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Unter Stress: Allein am Donnerstag sind in New York City 518 Menschen an dem Corona-Virus gestorben.
© Angela Weiss/AFP

Coronavirus in den USA: Die Epidemie verschärft die Ungerechtigkeit

Die Corona-Krise zeigt die Schwachstellen Amerikas auf. Es lebt aber auch die Hoffnung, dass die Krise das Land zum Besseren verändert.

Bilder verändern das Bewusstsein. Das Verwirrende an der Coronavirus-Krise war lange ihr fast unsichtbares Wüten. Auch in den USA hat es bei vielen Menschen gedauert, bis sich die Dimension dieser Katastrophe wirklich eingebrannt hat, bis sie verstanden haben, was da über sie gekommen ist.

Spätestens mit den Titelseiten der großen US-Zeitungen am Freitag dürfte das vorbei sein. Auf ihnen sind Massengräber zu sehen, die auf der New Yorker Insel Hart Island ausgehoben werden. Dort sollen Menschen beerdigt werden, die an Covid-19 gestorben sind und keine Angehörigen haben. Auf dem Armenfriedhof der Insel werden in normalen Zeiten 1500 Menschen im Jahr bestattet. Allein am Donnerstag sind in New York City 518 Menschen an dem Virus gestorben. Ein erheblicher Teil von ihnen wird arm gewesen sein. Mit ihnen stirbt gerade auch die schier unerschütterliche Gewissheit vieler Amerikaner, dass ihr Land das großartigste der Welt ist.

Das Virus trifft ohnehin Benachteiligte besonders hart

Ja, das Virus trifft alle Menschen, nicht nur Alte, nicht nur Minderheiten, nicht nur Arme. Aber es trifft ohnehin Benachteiligte besonders hart. Ihre oft erbärmlichen Lebensumstände, ihre mangelhafte Gesundheitsversorgung und ihre häufiger auftretenden Vorerkrankungen machen sie anfälliger. Dass sie auch noch seltener getestet werden und schlechter für sie gesorgt wird, verstärkt die Risiken.

Drohnenaufnahmen zeigen, wie auf der New Yorker Insel Hart Island Massengräber ausgehoben werden.
Drohnenaufnahmen zeigen, wie auf der New Yorker Insel Hart Island Massengräber ausgehoben werden.
© Lucas Jackson/REUTERS

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Die Armut ist in Amerika oft nur einen ausbleibenden Gehaltszettel weit weg. Bei fast 17 Millionen neuen Arbeitslosen in nur drei Wochen droht eine Massenverelendung, wenn die staatlichen Rettungspakete nicht ganz schnell greifen und wenn sie nicht noch deutlich aufgestockt werden. Denn mit dem Jobverlust geht häufig der Verlust der Krankenversicherung einher: Nach Schätzungen der Deutschen Bank hat sich die Zahl der Amerikaner ohne Krankenversicherung bereits auf mehr als 50 Millionen verdoppelt. Und die Rücklagen zu vieler Amerikaner reichen nur für ein paar Wochen.

Überall in der ehrwürdigen Hauptstadt der mächtigsten Nation der Welt tauchen in diesen wärmer werdenden Frühlingstagen gerade wieder Zelte auf, in denen Menschen ohne festen Wohnsitz hausen. Ein verstörender Gegensatz – kein reines Coronavirus-Phänomen, aber die Zahl der Zelte könnte in dieser schweren Krise noch deutlich zunehmen.

Amerika wird nach der Epidemie ein anderes Land sein - ein besseres?

Amerika wird nach der Epidemie ein anderes Land sein, glauben viele. Die Hoffnung ist, dass es ein besseres Land sein wird: ein mitfühlenderes, gerechteres – und damit ein gesunderes. Der gerade aus dem Präsidentschaftsrennen ausgeschiedene Senator Bernie Sanders hat das Wort vom „Menschenrecht“ auf eine Krankenversicherung geprägt; er träumt von einer gerechteren Gesellschaft, in der die zahlreichen Superreichen mehr für die Schwächsten im Land tun. Sein Wahlkampf ist am Ende, aber seine Ideen stehen auf einmal im Mittelpunkt der politischen Debatte. Dort werden sie so schnell nicht verschwinden.

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Joe Biden, wissend um die Wucht der von Sanders ins Leben gerufenen Bewegung, hat seinem ausgeschiedenen Konkurrenten viele freundliche Worte hinterhergerufen. Darunter das Eingeständnis, dass der linke Senator derjenige sei, der Amerika zwinge, sich schonungslos im Spiegel zu betrachten. Da hinzuschauen, wo es weh tut, auch auf die hässlichen Seiten. Um es in Zukunft besser zu machen. Der Demokrat Biden hat versprochen, sein Land zu heilen. Das war vor Corona. Mit dem Virus hat dieses Versprechen dramatisch an Bedeutung gewonnen.

Heilung gibt es nur, wenn zunächst die richtige Diagnose gestellt wird. Angesichts von überfüllten Armenfriedhöfen und Kühllastern voller Toter in der großartigsten Stadt der Welt wird diese Diagnose beunruhigend ausfallen. Es krankt an vielem. Aber Amerika ist doch auch das Land, in dem alles möglich ist, wenn man nur will – und hart dafür arbeitet. Es wird dringend Zeit, mit dieser Arbeit zu beginnen. Ausnahmsweise ganz in Donald Trumps Sinne: Macht Amerika wieder großartig.

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