Flüchtlingspolitik zwischen Versagen und Pragmatismus: Darum schaut Europa in Moria nur zu
Kompetenzwirrwarr und Uneinigkeit: Die Europäische Union hat nicht entschlossen gegen die Misere auf den griechischen Inseln gekämpft. Eine Analyse.
Europäische Flüchtlingspolitik: Der Begriff steht für ein kollektives Versagen. Oder für den Erfolg des Pragmatismus. Das hängt von der Perspektive ab. Einerseits gibt es bis heute keine gemeinsame Politik der 27 EU-Staaten, wie sie mit Massenmigration, Schutz der Außengrenzen, Flüchtlingsaufnahme, Seenotrettung und Asylverfahren umgehen wollen.
Andererseits hat die EU die Herausforderung mit ihrem Vorgehen reduziert. Die Zahl der Neuankömmlinge ist seit 2015 drastisch gesunken.
Das Fehlen einer gemeinsamen Linie liegt auch am Kompetenzwirrwarr in den Europäischen Verträgen. Weder ist die EU allein zuständig, noch sind es die Nationalstaaten. Hinzu kommen Meinungsverschiedenheiten zwischen den EU-Staaten, welches Signal Europa angesichts des Migrationsdrucks aussenden soll. Wir sind offen für Zuwanderer? Oder: Wir helfen zwar Verfolgten, wollen aber Menschen ohne Asylgründe abschieben, falschen Hoffnungen entgegentreten und einen Abschreckungseffekt erzielen?
Zugleich ist die EU mit ihrem Bemühen, einen Massenandrang wie 2015 zu vermeiden, ziemlich erfolgreich. Die Zahlen der Migranten sind stark zurückgegangen. Und damit auch die Zahl derer, die im Mittelmeer ertrinken. Über die östliche Mittelmeerroute kamen im Oktober 2015 im Schnitt 10.000 Menschen pro Tag, jetzt sind es im Schnitt um die 80. Ein Rückgang um 97 Prozent.
Tiefes Zerwürfnis in der EU zur Flüchtlingsfrage
Dazu haben das Flüchtlingsabkommen mit der Türkei und die Bekämpfung der Schleuser beigetragen. Die Migration über die zentrale Mittelmeerroute ist laut EU-Zahlen gegenüber 2015 um 77 Prozent gesunken. Als Gründe nennt Brüssel die Kooperation mit Italien, Libyen, Niger und weiteren Ländern südlich der Sahara.
[Wenn Sie alle aktuellen Nachrichten live auf Ihr Handy haben wollen, empfehlen wir Ihnen unsere runderneuerte App, die Sie hier für Apple- und Android-Geräte herunterladen können.]
In der öffentlichen Debatte in Deutschland wird diese Entwicklung jedoch nicht der EU als Erfolg angerechnet. Die Uneinigkeit der Mitgliedsstaaten prägt das Bild vom Umgang Europas mit der Migration stärker. Diese Erfahrung sitzt tief. Sie stand am Anfang, als die Massenmigration 2015 zu einem zentralen Thema der deutschen Politik wie der Europapolitik wurde.
Und sie wird von jedem neuen Streitfall wieder wachgerufen und bekräftigt, selbst wenn es dabei nur um kleine Zahlen geht. Zum Beispiel, wenn Seenotretter sich mit 40, 80 oder auch mal über hundert Menschen an Bord einem Hafen in Malta oder Italien nähern und diese wenigen auf eine Handvoll Länder verteilt werden sollen.
Oder wenn einzelne Städte oder Bundesländer wie Berlin und Thüringen in Sonderprogrammen unbegleitete Minderjährige oder Menschen mit speziellen medizinischen Problemen aufnehmen wollen, um griechische Lager zu entlasten. Auch da geht es allenfalls um wenige Hundert Menschen. Eine Überforderung wäre das nicht.
Mit etwas mehr gutem Willen könnte Europa die Herausforderung bewältigen
Und doch wird daraus ein politisches Problem. Denn egal, ob sich eine „Koalition der Willigen“ im Fall der Seenotflüchtlinge oder einzelne Regionen im Fall der Sonderaufnahmeprogramme finden: Ihr Vorgehen macht zugleich klar, dass die Mehrheit der EU-Staaten nicht mitmacht. Die Koalition der Unwilligen ist größer. Zu den Gegnern verbindlicher Verteilungsschlüssel gehören nicht nur Polen, Slowaken, Tschechen und Ungarn, sondern auch westeuropäische EU-Staaten. Damit stellen sich Fragen der Solidarität und der Gerechtigkeit.
Zudem bestärkt die allgemein sichtbare Ablehnung der Mehrheit der EU-Staaten auch die Gegner in den Mitgliedsländern, die bereit wären, zu helfen. Diese Reaktionen auf Sonderwege werden damit ungewollt zum Hindernis für das Bemühen um eine gemeinsame Migrationspolitik aller EU-Staaten, argumentierte Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) bei der Ablehnung der Anträge aus Berlin und Thüringen.
Die nationalen Narrative vom Umgang der EU mit der Migration haben Verletzungen ausgelöst, die bis heute fortwirken. Länder an den Außengrenzen wie Italien und Griechenland klagen, die Partner hätten sie im Stich gelassen. Viele Deutsche fühlen sich übervorteilt, weil sie 2015 bereitwillig aufnahmen, aber dann keine Solidarität bei der Verteilung erfuhren, nicht einmal von Frankreich.
Paris agiert übervorsichtig, damals unter dem Sozialisten Francois Hollande ebenso wie jetzt unter dem Liberalen Emmanuel Macron. Er beteiligt sich an der „Koalition der Willigen“, wenn dabei wenige Flüchtlinge auf Frankreich entfallen. Aber er bietet den Seenotrettern nicht an, einen französischen Hafen anzulaufen. Er will die Probleme, die Malta und Italien haben, keinesfalls nach Frankreich holen.
[Mit dem Newsletter „Twenty/Twenty“ begleiten unsere US-Experten Sie jeden Donnerstag auf dem Weg zur Präsidentschaftswahl. Hier geht es zur kostenlosen Anmeldung: tagesspiegel.de/twentytwenty. ]
Mit etwas mehr gutem Willen könnte Europa die Herausforderung bewältigen, im Zusammenspiel von EU und Nationalstaaten. 2015 gab es das Dublin-Verfahren, nur hielt sich keiner daran. Zuständig ist der erste EU-Staat, den ein Migrant erreicht. Wird er überfordert, kann er Brüssel um Hilfe bitten.
Doch Italien und Griechenland baten nicht um Hilfe. Sie wiesen den Migranten den Weg nach Norden, statt sich zu kümmern. Die wollten doch eh nach Deutschland, hieß es.
So ist es auch heute. Griechenland ist zu stolz, um zu sagen: Wir sind überfordert, mit der Lage in Lagern wie Moria ebenso wie mit der Zahl der Asylanträge; wir bitten um Hilfe. Der Norden blickt geringschätzig auf die Notlage im Süden: Die gehören zur EU, aber schaffen es nicht. Ein gemeinsames europäisches Verantwortungsgefühl wächst so nicht.