Die Katastrophe von Moria und die Folgen: Eine ausschließlich deutsche Debatte?
Ganz Deutschland scheint darüber zu streiten, wie den Flüchtlingen von Moria zu helfen ist. Was sagen die anderen? Wie könnte eine europäische Lösung aussehen?
In Deutschland ist die Lage nach der Brandstiftung im griechischen Flüchtlingslager Moria seit Tagen das herausragende Thema der Öffentlichkeit. Fernsehsender bringen Sondersendungen. Kommunen und Bundesländer äußern ihre Bereitschaft, Flüchtlinge von dort aufzunehmen. Der Druck zeigt Wirkung.
Was wird Deutschland vorschlagen?
Die Bundesregierung bewegt sich, will aber falsche Signale vermeiden – auf diese Formel ließ sich am Montag das Bemühen der großen Koalition um eine deutlich ausgeweitete Hilfe Deutschlands für die Flüchtlinge aus Moria bringen. Im europäischen Verbund sollen nun mehr Menschen von der griechischen Insel Lesbos geholt werden, ohne dass die deutsche Politik damit das Signal in die Welt sendet, jeder Flüchtling sei hier willkommen.
Schon vergangene Woche hatte die SPD Druck gemacht: Deutschland müsse helfen. Am Montagmorgen verlangte SPD-Chefin Saskia Esken die Aufnahme von Tausenden von Flüchtlingen. Währenddessen tagte die CDU hinter verschlossenen Türen. Bald wurde deutlich: Auch die Partei von Kanzlerin Angela Merkel ist angesichts des Leids bereit, mehr Flüchtlingen zu helfen.
Die Pläne von Innenminister Horst Seehofer (CSU) hält nicht nur die SPD für ungenügend – auch CDU-Bundestagsabgeordnete und Bürgermeister beider Parteien warben dafür, mehr Gestrandete aus Moria nach Deutschland zu holen. Seehofer hatte am Freitag erklärt, zehn europäische Staaten wollten 400 unbegleitete Minderjährige aus Moria aufnehmen. 100 bis 150 davon sollten nach Deutschland kommen.
Regierungssprecher Steffen Seibert bestätigte, dass die Bundesregierung darüber berät, mehr Flüchtlingen zu helfen. Mit der Aussicht auf eine baldige Entscheidung verband Seibert allerdings die Botschaft, hier solle kein Präzedenzfall für andere Flüchtlinge geschaffen, die nach Deutschland wollten. Nach dem Brand des Lagers sei „eine einmalige Notsituation“ entstanden, sagte er.
Hintergrund von Seiberts Hinweis sind Befürchtungen, wonach eine humanitäre Aktion ohne diese Einschränkung einen „Pull-Effekt“ auslösen könnte, also weitere Flüchtlinge dazu ermutigen könnte, nach Deutschland zu kommen.
Kanzlerin Angela Merkel will nun eine Entscheidung bis zur Kabinettssitzung am Mittwoch. In den CDU-Gremien erklärte sie, ohne die griechische Regierung könne es keinen Fortschritt geben, weshalb sie sich mit Premierminister Kyriakos Mitsotakis in Verbindung setzen wolle. Merkel wolle vorschlagen, ein neues Lager auf Lesbos in europäischer Verantwortung zu errichten, hieß es aus der CDU.
Der Vorteil aus ihrer Sicht: Auch EU-Staaten wie etwa Ungarn, die keine Flüchtlinge aufnehmen, müssten sich dann an der Finanzierung beteiligen. Die Regierungschefs Österreichs und der Niederlande, Kurz und Rutte, die eine europäische Lösung nun bremsen, kritisierte sie in der Sitzung. Zudem will die Kanzlerin der griechischen Seite vorschlagen, bereits anerkannte Flüchtlinge aus dem Land nach Deutschland zu holen, um so die Situation auf Lesbos zu entspannen.
Wie sehen die EU-Partner die Lage?
Schweden und Österreich hatten Angela Merkel 2015 anfangs unterstützt. 2020 nicht mehr. „Schweden ist mit sich selbst beschäftigt“, sagt Lotta Lundberg, Korrespondentin des „Svenska Dagbladet“. 2015 hatte Schweden die meisten Flüchtlinge pro Kopf aufgenommen. Ihre Integration gilt als gescheitert, ebenso die gesamte europäische Flüchtlingspolitik. „Wir schaffen das nicht“, sei die Stimmung. „Unter Druck“ würde sich Schweden wohl an einer europäischen Lösung beteiligen. Wenn die Deutschen, Norweger und Dänen mitmachen, würden die Schweden sich schämen, es nicht zu tun.
In Österreich gehört Moria zu den drei wichtigsten Themen, sagt Ewald König, Leiter des „Berliner Korrespondentenbüros“. Wegen der innenpolitischen Folgen. Aufnehmen oder nicht sei die Streitfrage in der türkis-grünen Koalition unter Kanzler Sebastian Kurz (ÖVP). Die Grünen trauten sich nicht, die Koalitionsfrage zu stellen, weil sie damit die populistische FPÖ wieder ins Spiel bringen. Auch Österreich hat seit 2015, gemessen an seiner Bevölkerung, mehr Flüchtlinge aufgenommen als Deutschland. Kurz profiliere sich mit einer Doppelbotschaft aus Humanität und Härte. Er schickt Zelte mit Heizung und Hygieneeinrichtungen, Ärzte und Sanitäter nach Moria. Und warnt zugleich vor einer Aufnahme aller Flüchtlinge von dort in anderen EU-Staaten. Denn das wäre ein Signal, dass man nur Lager abfackeln müsse, um die Aufnahme zu erzwingen.
Für Frankreich ist Moria ein herausragendes Thema, wird aber nicht so intensiv und emotional diskutiert wie in Deutschland, sagt Pascal Thibaut, Korrespondent von Radio France Internationale. Es gebe keine vergleichbare Bewegung von Kommunen, die aufnehmen möchten. Präsident Emmanuel Macron wolle aber mit Merkel eine „Koalition der Willigen“ organisieren.
In Italien zählt Moria zu den zehn wichtigsten Themen, meint Tonia Mastrobuoni von der Zeitung „Repubblica“, nicht aber zu den ersten drei. Italien sieht sich selbst nicht in der Pflicht, es habe bereits mehr als genug Flüchtlinge aufgenommen. Es begreift sich wie Griechenland als Opfer der fehlenden europäischen Migrationspolitik. Deutsche und französische Anstöße werden als hilfreich betrachtet. Die Bildung einer Koalition der Willigen sei aber keine Dauerlösung.
Dänemark und die Niederlande verfolgen seit Jahren eine restriktivere Migrationspolitik als Deutschland. Moria sei ein wichtiges Auslandsthema, aber „nicht Frontpage“, sagt Uffe Dreesen, Berlin-Korrespondent von „TV 2 Danmark“. Flüchtlinge werden eher als Problem gesehen, weniger als eine Aufgabe, die man lösen müsse. Es gebe keine breite Bewegung, die ihre Aufnahme fordert.
In den Niederlanden sei Abschottung das Ziel der regierenden Konservativen, erläutert Rob Savelberg von der Zeitung „De Telegraaf“. Die grüne Bürgermeisterin von Amsterdam und der aus Marokko stammende Bürgermeister von Rotterdam drängten aber auf Flüchtlingsaufnahme. Der Kompromiss: Die Niederlande sind bereit, 500 Minderjährige und 500 weitere Flüchtlinge aufzunehmen. Unter einer Bedingung: Sie kommen nicht zusätzlich, sondern werden auf das Kontingent angerechnet, zu dem das Land schon vor dem Brand bereit war.
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In Polen kann man über Stunden die Nachrichten verfolgen, ohne ein einziges Wort über Moria zu erfahren. Auch in Tschechien ist die Notlage nur ein Randthema, sagt Pavel Polak von der Tageszeitung „Denik N“. Über den Brand wurde berichtet, nicht aber, was mit den Betroffenen geschehen soll. Die generelle Haltung, auch bei den mitregierenden Sozialdemokraten, sei: Wir nehmen nicht auf.
Was plant die Europäische Union?
Auch eine knappe Woche nach den Bränden auf Lesbos tun sich die EU-Länder weiterhin schwer mit einer abgestimmten Antwort. Als Soforthilfe haben zehn Mitgliedstaaten – darunter Deutschland und Frankreich – bislang zugesagt, insgesamt 400 unbegleitete Kinder aus Moria aufzunehmen.
Darüber hinaus soll nach den Worten des zuständigen Vizepräsidenten der EU-Kommission, Margaritis Schinas, mit der finanziellen Hilfe der Brüsseler Behörde ein neues Asylzentrum auf Lesbos entstehen. Schinas erwartet von den griechischen Behörden, dass sie auf der Insel an Stelle des abgebrannten Lagers ein modernes Zentrum errichten, das zur Durchführung von Asylverfahren taugt. Auch für die Hilfe beim Management des neuen geplanten Asylzentrums hat sich die EU-Kommission bereits angeboten – vorausgesetzt, sie wird von der griechischen Regierung dazu eingeladen.
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Ende September will die EU schließlich ihren Vorschlag für die Reform des europäischen Asylsystems vorlegen. Mit dem Vorschlag soll der seit der Flüchtlingskrise von 2015 schwelende Streit unter den EU-Mitgliedstaaten über die Verteilung der Migranten beigelegt werden. Nach allem, was bislang über das Papier aus Brüssel bekannt ist, wird dabei auch ein System zur Verteilung von Flüchtlingen in der EU eine Rolle spielen. Dabei wird erwartet, dass in dem neuen Vorschlag der Brüsseler Behörde auch auf die Sichtweise osteuropäischer Mitgliedstaaten Rücksicht genommen wird. Länder wie Polen und Ungarn lehnen eine verpflichtende Quote zur Aufnahme von Flüchtlingen ab. Schon seit Jahren wird darüber diskutiert, diese Staaten stärker bei der Finanzierung des Schutzes der EU-Außengrenzen in die Pflicht zu nehmen, wenn sie denn schon keine Flüchtlinge aufnehmen wollen.
Die Überwachung der EU-Außengrenzen, die nach dem Wunsch der Kommission auch personell verstärkt werden soll, dürfte in dem Brüsseler Vorschlag ebenfalls eine wichtige Rolle spielen. So soll es nach den Vorstellungen der EU stärker als in der Vergangenheit möglich sein, Asylverfahren an den Außengrenzen zügig abzuwickeln.
Für viele Pläne der Union ist aber eine Zustimmung der griechischen Regierung Voraussetzung. Unklar ist, auf welche Pläne sie sich einsetzt. In der Vergangenheit hatte sie nach dem Urteil von Experten ganz bewusst den abschreckenden Effekt der inhumanen Zustände in dem Lager auf andere Flüchtlinge in Kauf genommen.
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