„Ich war nicht vorbereitet auf all die Toten“: New York wird zum Krisenzentrum der Welt
Das Leben fühlte sich hier weiter und größer an als anderswo. Jetzt sind Straßen und Subway gespenstisch leer. Und die Ärzte überfordert.
Das Leben bietet den Lebenden ja unablässig seine Weisheiten an. Geh’ raus, denn es lohnt sich. Vergiss dort draußen nicht, nach oben zu blicken. Diese zwei Lehren galten bis vor wenigen Wochen in New York City, wo es ein Chrysler Building im Sonnenuntergang zu bestaunen gab. Oder, am Madison Square Park, die Spitze des Flatiron Building. Oder … ach, alles so lange her.
Die Weisheit der New Yorker Gegenwart ist eine andere. New Yorker lernen jetzt: Es kann immer noch schlimmer kommen.
In drei Tagen hat sich die Zahl der Toten verdoppelt
Es gibt heute mehr Infizierte als gestern. Mehr Tote natürlich. Mehr fürchterliche Nachrichten, mehr bizarre auch. Und weniger Hoffnung. Wer heute durch Manhattan spaziert, zaghaft natürlich, allen anderen Passanten weiträumig ausweichend, findet dieses einstige Zentrum der westlichen Welt immer noch ein wenig düsterer vor als gestern.
Die Zahlen dieses Samstagmorgens: 102.863 Corona-Infizierungen und 2.935 Tote im Bundesstaat New York, darunter 57.159 Infizierungen und 1.562 Tote in New York City, dem Weltkrisenzentrum, der Geisterweltstadt. In nur drei Tagen hatte sich die Zahl der Toten verdoppelt.
Und es geht weiter und immer weiter. Rund sechs Tage sei der Moment noch entfernt, wenn es keine Beatmungsgeräte mehr geben werde, sagte Gouverneur Andrew Cuomo am Freitag, „D-Day“ heißt jener Tag nun prophylaktisch; oder prophetisch.
Zu viele Fälle, zu wenig Personal
Aus einem Krankenhaus in Queens berichtet der Arzt B., dass er nun in einem Kriegsgebiet arbeite: „Auf den Fluren überall Betten, viel zu viele Fälle, viel zu wenig Personal, keine Ausstattung, heute die Schutzmaske von gestern“.
Und die Pflegerin D. sagt, sie sei nicht vorbereitet gewesen auf all die Toten, sie sei doch erst 24 Jahre alt.
Und wie so viele der stillen Helden, denen in diesen Wochen täglich um 19 Uhr der Beifall von den Balkonen und aus den Wohnungen der Stadt gilt, hat sich auch C., bester Freund und Trauzeuge, Chirurg und Urologe, freiwillig für den Notfalleinsatz gemeldet. Seit vier Wochen kann es keine Begegnung geben, kein Bier, kein Segeltraining, kein Frühstück, nur Facetime und E-Mails.
„Horror, Hoffnung, Einsamkeit“
C. berichtet vom ersten Tag: „Die Arbeit auf der Intensivstation ist eine Realität der Widersprüche. Horror, Hoffnung, Einsamkeit, Angst und Selbstzweifel zogen gleichzeitig durch mich hindurch, als ich erstmals Schutzanzug und Maske anzog. Der erste Patient war 60, der Bruder eines Kollegen. Er hing schon am Beatmungsgerät, und obwohl er nicht schwitzte, konnte ich durch die Tücher sein Fieber fühlen.“
Für den Mann sei es der zweite Beatmungstag gewesen, sagt C., vielleicht werde die starke Reaktion seines Körpers ihn retten. „Ein, zwei Wochen werden vergehen, ehe wir es wissen. Zwei Zugänge musste ich legen, einen in eine Halsvene und den anderen in eine Arterie am Handgelenk. Das ist keine Hochrisiko-Operation, aber es gab Momente, in denen es hätte schiefgehen können. Er hätte keine hohe Toleranz für Komplikationen gehabt.“
Die Lichter des Broadway? Dunkel
New York City, das war ein öffentlicher Ort, damals, vor Covid-19. Teuer sind hier die Schuhkartons, die Wohnungen genannt werden – aber dafür bekamen achteinhalb Millionen New Yorkerinnen und New Yorker den Central Park und das MoMA, die Metropolitan Opera, all die Galerien und all die Läden und auch die Yankees (Baseball), die Rangers (Eishockey) und, na ja, sogar die lausigen Knicks (Basketball); all die Menschen hier bekamen ein Leben, das sich weiter, größer, lebenswerter anfühlte als anderswo.
Die 41 Broadway-Theater spielten im Jahr zwei Milliarden Dollar ein – dunkel sind die Lichter des Broadway. Die Met, das sagt ihr Direktor Peter Gelb, werde durch Corona 60 Millionen Dollar verlieren, was nichts anderes als existenzbedrohend sein kann.
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Das Tempo und die Kraft dieser Stadt rissen ihre Bewohner mit; jede und jeder, alle, die hier lebten, wollten ja etwas tun oder werden, hatten eine Idee, waren von irgendetwas begeistert. Darum war New York stets größer als seine Klischees: Es erfand mit jedem neuen Image stets dessen Gegenbild, schlief nie und kann niemals verstummen. Das dachten alle hier. Vor Covid-19.
All die Kindermädchen, Putzfrauen, Wachleute: arbeitslos
New York war eine Geldstadt, selbstverständlich. Die Wall Street definiert Manhattan, und Manhattan definiert den Rest der Metropole. Und nun: Arbeitslosigkeit, flächendeckend. Die Kettenreaktionen: All die Kindermädchen, Putzfrauen, Wachleute verlieren ihre Jobs. Zehn Millionen Amerikaner haben sich in nur zwei Märzwochen arbeitslos gemeldet, von 4,4 stieg die Quote auf 13 Prozent, und das wird so weitergehen, hier drastischer als im Rest des Landes.
C., der Arzt und Freund, schreibt:
„Ich brauche ein paar Momente, um meinen Fokus zu finden, aus dem großen Szenario dieser Pandemie in die ganz spezifische Anatomie dieser wenigen Zentimeter hinter dem Ohr und unter dem Kinn zurückzufinden. Aber ich kann die Vene nicht entdecken. Ist er schon dehydriert? Ich brauche Hilfe.
Ich rufe durch die versiegelte Unterdrucktür nach einer Schwester. Sobald sie umgezogen ist, kommt sie herein und dreht das Bett, sodass er mit dem Kopf nach unten liegt. Ich finde die Ader, und da ist ein Gefühlsrausch: Nein, ich habe es nicht vermasselt. Ich bin nass vom eigenen Schweiß unter Schutzanzug und Maske.“
Eine Stadt wie aus dem 19. Jahrhundert
Insgesamt 80 Minuten verbringt er im selben Raum mit dem todkranken Patienten – es ist der erste Arbeitstag der Schwester: Sie ist aus Kansas hergeflogen, hat sich freiwillig gemeldet, um zu helfen. „Sie ist wie eine Heilige, die nicht weiß, dass sie eine Heilige ist“, schreibt C. – „bescheiden. Bewegend.“
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New York konnte schon früher durchaus finster sein, man musste lediglich die Stufen in die Welt der Subway hinabsteigen: Bleiche Menschen quetschten sich in die U-Bahn, hörten Musik, lasen oder schliefen, keiner blickte die anderen an, niemand dort unten lächelte. Es liefen Ratten durch die Bahnhöfe. Die Ansagen: genuschelt.
Es gab, schon damals, diese Tage, an denen New York wie eine Stadt aus dem 19. Jahrhundert wirkte: die Dämpfe überall, die miese Kanalisation, die Löcher in den Straßen, die Stromausfälle, auch dieses radikale Klassensystem natürlich, die schroffe, wütende Unterschicht. Einmal lief ein Mann durch den Waggon und hielt ein Schild hoch: „Scream at me – $ 1.“
So still wie sonst nur an Thanksgiving
Jetzt sind die U-Bahnen leer. Die Busse auch. Die Straßen: leer. Letzteres ist praktisch, weil jeder Spaziergänger die komplette Breite der elf Avenues nutzen kann. Es ist nun täglich so leise wie all die Jahre zuvor nur an Thanksgiving.
Diese Stadt konnte ihren Menschen schon vor Covid-19 das Gefühl geben, dass Einzelne hier nichts wert sind, da sie ihr Tempo hatte, und wer nicht mitrannte, stürzte und blieb zurück.
Doch wie kraftvoll war damals das Leuchten New Yorks, dieses Universum anonymer Lichter, wie John Updike einst schrieb. Jetzt leuchtet das Empire State Building wie die letzte Fackel der Stadt.
Und abends um neun gibt es dort oben ein Lichterspiel, blutrot, dazu hört die Stadt via Radio „Empire State of Mind“, die Hymne von Jay-Z und Alicia Keys: „Concrete jungle where dreams are made of / There’s nothin’ you can’t do / Now you’re in New York.“
Geschlossene Türen. Heruntergelassene Jalousien
Zum öffentlichen New Yorker Raum zählten seine Restaurants, Wallfahrtsstätten wie das gefeierte „Via Carota“ in der Grove Street oder das nette „Café Katja“ auf der Lower East Side, wo es Gulasch und Sauerkraut oder diverse Sorten Bratwurst gab und dazu „Jever“. Erwin, der Chef, hatte das „Katja“ nach seiner Tochter benannt, und Andrew, sein Geschäftspartner, wäre zwar lieber fischen gegangen, doch er macht eine derart gute Linzer Torte, dass er täglich gebraucht wurde.
Geschlossene Türen. Heruntergelassene Jalousien.
Einige Alkohol-Läden sind noch geöffnet, einzeln nur dürfen die Kunden hinein, und draußen steht ein Wachmann mit einem gläsernen Schutzhelm, der aussieht wie ein umgedrehter Weinkühler.
Auch einige Fast-Food-Läden, „McDonald’s“ und „Chipotle“, halten noch durch, ansonsten ist die Stadt verrammelt. Wer spazieren geht, hat kein Ziel mehr: kein Café jedenfalls, keinen Buchladen, die Spielplätze sind mit dicken Ketten verriegelt.
Einige Stunden vom Tod entfernt
C. schreibt: „Weiter zur nächsten Patientin. Das gleiche Szenario, mal davon abgesehen, dass sie eiskalt ist und nach meiner Einschätzung einige Stunden vom Tod entfernt. Trotzdem braucht sie den Eingriff noch, und wer weiß, vielleicht wird sie es ja doch schaffen. Zwei weitere Zugänge legen – und weiter.“
Zum New Yorker Leben zählten Feiern wie die Steuben-Parade, benannt nach dem deutschstämmigen General Friedrich von Steuben. Jahr für Jahr feierten Amerikaner, die deutsche Vorfahren haben, in den Straßen New Yorks mit deutschen Touristen.
Der Spielmannszug der Freiwilligen Feuerwehr Wickede spielte auf der Fifth Avenue „Hoch auf dem gelben Wagen“. Es gab Lederhosen, Mercedes-Cabrios, Dudelsäcke, wieso eigentlich Dudelsäcke? Vorbei.
Das New York von damals war seine Sprache. „She’s blockomore“, sagten die Jungs im East Village, meinten: „She only looks good from a block or more.“ Vorbei.
Streben, eilig? Starr steht die Stadt
New York war Bewegung, alle New Yorker schienen immer zu wissen, wohin sie strebten, aßen rennend, telefonierten und tippten rennend, „to gain time“, Zeit gewinnen, das war ein New Yorker Begriff und ein Motto der Stadt. Die nun starr dasteht wie tot.
C. schreibt: „Meine dritte Patientin. Scheinbar die normalste, aber übergewichtig, darum theoretisch besonders schwierig. Inzwischen sind meine ganze Konzentration und mein Training in den Fingerspitzen angekommen. In 15 Minuten bin ich fertig. Eine andere Schwester kümmert sich um sie. Scharfsinnig, konzentriert. Kein bisschen Furcht. Ich kann ihr Lächeln durch die Maske sehen. Sie liebt ihre Arbeit.“
Mit welchem Gefühl geht er nach Hause? „Stolz auf das winzige bisschen, das wir erreicht haben. Das alles bleibt ein Albtraum, der gar nicht bald genug enden kann.“
Verändert war New York schon vor Corona
New York war die Stadt der Fremden, denn viele waren mal neu hier, mochten Anfänge und Begegnungen, halfen einander, obwohl diese Stadt so hart sein konnte oder gerade deshalb.
So viele Menschen hier rieben sich auf, kämpften, und die Stadt lebte von dieser Energie, flirrte. Jetzt gibt es immerhin noch das Lächeln derer, die einander ausweichen. Ein Nicken dazu, immerhin.
New York, das war jener Taxifahrer, der drei Minuten lang warten sollte und wegfuhr und am Telefon schimpfte: „Three minutes is a lifetime in this city.“ Keine Taxis mehr.
Zu dieser Stadt gehört schon auch, dass man sie nicht romantisch verklären sollte … oder doch: Wieso denn nicht, in diesen Tagen? Sagen wir es so: Man sollte wahrnehmen, dass sie sich schon vor Corona verändert hatte. Cafés wie das „Angelique“ in der Bleecker Street waren längst verschwunden, weil der Vermieter von einem Tag auf den anderen 42.000 statt 16.000 Dollar Miete im Monat wünschte.
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Der St. Marks Bookshop ist weg, und stets kommt noch ein Starbucks hinzu. Es stimmte aber trotzdem noch, damals, vor Covid-19, was einst E. B. White schrieb: „No one should come to New York to live unless he is willing to be lucky.“
Der Gouverneur tut, was Trump versäumt
Und nun kämpft Andrew Cuomo, der Gouverneur, für diese Stadt und versucht ruhig zu bleiben, respektvoll zu bleiben, den Präsidenten Donald Trump nicht permanent zu beschimpfen, da New York jene Beatmungsgeräte braucht, die nur die Regierung in Washington, D.C., beschaffen kann.
Tag für Tag wirkt Cuomo seriös, klar, traurig, kämpferisch. Tag für Tag sagt er der Stadt und dem Bundesstaat, wie die Lage ist. Tag für Tag ist er das Gegenteil Trumps.
Kann es also tatsächlich noch schlimmer kommen, hier, im gestern noch so leidenschaftlich lebendigen New York?
Ein Gang durch die stille Stadt führt an den Hudson. Wenige Menschen sind noch hier, ein Vater spielt auf einer Wiese Frisbee mit seinem Sohn.
„Die Strömung riss sie fort“
Auf einmal klebt da dieser Zettel, an einer Straßenlaterne. „Bitte helft uns, unsere Jungs zu finden“, steht da, darunter zwei Kindergesichter, die Gesichter von Manny Flores und Isaiah Moronta, beide 13 Jahre alt. Die beiden sprangen von der Spuyten Duyvil Creek Bridge an der Nordspitze Manhattans. „Die Strömung riss sie fort.“
Und Andrew Cuomo hat erfahren, dass sein kleiner Bruder, der Fernsehmoderator Chris, infiziert ist. „Er ist stark, wenn auch nicht ganz so stark, wie er glaubt.“
Und C., Freund und Arzt, weiß nun, dass eine seiner Assistentinnen infiziert war. Er schreibt: „Sie hatte keine Symptome. Sie hat ihre beiden Eltern angesteckt, beide sind gestorben. Ich schlafe nicht gut.“
Von Klaus Brinkbäumer