten Widerspruch ausgelöst hatte. „Der französische Staatspräsident ist ungeduldig, und wer wollte es ihm verdenken? Seine Ungeduld ist das Ergebnis viel zu langen Wartens – auf unsere Antwort, auf eigene deutsche Ideen, auf gemeinsame Führung.“
Wer die Ereignisse in Berlin verfolge, spottete der CDU-Politiker in einem offenkundigen Seitenhieb auf die SPD und ihre neue Parteiführung, sei „seit dem Wochenende noch angespannter“. Deutschland dürfe sich nicht weiter um sich selbst drehen, sondern müsse „Macron beim Wort nehmen“ und „gemeinsam vorangehen“.
Die wichtigsten Forderungen Schäubles:
- Europa muss Herr über seine Daten bleiben
- Europa muss die Chancen der Künstlichen Intelligenz nutzen
- Kompromisse bei deutschen Regeln für Rüstungsexporte und beim Parlamentsvorbehalt vor Auslandseinsätzen
- Direkte Volkswahl des EU-Kommissionspräsidenten
- Doppelstrategie gegenüber Russland: mehr Dialog bei Wirtschaft und Geopolitik, mehr Druck bei Demokratie und Menschenrechten
Europa befindet sich einem Krisenjahrzehnt
Wer es ernst meine mit der gemeinsamen europäischen Verteidigung, müsse die eigenen Positionen hinterfragen und ein Stück weit davon abrücken, um Kompromisse zu ermöglichen, bekräftigte Schäuble. Als Beispiele nannte er erneut die engen deutschen Regeln für Rüstungsexporte und den Parlamentsvorbehalt bei Auslandseinsätzen der Bundeswehr.
Europa befinde sich in einem „Krisenjahrzehnt“, konstatierte Schäuble. Vor 25 Jahren habe er mit seinem Parteifreund Karl Lamers Vorschläge gemacht, wie die EU handlungsfähiger werden könne. Seither habe es eine Reihe von Reformen der Europäischen Verträge gegeben. Die gingen aber nicht weit genug. Heute „sind wir noch immer viel zu zaghaft“.
Man könne, zum Beispiel, den Kommissionspräsidenten in direkter Volkswahl wählen. „Das gibt Europa ein Gesicht“, sagte Schäuble. Derzeit fehlten freilich die politischen Mehrheiten in den Hauptstädten der Mitgliedsstaaten, um der EU mehr Kernkompetenzen zu geben.
Die EU verliert ihren Daseinszweck, wenn sie nicht liefert
Zugleich könne es sich die EU nicht leisten, auf Vertragsreformen zu warten. Ein Unterschied zum Nationalstaat sei, dass der seinen Bürgern seinen Daseinszweck nicht ständig beweisen müsse. Die Existenz des eigenen Staats werde selbst dann akzeptiert, wenn er schlecht funktioniere. Die EU hingegen „wird nach Kosten und Nutzen bemessen und steht zur Disposition“, wenn sie nicht liefere. Macron habe Recht mit seiner Formel, Europa müsse seinen Bürgern Freiheit, Sicherheit und Wohlstand garantieren.
Schäuble forderte mehr Verständnis für die Sichtweisen der östlichen EU-Partner. Der gewachsene Dissens in der Migrationspolitik „beruht auch auf einem Mangel an Wissen“ über die Hintergründe. „Der Umgang mit den Sicherheitsinteressen unserer östlichen Nachbarn gehört nicht zu den Glanzstücken deutscher Europapolitik – Stichwort Energiepolitik“, sagte Schäuble zum Streit um die Gaspipeline Nord Stream 2.
Zugleich forderte Schäuble ein Umdenken im Umgang mit Russland: eine neue Balance aus einerseits „mehr Dialog und Zusammenarbeit in wirtschaftlichen und geopolitischen Fragen“ und andererseits mehr „Druck in Richtung Demokratie und Menschenrechte“. Deutschland habe dabei eine besondere Verantwortung, die östlichen Nachbarn, die nachvollziehbare Vorbehalte haben, einzubeziehen.