Coronakrise verschärft die Armut: Millionen hungern in den USA – Food Banks müssen Lebensmittel verteilen
Schon vor Corona waren in den USA 37 Millionen Menschen von Hunger bedroht. Jetzt werden es immer mehr. Food Banks helfen Bedürftigen.
Um Punkt zehn Uhr tritt der Mundschutz tragende Soldat zur Seite und macht den Weg frei. Die Karawane setzt sich in Bewegung. Langsam rollen die Autos heran, die Chevrolets, Hondas, Jeeps, Toyotas. Immer paarweise fahren sie an der Reihe der Helfer in gelben Schutzwesten vorbei, bis das vorderste aufgefordert wird anzuhalten. Wie in einer Choreografie öffnen sich die Kofferräume gleichzeitig, die meisten automatisch. Während die Motoren weiterlaufen, laden die Helfer die bereitstehenden Kisten ein, immer drei Kartons pro Auto. Inzwischen hat der Regen eingesetzt, aber hier stört das kaum einen. Wer fertig beladen hat, hebt einen Arm und reckt den Daumen in die Luft. Dann rollen die Autos weiter. Keine Hektik, kaum Lärm, die Abfertigung dauert nur wenige Sekunden, dann geht das Ganze von vorne los.
Zwei Stunden wird das an diesem regnerisch-kalten Freitag so gehen, dann hat sich die Karawane aufgelöst, und nur noch einzelne Autos fahren vor. Der große Andrang ist vorbei, auch wenn die Food Bank noch bis 13 Uhr geöffnet hat. 803 Fahrzeuge werden dann Essensrationen erhalten haben, 2409 Kartons mit ungefähr 27 Tonnen an Lebensmitteln. Gereicht hätte es auch für 1000 Fahrzeuge. Die Greater Pittsburgh Community Food Bank hat ganze Arbeit geleistet. Und diese Arbeit wird dringend benötigt. Denn die Folgen der Coronavirus-Pandemie treffen die USA härter als viele andere Länder.
In vielen Familien fallen jetzt Mahlzeiten aus
Mehr als 33 Millionen Menschen in den Vereinigten Staaten haben seit Beginn der Krise einen Neuantrag auf Arbeitslosenhilfe gestellt. Die Arbeitslosenquote ist auf mittlerweile 14,7 Prozent hochgeschnellt. Jeder siebte erwerbsfähige Amerikaner hat derzeit keinen Job. Es könnten noch viel mehr sein, heißt es – die Systeme arbeiten langsam, da die Daten aus den Einzelstaaten zusammengetragen werden müssen. Viele Betroffene haben nicht vorgesorgt: Schon vor der aus der Epidemie folgenden Wirtschaftskrise wären vier von zehn Erwachsenen laut der US-Notenbank aufgrund fehlender Rücklagen von unerwarteten Ausgaben in Höhe von 400 Dollar überfordert gewesen.
Dazu kommt, dass es immer noch Probleme bei der Auszahlung der staatlichen Unterstützung geht. So warten viele immer noch auf ihr Arbeitslosengeld, obwohl es ihnen zusteht. Auch beim Versand der vom Kongress beschlossenen Schecks in Höhe von 1200 Dollar hakt es. Auf einmal sehen sich viele Amerikaner erstmals mit der Frage konfrontiert, wo sie das Geld hernehmen sollen, um ihre Familien und sich selbst zu ernähren – und das in einem der reichsten Länder der Welt.
In einer am vergangenen Mittwoch veröffentlichten Studie der Washingtoner Brookings Institution gaben 17,4 Prozent der Mütter mit Kindern im Alter von bis zu zwölf Jahren an, ihnen fehle derzeit das Geld, um ihren Nachwuchs ausreichend zu ernähren. Studienleiterin Lauren Bauer beschrieb in der „New York Times“, dass jetzt in vielen Familien kleinere Portionen auf den Tisch kämen und viele Kinder Mahlzeiten ausfallen lassen müssten. Mit den Schulschließungen fallen zudem für viele Kinder Frühstück und Mittagessen weg, Essen, das sie zuvor gratis oder subventioniert erhalten haben.
Jeder siebte Amerikaner nutzt Food Banks
So sind die Food Banks auf einmal ins Zentrum der amerikanischen Gesellschaft gerückt. In den USA gibt es sie seit Mitte des vergangenen Jahrhunderts: karitative Verteilzentren, in denen gespendete Lebensmittel gesammelt und aufbewahrt werden. Diese Lebensmittel werden lokalen Essensausgaben zur Verfügung gestellt, Tafeln etwa, bei denen bedürftige Familien sich mit Essen versorgen können.
Das erste dieser Zentren gründete John van Hengel 1967 mit St. Mary’s Food Bank in Phoenix, Arizona. Ihm hatte eine Frau erzählt, dass sie hinter Supermärkten genügend entsorgte Lebensmittel fände, um ihre zehn Kinder zur ernähren. Van Hengel kam die Idee, ein System zu schaffen, mit dem überschüssige Lebensmittel an Bedürftige weitergegeben werden könnten. Der Bedarf war groß, immer mehr Food Banks wurden eröffnet. Van Hengel schuf ein landesweites Netzwerk, das 1979 den Namen „Feeding America“ erhielt. Weiter wuchs es in der Rezession der 1980er Jahre, zu einer Zeit, als unter Präsident Ronald Reagan Sozialausgaben massiv gekürzt wurden. Heute ist „Feeding America“ mit mehr als 200 Food Banks und 60.000 Tafeln das größte Tafel-Netzwerk in den USA.
[Alle aktuellen Entwicklungen in Folge der Coronavirus-Pandemie finden Sie hier in unserem Newsblog. Über die Entwicklungen speziell in Berlin halten wir Sie an dieser Stelle auf dem Laufenden.]
Der Bedarf ist groß, auch ohne Pandemie: Im Schnitt wendet sich der Organisation zufolge jeder siebte Amerikaner an das Netzwerk. 2019 waren nach Angaben des US-Landwirtschaftsministeriums 37 Millionen Menschen im Land von Hunger bedroht; „Feeding America“ stellte insgesamt 4,2 Milliarden Mahlzeiten zur Verfügung. Seit Beginn der Corona-Krise im März haben 98 Prozent der Food Banks einen gestiegenen Bedarf gemeldet. Das Netzwerk hat seitdem mehr als 42 Millionen Kilogramm Essen ausgegeben – fast 80 Millionen Mahlzeiten. Es ist auch für krisenerprobte Einrichtungen eine völlig neue Situation.
Lisa Scales, Präsidentin der Greater Pittsburgh Community Food Bank, steht an diesem grauen Freitagmorgen unter einer Zeltplane auf der Parkplatzanlage der Pittsburgh Penguins. Vor der Skyline der Stadt parken normalerweise die Fans des Teams, das 2017 den Stanley Cup holte, die wichtigste Eishockeytrophäe der Welt. Die rund 10,5 Hektar großen Parkflächen der Arena stehen derzeit leer, die Corona-Schutzmaßnahmen haben auch den Profisport lahmgelegt.
„Ich will nicht reden. Ich bin nur hier, um Essen zu bekommen“
Scales beobachtet, wie ihre 50 Freiwilligen die Autos befüllen. Jedes Auto erhält die gleiche Menge an Lebensmitteln, egal wie viele Menschen drin sitzen oder zuhause warten: einen Karton mit gefrorenen Lebensmitteln (Fleisch, Geflügel und Fisch), einen mit trockenem Essen wie Pasta, Saucen, haltbare Milch, Bohnen, Thunfisch, Reis sowie einen mit frischem Gemüse und Obst. Das Essen aus den drei Kartons soll für 30 bis 40 Mahlzeiten reichen, also fünf bis sieben Tage bei drei Mahlzeiten am Tag für eine dreiköpfige Familie.
Einen Großteil der Produkte kaufe man selbst, erklärt Brian Gulish, stellvertretender Sprecher der Food Bank. „In normalen Zeiten geben wir dafür alle zwei Monate 500.000 bis 600.000 Dollar aus.“ Im März und April waren es 1,7 Millionen Dollar, rund dreimal so viel. Der Bedarf sei gestiegen, gleichzeitig würden Supermärkte weniger Nahrungsmittel spenden. Dafür hat das Agrarministerium Mitte April ein 19 Milliarden Dollar schweres Hilfsprogramm aufgelegt, von dem drei Milliarden verwendet werden, um Lebensmittel zu bezahlen, die über Food Banks und andere Hilfsorganisationen verteilt werden.
Der übliche Nachweis, dass jemand bedürftig ist, wird dabei nicht verlangt – wie im Fall von Naturkatastrophen. Das macht es für Betroffene leichter, Hilfe anzunehmen. „Sie müssen keine Fragen beantworten, wenn sie hierher kommen“, sagt Gulish. Immerhin seien 75 Prozent der Menschen, die auf der Website der Organisation nach Essensausgaben suchten, das erste Mal auf der Seite. Nicht jeder spricht gerne über seine Notlage. Ein älterer Mann, der auf dem Parkplatz wartet, bis er dran ist, wiegelt ab: „Ich will nicht reden. Ich bin nur hier, um Essen zu bekommen.“
Sie schämt sich nicht – jeder brauche mal Hilfe
Auch Dorothy will weder ihren Nachnamen nennen noch fotografiert werden. Aber sie kurbelt ihr Fenster herunter und erzählt, warum sie hier in der Schlange parkt. Die 34-Jährige sagte, sie habe im Januar ihren Job verloren und derzeit keine Chance, einen neuen zu finden. Als gelernte Biochemikerin weiß sie, wie schwierig auch die nächsten Monate sein werden. „Es wird noch eine Weile dauern, bis ein Impfstoff entwickelt sein wird.“ Sie lebe mit ihren Eltern, die beide bereits in den 70ern und damit besonders gefährdet seien. Dorothy versorgt sie mit Lebensmitteln, geht zur Apotheke oder in die Drogerie, wenn das sein muss. Da das Geld knapp wird, nutzt die Afroamerikanerin nun erstmals eine Essensausgabe. Scham empfinde sie dabei nicht. „Jeder braucht mal Hilfe, dafür reihe ich mich hier gerne ein.“
Zwei Reihen weiter wartet auch Ron Alvarez geduldig auf den Moment, wo er losfahren kann. Der 49-Jährige, der Mitte der 80er Jahre aus Guatemala in die USA kam und schon lange amerikanischer Staatsbürger ist, fuhr bis zur Krise für Uber Fahrgäste durch den Großraum Pittsburgh. Seit dem 20. März ist er arbeitslos – aber bis jetzt habe er noch keinen Dollar Arbeitslosengeld erhalten. „Immerhin ist der Scheck über 1200 Dollar bereits angekommen“, sagt Alvarez. Das habe eine Weile geholfen, und von Reis und Bohnen könne man sich ja auch ernähren, sagt er lachend. Aber jetzt sei das Geld aus. „Ich habe gerade noch 20 Dollar auf dem Bankkonto. Gott sei Dank gibt es die Food Banks.“ Auch er nimmt diese Hilfe zum ersten Mal in Anspruch.
Alvarez’ Situation ist gleich aus mehreren Gründen angespannt. Er selbst habe Diabetes, erzählt er, seine Frau habe erst im Januar eine Krebsbehandlung beendet, und der ältere seiner beiden Söhne habe Asthma. Eine Risikofamilie. Auch wenn die Wirtschaft wieder anlaufe, wird es für ihn wohl zu gefährlich sein, wieder Uber zu fahren. Aber jetzt, in dieser Krise, einen neuen Job finden? Und dann auch noch einen, den er von Hause erledigen kann? Alvarez ist skeptisch, aber er will optimistisch bleiben. „Ich habe gesehen, dass IBM Leute sucht, die für Cybersecurity ausgebildet werden sollen. Das werde ich mir mal anschauen.“
Sein Vorteil sei, sagt er, dass er schon öfter dramatische Umbrüche erlebt habe. „In Guatemala sind sehr viele Menschen arm. Dagegen geht es uns hier in Amerika doch gut. Und das Wichtigste: Hier habe ich die Wahl, mir auszusuchen, was ich machen will.“ Der Motor des Nachbarautos startet, es geht los. In aller Ruhe verabschiedet sich Alvarez, ungeduldig wirkt hier keiner.
Freiwillige, Polizei, Soldaten – alle helfen mit
Das liegt wohl auch an dem ausgetüftelten System. Es ist das dritte Mal, dass auf dem Gelände der Eishockey-Arena Essen ausgegeben wird. Beim ersten Mal Ende März kamen 1300 Autos, sagt Food-Bank-Sprecher Gulish, 400 weitere mussten wieder weggeschickt werden. Inzwischen läuft es runder. Die wartenden Fahrzeuge – zu Fuß darf man nicht kommen – wurden auf drei Parkflächen verteilt, so dass es nicht zu größeren Staus kommt. Den Verkehr regelt die Polizei, und auf dem Parkgelände hilft die Pennsylvania Army National Guard. Bis zu 1000 Fahrzeuge können am Tag abgefertigt werden.
„Am Anfang tauchten die ersten bereits um 6 Uhr morgens auf, vier Stunden, bevor die Ausgabe begann“, erzählt Gulish. Das hat sich verändert, es hat sich wohl herumgesprochen, dass genug für alle da ist. Auch hat sich die finanzielle Lage teilweise entspannt, weil staatliche Hilfen eingetroffen sind.
Die Not ist groß – und die Hilfsorganisation bereitet sich darauf vor, dass es so schnell keine Entspannung geben wird. Chefin Scales geht davon aus, dass der gestiegene Bedarf sich auch noch in den nächsten zwölf bis 18 Monaten zeigen wird. „Selbst wenn die Wirtschaft jetzt wieder hochgefahren wird, wird es nicht so sein wie zuvor.“ So würde etwa das Gastgewerbe auch weiterhin betroffen sein, weil weniger Menschen reisen oder essen gehen, und damit weniger Angestellte gebraucht werden.
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Seit Anfang März hätten sie sich darauf vorbereitet, „dass da etwas Großes kommt“, sagt Scales. Die ersten Covid-19-Fälle in Pittsburgh wurden in der Woche ab dem 16. März registriert. Die erste große Essensausgabe der Food Bank fand zwei Tage später statt – auf dem Parkplatz des eigenen Verteilzentrums. Die Bilder des kilometerlangen Rückstaus an Fahrzeugen entlang des Monongahela River gingen um die Welt. Eine Million Menschen haben sich die Drohnenaufnahmen im Netz angeschaut, die so gar nicht zu dem Bild der „großartigsten Nation der Erde“ passen wollte, die Präsident Donald Trump immer beschwört. „Am nächsten Tag stattete der lokale Polizeichef mir einen Besuch ab“, erzählt Scales. „Ich dachte, er wollte schimpfen. Aber er sagte: ,Wir wollen euch helfen, mit dem Verkehr fertig zu werden. Wir wissen, wie groß die Not ist.‘“
Die Food Bank gehört schon lange zu Pittsburgh: seit 1980, seit der Stahlkrise, als Hunderttausende ihre Jobs verloren und nicht mehr wussten, wie sie ihre Familien versorgen sollten. Krisen sind nichts Neues in der Stadt, die malerisch zwischen drei Flüssen liegt.
Die Lebensmittelversorgung kommt an Grenzen
Auch Scales selbst hat viel Leid gesehen: Sie war 2005 in New Orleans, nachdem Hurrikan Katrina die Stadt so fürchterlich getroffen hatte. Und sie war in New York nach den Terroranschlägen am 11. September 2001. „Food Banks sind für Katastrophen geschaffen.“ Aber die jetzige Situation sei einzigartig, eine weltweite Krise. „Normalerweise nehmen die Food Banks ihre Arbeit auf, nachdem etwas passiert ist. Hurrikane, Erdbeben oder Waldbrände sind regional begrenzte Katastrophen, Hilfe kann dann rasch von außen ins Krisenzentrum geschickt werden. Hier sind wir im Einsatz, während die Krise sich überall gleichzeitig entwickelt und immer größer wird – und mit begrenzten Ressourcen.“
Gerade habe sie erfahren, berichtet Scales, dass 21 Lkw-Ladungen mit Lebensmitteln verspätet seien, teils bis zu vier Wochen. „Für die nächsten zwei bis vier Wochen haben wir noch genügend Lebensmittel, aber ich mache mir Sorgen für die Zeit danach.“ Außerdem gingen zum Beispiel die Preise für Fleisch nach oben. Die Berichte darüber, dass die Lebensmittelversorgung Amerikas an Grenzen komme, kann Scales aus erster Hand bestätigen.
Trotz allem ist die Stimmung auf dem Parkplatz gut. Manche Autofahrer hupen, wenn sie die Freiwilligen passieren, ein Zeichen der Dankbarkeit für die unkomplizierte Hilfe. Das Lächeln der Helfer kann man unter ihrem Mundschutz nur erahnen.