Deutschlands Außenpolitik: Die unzuverlässigen Deutschen
Die Bundesrepublik enttäuscht ihre engsten Verbündeten und ist mit einigen über Kreuz. Damit gefährdet sie die Grundlagen ihres Erfolgsmodells. Wie lässt sich das ändern?
Deutschlands internationaler Einfluss wird durch zwei Entwicklungen bedroht. In zentralen politischen Fragen ist die Bundesrepublik über Kreuz mit ihren engsten Verbündeten: mit Frankreich in der Verteidigungs- und Währungspolitik, mit Polen in der Russland-Politik und Fragen von Demokratie und Rechtsstaat, mit nahezu allen EU-Partnern in der Migrationspolitik, mit den USA in Handels-, Energie- und Nato-Fragen. So verringert sich der Zusammenhalt des Westens. Zweitens verliert die liberale Weltordnung an Durchsetzungskraft. Das hat Folgen für das Überleben des deutschen Erfolgsmodells. Sie werden kaum diskutiert.
Deutschland ist keine Weltmacht. Sein Einfluss als bevölkerungsreichstes Land der EU und viertgrößte Volkswirtschaft der Erde wird erst wirksam, wenn es Koalitionen zur Durchsetzung gemeinsamer Interessen bildet. Den Aufstieg zum Export-Champion, der die Basis seines Wohlstands und Sozialsystems bildet, verdankt es der liberalen Handelsordnung und freien Handelswegen. Wenn die Interessengemeinschaft mit den Nachbarn, EU-Partnern und Nato-Verbündeten sowie die liberale Ordnung wanken, ist Deutschlands Zukunft gefährdet.
Warum ist Frankreich enttäuscht?
Die häufigste Beschwerde in Gesprächen mit französischen Ministern, Präsidentenberatern, Planungsstäben und Politikexperten lautet: Deutschland lässt uns hängen. Die internationale Lage ist ernst, Europa muss sich energisch bewegen. Frankreich hat Emmanuel Macron gewählt, der das Land und die EU reformieren möchte. Er scheut die politischen Risiken nicht, die mit der Reform des Arbeitsmarkts und der Zusammenlegung der europäischen Verteidigungsindustrien verbunden sind; er will eine europäische Verteidigungsunion schaffen. Die Bundesregierung habe es aber nicht eilig. Sie lasse das „Gefühl der Dringlichkeit“ vermissen, das in allen Treffen in Paris zu spüren ist.
Die zweithäufigste Klage: Deutschland soll Sicherheit und Verteidigung ernster nehmen und ein gemeinsames strategisches Denken mit Frankreich einüben; es dürfe seine Geschichte nicht länger als Ausrede benutzen, um sich vor militärischen Einsätzen zu drücken oder nur Hilfsdienste anzubieten, die nicht mit Kämpfen verbunden sind. Mit der Intervention gegen Terrormilizen in Mali habe Frankreich nicht nur sich selbst, sondern auch Deutschland vor Anschlägen geschützt. Man erwarte, dass die Bundeswehr beim nächsten Mal mitkämpfe. Für die verstärkte europäische Militärkooperation (Pesco) müsse Deutschland die versprochenen Mittel bewilligen. Die Sicherheitsfragen rangieren in den Gesprächen in Paris vor den Wünschen zur Entwicklung der Eurozone.
Warum ist Polen enttäuscht?
Polnische Minister und Parlamentarier beklagen die deutsche Neigung, anderen zu predigen, was sie tun sollen, und zu wenig auf die Wünsche ihrer Partner zu hören. Die deutsch-russische Pipeline Nord Stream 2 verstoße gegen existenzielle Interessen der Polen und Balten. Die EU-Kommission sage, das Projekt stehe im Widerspruch zur europäischen Energiepolitik. Solche Einwände würden in Berlin ignoriert. Im Konflikt um die Eingriffe der Regierungspartei PiS in die Medien und das Justizsystem sei die deutsche Bereitschaft, die Lage mit polnischen Augen zu betrachten, gering. Das deutsche Bemühen, in EU- Richtlinien für Lkw-Transporte und andere grenzüberschreitende Dienstleistungen Löhne und Arbeitsbedingungen festzuschreiben, werden in Polen als Protektionismus empfunden mit dem Ziel, den preiswerteren Mitteleuropäern ihre Wettbewerbsvorteile zu nehmen.
Worüber sind die EU-Partner enttäuscht?
Im Europaparlament und in der EU-Kommission wird die generelle Haltung der Deutschen zu Europa positiv gesehen. In der Praxis hapert es jedoch. Die Deutschen seien nicht die Mustereuropäer, für die sie sich selbst halten, heißt es. Sie haben gegen europäische Absprachen verstoßen, von den Verschuldungskriterien bis zur Migrationspolitik. Vorschläge, die vom daheim Gewohnten abweichen, betrachteten Deutsche mit Misstrauen. Die Neugier auf Alternativen, die anderswo funktionieren, sei gering. Die Einsicht, dass Europa umso handlungsfähiger werden müsse, je weniger man sich auf Trumps USA verlassen könne, stoße an Grenzen, wenn nationale deutsche Interessen betroffen sind oder die Frage aufkommt, welche Kosten die weitere Integration habe. Fragen der inneren und äußeren Sicherheit würden immer zentraler. Darauf müsse man sich konzentrieren. Viele in Brüssel blicken mit Misstrauen auf China und fordern einen selbstbewussteren Umgang mit Peking. Berlin müsse der gemeinsamen Chinapolitik Vorrang vor nationalen Wirtschaftsinteressen geben.
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Warum sind die USA verärgert?
Trump steht nicht allein mit seinen Forderungen nach höheren deutschen Verteidigungsausgaben, faireren Handelsbedingungen und der Kritik an deutschen Energiegeschäften mit Russland. Die Fachleute im demokratischen Lager verlangen ebenfalls, dass Deutschland globale Verantwortung übernimmt, wie sie seinem ökonomischen und politischen Gewicht entspricht. Die Deutschen gelten als „Trittbrettfahrer“, die die Vorteile der internationalen Ordnung nutzen, sich aber nicht angemessen an den Lasten beteiligen. General Ben Hodges, bis vor kurzem Kommandeur der US-Landstreitkräfte in Europa, kann schwer verstehen, dass eine technisch so leistungsfähige Gesellschaft es hinnimmt, wenn ein Großteil ihrer Militärjets, Hubschrauber, Panzer und Schiffe nicht einsatzfähig sei. Und dass sie ihre Infrastruktur so sehr vernachlässige, dass die Verteidigungsfähigkeit der Nato in Frage steht. Die setzt für den Ernstfall auf rasche Truppenverstärkung, doch die Traglast der Brücken auf zentralen deutschen Verbindungen reiche dafür nicht aus.
Was kann Deutschland tun?
Vor allem: mehr zuhören, weniger predigen. Das zentrale Ziel müssen internationale Koalitionen zur Verteidigung der liberalen Ordnung sein. Europa muss handlungsfähiger werden. Um das zu erreichen, müssen die Deutschen die Interessen und Sichtweisen ihrer Partner verstehen und in die eigene Politik einbeziehen. Deren häufigste Klagen betreffen die offenkundigen Mängel der Bundeswehr und den deutschen Unwillen, strategische Herausforderungen so offen zu diskutieren, wie das in Paris, Brüssel, Warschau und Washington selbstverständlich sei. Präsident Macron verdient mehr Unterstützung für seine Reformpläne. Berlin muss den Dialog mit Polen verstärken, auch wenn er mühsam ist, und auf berechtigte polnische Einwände eingehen. Auf Präsident Trump, auch das wünschen viele EU-Partner, solle Deutschland nicht so emotional reagieren, sondern realpolitisch nüchtern. Ohne die USA könne Europa seine Sicherheit und Terrorabwehr heute nicht gewährleisten. China und Russland seien keine Alternativen, wenn die USA die liberale Ordnung nicht mehr im selben Maße garantieren wie bisher. Die EU wird selbst mehr leisten müssen. Dafür muss Deutschland als größtes Mitglied nationale Eigenheiten, die das gemeinsame Handeln erschweren, überprüfen, zum Beispiel den Parlamentsvorbehalt bei Auslandseinsätzen.
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Christoph von Marschall stellt das Buch am Dienstag in einer Diskussion mit dem früheren Außenminister Sigmar Gabriel und dem Vorsitzenden der Münchner Sicherheitskonferenz, Wolfgang Ischinger, in Berlin vor.