Nato-Gipfel in London: Verbale Aufrüstung, verbale Abrüstung
Streit vor dem Geburtstag: Macron zeigt sich nach seiner „Hirntod“-Diagnose moderat. Trump bleibt ein Unsicherheitsfaktor – und Deutschland will Zeit gewinnen.
Feiern oder Streiten? Kurz vor dem Nato-Gipfel zum 70-jährigen Bestehen der Allianz in London an diesem Dienstag und Mittwoch war keineswegs ausgemacht, ob die Teilnehmer ihre Meinungsverschiedenheiten austragen oder Harmonie verbreiten wollen.
Macrons Diplomaten: "Hirntot" war ein Fehler
Frankreichs Präsident Emmanuel Macron, der viele Partner mit seiner Diagnose, das Bündnis sei „hirntot“, aufgeschreckt hatte, rüstet verbal ab. Seine Diplomaten sprechen Journalisten mit der Botschaft an, die Wortwahl sei ein Fehler gewesen. Sie drücke, medizinisch gesehen, nicht aus, was Macron habe sagen wollen. Einen Hirntoten könne man ja nicht wiederbeleben. Macrons Ziel sei es jedoch, die Allianz wachzurütteln und Europa in einen Zustand zu versetzen, in dem es sich selbst verteidigen könne und weniger auf die USA angewiesen sei.
So leicht lassen sich Worte freilich nicht zurückholen. Es gibt immer einige, die doch noch einmal reagieren wollen und so die Erinnerung wachhalten. Manche tun es mit Schärfe. Der türkische Präsident Erdogan weist Macrons Kritik am türkischen Einmarsch in Nordsyrien mit der Bemerkung zurück, man müsse überprüfen, ob Macron hirntot sei. Andere mahnen höflich-bestimmt wie Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg. Er erwarte, dass sich alle an die Bündnispflichten halten. Deren Kern sei die Beistandsgarantie. Die gelte auch für Frankreich.
Viele warten zudem gespannt, ob Donald Trump die Kontroverse mit einem Tweet neu befeuert. Er hatte die Krise um Sinn und Zukunft der Nato vor drei Jahren mit der Provokation eingeleitet, die Nato sei „obsolet“. Die Lasten seien unfair verteilt, die USA zahlten zu viel, die Europäer trügen zu wenig bei. Seither haben mehrere Nato-Staaten in Europa ihre Verteidigungsausgaben spürbar erhöht, liegen aber weiter unter dem Ziel, zwei Prozent ihres Bruttoinlandprodukts (BIP) in Sicherheit zu investieren. Wie ist Trump drauf? Will er sich für die Fortschritte loben oder auch diesen Nato-Gipfel mit einer Strafpredigt aufmischen?
Wann tweetet Trump - und was?
Anlässe, sich zu ärgern und den Ärger an den Nato-Partnern abzulassen, bieten sich Trump genug. Zu Hause rückt das Amtsenthebungsverfahren näher, seine Anwälte haben ihm aber von dem, was er am liebsten täte, abgeraten: in den Kongressausschuss zu gehen und sich in die Anhörung einzuschalten. Boris Johnson, sein Gastgeber in Großbritannien, möchte sich kurz vor der britischen Wahl nicht öfter als nötig mit Trump sehen lassen. Sie treffen sich nur mit anderen Gipfelteilnehmern, nicht bilateral. Es soll auch keine Pressekonferenz mit Trump und Johnson geben.
Der Streit dreht sich im Kern darum, was der richtige Mix aus Bewährtem und Anpassung an die neue geostrategische Lage ist. Trump und Macron fordern mehr Bereitschaft, die Herausforderungen anzunehmen: ein aufsteigendes China, das sein Militär ausbaut und seine Handelsmacht als Druckmittel einsetzt; ein aggressives Russland, das Grenzen in Europa verschiebt und mit Cyberangriffen Wahlen in westlichen Demokratien manipuliert; die instabile Nachbarschaft im Süden und Südosten der Nato mit schwachen Regierungen, Bürgerkriegen und Wirtschaftskrisen; Machtkämpfe regionaler Mittelmächte um Hegemonie – Iran, Saudi-Arabien, Türkei –, die ebenfalls Krieg und Massenflucht auslösen.
Die Partner im Osten: Nicht ohne die USA
Die Nato-Partner im Osten erwarten vor allem Schutz vor Russland. Den können aus ihrer Sicht nur die USA garantieren. Macron drückt in die Gegenrichtung: Europa muss selbstständiger werden. Seine Diplomaten beeilen sich aber hinzuzufügen: Damit sei nicht der gaullistische Traum von der Abkoppelung Europas gemeint, sondern eine Stärkung Europas im Bündnis mit den USA. Paris gibt zwei Prozent des BIP für Verteidigung aus und führt eine Mission zum Schutz der Handelsschifffahrt im Persischen Golf mit den Niederlanden, Dänemark und Italien von seinem Stützpunkt in Djibouti aus.
Deutschland möchte Zeit gewinnen. Vielleicht wird Trump 2020 nicht wiedergewählt. Auch Berlin bewegt sich. Künftig wird es einen genauso großen Anteil an den Verwaltungsausgaben der Nato bezahlen wie die USA. Das sind symbolische Beträge. Aber auch die Verteidigungsausgaben erhöht Deutschland kontinuierlich. Alles in allem gibt es Potenzial für Streit, aber auch Argumente, mit denen man Streit besänftigen kann.
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