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Update

Türkei und Flüchtlingskrise: Erdogan nennt Brüssel seinen Preis

Die EU verhandelt heute mit Recep Tayyip Erdogan darüber, wie gemeinsam der Zustrom syrischer Flüchtlinge nach Europa gestoppt werden kann. Wird Erdogan zum wichtigsten Verbündeten in der Flüchtlingskrise?

Zum ersten Mal seit seiner Wahl zum türkischen Staatspräsidenten vor mehr als einem Jahr reist Recep Tayyip Erdogan an diesem Montag zu Gesprächen mit der EU-Spitze nach Brüssel. Im Gepäck hat der umstrittene Präsident eine Reihe von Forderungen an die Europäer, die wegen der Flüchtlingskrise plötzlich die Türkei als Partner wiederentdeckt haben: Europa braucht Ankara, wenn der Andrang vor allem von syrischen Flüchtlingen gestoppt werden soll. Der ungarische Regierungschef Viktor Orban nennt Erdogan sogar Europas „Hoffnung“. Und: „Wir müssen jeden Sonntag für das Haus Erdogan beten.“ Doch dabei soll es nicht bleiben. Die EU will dem türkischen Staatschef im Gegenzug für eine mögliche Kooperation einiges anbieten.

Was sieht der Aktionsplan der Europäischen Union vor?

Wenn zustande kommt, was die Europäische Union mit der Regierung in Ankara vorverhandelt hat, dann wird die Türkei zum wichtigsten Partner der EU bei der Sicherung der Außengrenzen und der Steuerung des Flüchtlingszuzugs. Konkret soll sich die türkische Regierung verpflichten, die Grenze zu Griechenland zu kontrollieren. Vorgesehen sind gemeinsame Patrouillen mit der griechischen Küstenwache, koordiniert von der EU Grenzschutzagentur Frontex. Ziel ist es, alle Flüchtlinge, die über die östliche Ägäis nach Griechenland übersetzen, in die Türkei zurückzubringen. Dort sollen sie in sechs neuen Flüchtlingslagern für insgesamt zwei Millionen Menschen untergebracht werden. Die Camps werden von der EU mitfinanziert. Ein Teil der Flüchtlinge soll von der Türkei auf die EU-Mitgliedstaaten verteilt werden. Die Rede ist von einer halben Million Menschen. Die EU hofft, mit Hilfe der Türkei die Kontrolle über ihre Grenzen zurück zu gewinnen und den Flüchtlingszuzug zumindest zu verlangsamen. Allein im September sollen mehr als 100 000 Flüchtlinge über die Ägäis nach Griechenland gereist sein.

Am Montag reist der türkische Staatspräsident Erdogan zu Gesprächen nach Brüssel.
Am Montag reist der türkische Staatspräsident Erdogan zu Gesprächen nach Brüssel.
© AFP

Warum ist eine Einigung mit Erdogan für Kanzlerin Angela Merkel wichtig?

Noch nie in ihrer fast zehnjährigen Amtszeit stand Angela Merkel derart unter Druck wie in diesen Tagen. Der offene Widerstand von Horst Seehofer und der CSU gegen ihre Flüchtlingspolitik ist dabei noch nicht einmal das größte Problem der Kanzlerin. Was Merkel und ihre Berater im Kanzleramt noch mehr sorgen muss, ist der schwindende Rückhalt in der CDU sowie das hohe Tempo, mit dem die bisherige Umfragekönigin an Zustimmung in der Bevölkerung verliert. Am Sonntag hat Merkel in einem Interview versucht, gegenzusteuern. Im Gespräch mit dem Deutschlandfunk verteidigte sie einerseits ihre Entscheidung, tausende in Ungarn festsitzende Flüchtlinge unregistriert ins Land einreisen zu lassen. Auch bekräftigte die Regierungschefin ihr Bekenntnis zum Asylrecht, an dem nicht gerüttelt werden dürfe. Andererseits schickte die Kanzlerin eine Botschaft an die große Koalition der Skeptiker und Mahner – also an die vielen Bundes- und Landespolitiker von CDU, CSU und SPD, die die Grenzen der Belastbarkeit bei der Aufnahme von Flüchtlingen erreicht sehen. Ihnen stellte Merkel Maßnahmen zur Begrenzung des Flüchtlingszuzugs in Aussicht und nannte als entscheidenden Schritt eine bessere Sicherung der EU-Außengrenzen und eine entsprechende Vereinbarung mit der Türkei.

Was verlangt Erdogan als Gegenleistung für Hilfe in der Flüchtlingsfrage?

Erdogan dürfte bei der EU mehr Geld für die Versorgung von Flüchtlingen fordern. Die bisherigen Hilfsangebote der EU kommen in Ankara überhaupt nicht gut an. Ministerpräsident Ahmet Davutoglu sagte über den Plan der Europäer, die Finanzhilfe zum Teil aus Mitteln für den türkischen EU-Beitritt zu nehmen, damit wolle Brüssel den Türken das Geld aus der einen Tasche herausnehmen und dann mit Gönnermiene in die andere hineinstecken. Auch andere Vorschläge der Europäer finden in der türkischen Hauptstadt keinen Gefallen. Erdogan hat bereits öffentlich den Plan abgelehnt, mit EU-Geldern in der Türkei neue Flüchtlingslager für Syrer zu bauen. Besonders gereizt reagieren türkische Regierungspolitiker auf das Vorhaben der Europäer, sich aus den in den türkischen Lagern untergebrachten Syrern jene herauszusuchen, die in der EU aufgenommen werden sollen. Die regierungsnahe Zeitung „Star“ meldete, zu Erdogans Botschaften in Brüssel werde die Feststellung gehören, dass diese Auswahl von Flüchtlingen nach Bildungsstand und Religionszugehörigkeit „unmenschlich“ sei. In den anstehenden Verhandlungen mit der EU wird Ankara zudem die Forderung nach Reiseerleichterungen für Türken bei Reisen in westeuropäische Länder bekräftigen. Auch die Rückübernahme von Flüchtlingen, die über türkisches Territorium in die EU gelangen, macht Erdogan von einer Verbesserung der Visumsbedingungen abhängig. Ziel der Türkei ist die Abschaffung der Visumspflicht.

Welche Rolle spielt der türkische Plan zur Einrichtung einer Pufferzone in Syrien?

Zu den türkischen Erwartungen an die EU gehört darüber hinaus eine europäische Unterstützung für den Plan zur Einrichtung einer Pufferzone im Norden Syriens. Kurz vor dem Erdogan-Besuch in Brüssel machte Davutoglu den Europäern das Vorhaben erneut schmackhaft, indem er von einer möglichen Rückkehr von mehreren hunderttausenden Flüchtlingen in diese Zone sprach. Drei Containerstädte für jeweils 100.000 Bewohner will die Türkei in Syrien bauen; die EU soll zahlen. Aus Sicht Ankaras sollen Luftangriffe den "Islamischen Staat" (IS) aus dem für die Zone ausgewählten Gebiet nahe der türkischen Grenze vertreiben, bevor Truppen gemäßigter Rebellenverbände wie die Freie Syrische Armee (FSA) oder turkmenische Milizen am Boden die Kontrolle übernehmen. Inzwischen trete auch Frankreich für den Plan der Pufferzone ein, sagte Davutoglu. Doch bei den meisten westlichen Verbündeten herrscht erhebliche Skepsis. Spätestens mit der Intervention Russlands in Syrien ist eine Umsetzung des Projektes unwahrscheinlich geworden, ganz abgesehen davon, dass die Einrichtung einer solchen Zone ohne UN-Beschluss eine Verletzung der syrischen Souveränität wäre.

Was will Erdogan tun, wenn die EU nicht auf seine Forderungen eingeht?

Bisher laufe die Haltung Europas darauf hinaus, der Türkei die Aufgabe zuzuweisen, für die Flüchtlinge zu sorgen, sagte Erdogan am Sonntag. „Sie sagen uns: ‚Macht bloß eure Tore nicht auf. Die sollen bei euch bleiben,’“ sagte er über die Position der EU-Länder. Bisher fangen türkische Sicherheitskräfte wöchentlich tausende syrischer Flüchtlinge ab, die ohne gültige Papiere in die EU wollen. Nun drohte Erdogan indirekt damit, dass sich das ändern könnte, wenn Europa nicht auf türkische Forderungen wie die einer Pufferzone eingehen sollte. „Bis zu einem gewissen Punkt werden wir uns gedulden, doch dann werden wir das Notwendige tun“, sagte Erdogan. „Wenn ihr ein gemeinsames Vorgehen nicht unterstützt, dann werden unsere Maßnahmen ganz anders aussehen“, fügte er hinzu.

Wird die Türkei „sicherer Drittstaat“?

Wegen der großzügigen Aufnahme von zwei Millionen Syrern und Irakern betrachtet sich die Türkei auf internationaler Ebene als Vorbild in Sachen Humanität. Gleichzeitig aber verschärfen sich in Südostanatolien die Spannungen zwischen den Sicherheitskräften und den Kurdenrebellen von der PKK. Seit dem Zusammenbruch eines zweijährigen Waffenstillstandes Ende Juli sind bei Gefechten und Anschlägen bereits mehrere hundert Menschen umgekommen. Kurdenpolitiker verbreiteten am Sonntag ein Foto, das angeblich zeigte, wie ein gepanzertes Fahrzeug der Sicherheitskräfte die Leiche eines getöteten Kurden – Schwager einer kurdischen Parlamentsabgeordneten – hinter sich herschleift. Die Eskalation im Kurdenkonflikt kompliziert Überlegungen der der Europäischen Union, die Türkei zum „sicheren Drittstaat“ zu erklären, um die Rückführung von Flüchtlingen zu erleichtern. Laut mehreren Presseberichten sollen einige EU-Staaten Bedenken dagegen angemeldet haben, weil die Anerkennungsrate kurdischer Asylbewerber aus der Türkei relativ hoch ist.

Welche Rolle spielt das Thema Kurden aus türkischer Sicht im Syrien-Konflikt?

Auch ohne Drittstaaten-Debatte dürfte der Kurdenkonflikt bei Erdogans Besuch in Brüssel zur Sprache kommen. Bei seiner Abreise aus der Türkei kritisierte Erdogan am Sonntag erneut westliche Hilfe für Kurdenmilizen, um deren Kampf gegen den „Islamischen Staat“ zu unterstützen. Damit werde der Terrorismus unterstützt, sagte Erdogan. Damit meinte er westliche Hilfe für die syrische Kurdenpartei PYD, einen Ableger der PKK. Die Vereinigten Staaten stärken den Kampf der PYD gegen die Dschihadisten zwar mit Luftangriffen.

Doch aus türkischer Sicht wird damit der kurdische Separatismus in Syrien ermuntert. Ankara hat die PYD im Verdacht, im Norden Syriens entlang der Grenze zur Türkei einen eigenen Kurdenstaat gründen zu wollen. Deshalb soll die geplante Pufferzone so angelegt werden, dass zwei kurdische Gebiete voneinander getrennt werden. Recep Tayyip Erdogan wird in Brüssel aller Voraussicht nach deshalb auch den aus türkischer Sicht sehr umsichtigen Umgang Europas mit der PKK anprangern.

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