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EU-Parlamentspräsident Martin Schulz (SPD).
© picture alliance / dpa

Martin Schulz über die Flüchtlingskrise: "Einige stellen nationalen Eigensinn über europäischen Gemeinsinn"

Im Interview mit dem Tagesspiegel erklärt EU-Parlamentschef Martin Schulz, wie er sich eine gerechte Verteilung der Flüchtlinge in der Europäischen Union vorstellt.

Herr Schulz, macht die Bundeskanzlerin in der Flüchtlingskrise alles richtig?
Kein Mensch macht alles richtig. Aber Frau Merkel hat ganz klar eine Position bezogen, die ich teile.

Um den Druck auf Deutschland in der Flüchtlingskrise zu verringern, fordert Angela Merkel eine gerechtere Verteilung der Schutzsuchenden in der EU. In der Praxis stößt sie damit aber in der Europäischen Union auf erhebliche Widerstände. Wie soll das Problem gelöst werden?
Zunächst richten wir an den Außengrenzen der EU in Italien und Griechenland Hotspots ein, also Zentren zur Registrierung der Flüchtlinge. Solche Registrierungsstellen sind aber nur dann sinnvoll, wenn die Flüchtlinge anschließend verteilt werden können. Eine gerechte Verteilung der Flüchtlinge fordern EU-Parlament und EU-Kommission seit langem, und wir haben konkrete und praktikable Vorschläge gemacht. Frau Merkel hat in ihrer Rede im Europaparlament zu Recht darauf hingewiesen, dass mit dem Beschluss über die Verteilung von 160 000 Flüchtlingen, den wir in den vergangenen Wochen gefasst haben, in der EU ein erster Schritt gemacht wurde. Dieser Schritt ist deshalb so wichtig, weil damit Kriterien entwickelt wurden, wie man Flüchtlinge gerecht verteilt.

Und in einem zweiten Schritt soll dann auf EU-Ebene eine Umverteilung in einem viel größeren Maßstab beschlossen werden?
Genau das müssen wir erreichen, auch wenn die Entscheidungsfindung unter den EU-Staaten zäh verläuft. Einige Mitgliedsländer hindern die EU daran, ihre Rolle in dieser Krise zu spielen, weil sie nationalen Eigensinn über europäischen Gemeinsinn stellen und sie so eine vernünftige Lösung verhindern. Aber auch ein Land wie Ungarn würde massiv entlastet, wenn man den Verteilungsschlüssel der EU zugrunde legt. Für diesen Schlüssel sind die Einwohnerzahl, die Wirtschaftskraft, die Arbeitslosenquote und die Zahl der bereits aufgenommenen Flüchtlinge maßgeblich. Deshalb hoffen wir, dass irgendwann in den nächsten Wochen der Pragmatismus die Ideologie besiegt.

Und wenn die Quotengegner ihren Widerstand doch nicht aufgeben? Soll ein Land wie Ungarn, das sich wie Tschechien, die Slowakei und Rumänien gegen eine Verteilung ausgesprochen hat, zur Aufnahme von Flüchtlingen gezwungen werden?
Man kann niemanden zwingen. Man kann zwar EU-Vertragsverletzungsverfahren einleiten, das bringt aber wenig. Ich sehe aber in Budapest in den letzten Tagen zum ersten Mal Bewegung – die Regierung von Viktor Orban ist zur Kooperation bereit. Dabei könnte es helfen, wenn wir uns bei der Finanzierung der Flüchtlingshilfe flexibel zeigen. Dann können wir auch Länder, die bis jetzt zögerlich waren, davon überzeugen, dass eine Zusammenarbeit in ihrem Sinne ist.

Es müssen also künftig mehr Mittel aus dem EU-Haushalt für die Flüchtlingshilfe bereit gestellt werden?
Richtig. Als der gegenwärtige EU-Haushaltsrahmen festgelegt wurde, haben einige Länder wie Großbritannien über ein angeblich „modernes“ Budget gejubelt. Tatsächlich wurden aber die Gelder für die Entwicklungszusammenarbeit gekürzt. Das rächt sich jetzt. Im kommenden Jahr soll der gesamte Sieben-Jahres-Haushalt der EU noch einmal bei einer Revision auf den Prüfstand kommen. Dann werden wir die Gelegenheit haben, neue Schwerpunkte zu setzen und Mittel umzuschichten. Wir brauchen dringend Geld, um Jordanien, den Libanon und die Türkei in der Flüchtlingskrise zu unterstützen, denn diese Länder haben Millionen Flüchtlinge aufgenommen.

An welcher Stelle soll dafür gekürzt werden? Sollen die Agrarsubventionen zugunsten der Entwicklungshilfe gekürzt werden?
Das lässt sich jetzt noch nicht sagen. Es wird vielleicht den Agrarsektor treffen, vielleicht aber auch einen anderen Bereich. Man muss bedenken, dass viele unserer Landwirte wegen der Öffnung der Märkte unter einem massiven Druck stehen.

Warum Schulz die Türkei für ein sicheres Herkunftsland hält

Flagge zeigen. Eine Frau schwenkt während des Brüssel-Besuches von Präsident Erdogan vor dem königlichen Palast in der belgischen Hauptstadt die türkische Fahne.
Flagge zeigen. Eine Frau schwenkt während des Brüssel-Besuches von Präsident Erdogan vor dem königlichen Palast in der belgischen Hauptstadt die türkische Fahne.
© AFP

Außerhalb der EU spielt die Türkei in der Flüchtlingskrise eine entscheidende Rolle. Die EU möchte den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan einen finanziellen Anreiz bieten, damit er sechs weitere Flüchtlingslager errichtet. Zudem soll er die Grenze zu Griechenland schärfer überwachen. Wird Erdogan dabei mitmachen?
Ich habe am vergangenen Montag lange mit Erdogan darüber gesprochen. Der türkische Präsident ist in Brüssel selbstbewusst aufgetreten, er hat aber auch Kooperationsbereitschaft gezeigt. Er weiß, dass eine enge Kooperation in der Flüchtlingsfrage mit der EU auch im türkischen Interesse ist. Einerseits geht es Erdogan um eine finanzielle Unterstützung. Er hat in Brüssel erklärt, dass sein Land für die 500 000 Flüchtlinge, die in Lagern untergebracht sind, bis jetzt sieben Milliarden Dollar aufgewendet hat.

Aber die Kooperation betrifft nicht nur das Geld, sondern auch eine Reihe von politischen Fragen. Unter anderem will Erdogan erreichen, dass die Türkei als sicheres Herkunftsland für Flüchtlinge anerkannt wird.

Gleichzeitig verschärft sich in der Türkei der Konflikt zwischen den Sicherheitskräften und den Kurdenrebellen der PKK. Zahlen die Europäer nicht einen zu hohen Preis, wenn sie die Türkei als sicheres Herkunftsland einstufen?
Auch wer aus einem sicheren Herkunftsland als Flüchtling zu uns kommt, dessen Fall wird individuell geprüft. Grundsätzlich bin ich aber der Ansicht, dass ein Land wie die Türkei, mit dem über einen Beitritt zur EU verhandelt wird, automatisch auch ein sicheres Drittland ist. Denn in dem Moment, wo Länder wie Serbien oder die Türkei nicht zu sicheren Herkunftsländern erklärt werden, müssten wir ihnen eigentlich auch den EU-Kandidatenstatus absprechen.

Die Türkei ist am Samstag von einem schweren Anschlag erschüttert worden. Wie reagieren Sie?
Ich bin tief betroffen und entsetzt über diese menschenverachtende barbarische Tat. Nichts kann einen solchen Anschlag rechtfertigen, und ich hoffe, dass die Täter schnell gefunden und bestraft werden.

Soll die Türkei eines Tages EU-Vollmitglied werden?
Man führt ja Beitrittsverhandlungen mit einem Ziel, und verhandelt nicht um des Verhandelns willen. Die Verhandlungen schleppen sich seit zehn Jahren dahin. Wir haben jetzt etwas anderes zu tun als darüber zu philosophieren, wann die Verhandlungen zu Ende sein könnten. Daran sind auch die Türken nicht interessiert. Im Interesse Ankaras ist es vielmehr, das akute Flüchtlingsproblem vor der eigenen Haustür zu lösen.

Erdogan möchte eine Pufferzone in Syrien einrichten. Lässt sich diese Forderung aufrecht erhalten, wenn Russland Kampfjets in Syrien einsetzt?
Ich habe den türkischen Präsidenten in Brüssel gemeinsam mit EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker und dem EU-Ratschef Donald Tusk darauf hingewiesen, dass die Lage der Kurden in der Region bei solchen Überlegungen eine Rolle spielen muss. Im Übrigen braucht man einen Beschluss des UN-Sicherheitsrats, wenn man auf dem Gebiet eines anderen Landes eine Pufferzone einrichten will. Ich sehe derzeit nicht, wie ein solcher Beschluss zu Stande kommen soll.

Was die SPD von der Flüchtlingspolitik der Bundeskanzlerin hält

SPD-Chef Sigmar Gabriel.
SPD-Chef Sigmar Gabriel.
© dpa

Steht die SPD vorbehaltlos zum Kurs von Kanzlerin Merkel in der Flüchtlingspolitik?
Die Ministerpräsidenten von SPD und CDU weisen berechtigterweise seit Jahren darauf hin, dass sie Geld brauchen, damit in ihren Ländern die Flüchtlinge integriert werden können. Deshalb ist es konsequent, wenn der Bund den Ländern bei der Integration der Schutzsuchenden hilft. Keine noch so schöne Erklärung über Willkommenskultur wird uns helfen, wenn diese Kultur nicht in die Tat umgesetzt werden kann.

Ich war in den Neunzigerjahren Bürgermeister einer Stadt in Nordrhein-Westfalen, die heute viele Flüchtlinge aufnimmt. Wenn aber der Bürgermeister Turnhallen schließen oder Wohnungen beschlagnahmen muss, dann wird eine Gruppe der Bevölkerung gegen eine andere in Stellung gebracht. Genau das müssen wir vermeiden. Deshalb muss es eine ausreichende finanzielle Ausstattung der Länder geben, die es den Städten und Gemeinden ermöglicht, ihre Aufgaben bei der Flüchtlingshilfe zu bewältigen, ohne dass sie bei Bildung, Kultur und Sport Geld abzweigen müssen. Das ist wichtiger als die ’schwarze Null’ des Bundesfinanzministers.

Aus der SPD kommen Forderungen, die Flüchtlingszahlen zu verringern. Muss dafür das Asylrecht geändert werden?
Ganz sicher nicht. Wir brauchen keine Änderung des Grundgesetzes.

Was dann?
Wir haben ein Vollzugsdefizit bei der Bearbeitung der Asylanträge. Ich möchte daran erinnern, dass Sigmar Gabriel seit dem Amtsantritt der großen Koalition permanent darauf hingewiesen hat, dass das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 250 000 unbearbeitete Altfälle vor sich herschiebt. Ich habe deshalb Verständnis dafür, dass das Kanzleramt jetzt die Koordinierung in der Flüchtlingskrise an sich zieht.

Bundesinnenminister Thomas de Maizière hat die Einrichtung von Transitzonen an den deutschen Außengrenzen vorgeschlagen. Dort sollen die Flüchtlinge ausharren, bis eine Entscheidung über ihre Einreise getroffen ist. Was halten Sie davon?
Nicht viel. Entscheidend ist zunächst, wie wir eine gerechtere Verteilung der Schutzsuchenden in der EU hinbekommen und wie wir die Verfahren in Deutschland beschleunigen können. In den Niederlanden dauern die Verfahren im Schnitt zehn Tage. In Deutschland sind es fünfeinhalb Monate.

Wenn Sie eine Prognose wagen sollten – wie lange wird uns die Flüchtlingskrise noch beschäftigen?
Noch sehr lange. Die Krise ist seit 20 Jahren langsam auf uns zugekommen. Der Zusammenbruch von Syrien, in Libyen, im Sudan, der Bürgerkrieg in Äthiopien und Eritrea – all dies löst seit Jahren Fluchtbewegungen aus. Seit 20 Jahren wird im Europaparlament und in der Kommission darüber diskutiert, dass wir ein legales Einwanderungsrecht und einen temporären Schutz für Bürgerkriegsflüchtlinge brauchen. Die Mitgliedsstaaten der EU haben aber bei dieser Debatte allzu lange weggehört. Das ist jetzt nicht mehr möglich.

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