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Ohne die Flaggen hätte der Auflauf vom 29. August die Anmutung eines Runs auf Schlussverkaufangebote gehabt, findet unsere Kolumnistin.
© Achille Abboud/NurPhoto/dpa

Mein Sturm, dein Sturm, kein Sturm?: Warum sich Franzosen nicht um Deutschlands Demokratie sorgen

Franzosen denken bei "Sturm" an den glorreichen Sturm auf die Bastille - und würden ansonsten ihren Marcon jederzeit gegen Merkel eintauschen. Eine Kolumne.

Eine Kolumne von Pascale Hugues

Muss man mit Wortkanonen auf hässliche Spatzen schießen, indem man vom „Sturm“ auf den Reichstag spricht, der vor 14 Tagen stattgefunden haben soll?

Für mich ist „Sturm“ in schönes Wort, bei dem ich erst einmal an den Sturm auf die Bastille denke, einem Aufstand der kleinen Leute gegen die absolute Monarchie und einer der Gründungsmomente meines Landes. Ein positiv besetztes Wort, das die Reichsbürger für ihr Gerempel vor dem Sitz des deutschen Parlaments gekapert haben.

Medien und Politik haben das Wort wiederholt, und noch die Wörter „Chaos“ und „Ansehensverlust der Demokratie“ hinterhergeschossen. So viel lexikalische Munition für… ja für was eigentlich? Hundert überdrehte Cargohosenträger, die von einer Heilpraktikerin mit Dreadlocks aus der Eifel angestachelt werden, stürzen zu den Treppen des Reichstags.

Wären da nicht die schwarz-rot-weißen Reichsflaggen gewesen, man hätte meinen können, man befände sich am Eingang einer Shopping-Mall am ersten Morgen des Sommerschlussverkaufs. Vermutlich von ihrer eigenen Courage überrascht, erklommen die Demonstranten johlend die Stufen. Angesichts der drei Polizisten, die selbst mit Schlagstock in der Hand im Vergleich zu einem französischen CSR, der Compagnies Républicaines de Sécurité, eher wie Lämmer anmuteten, gaben die kühnen Aufständigen dann aber doch klein bei und zogen sich wieder zurück.

Natürlich: Beim Gebrüll dieser Mischung aus Reichbürgern und anderen Rechtsextremen, Verschwörungsideologen und Durchgeknallten jeglicher Couleur wird einem übel. Drohungen und Angriffe durch Rechtsextreme auf Politiker nehmen zu, insofern ist die Szene vor dem Reichstag sicherlich nicht auf die leichte Schulter zu nehmen.

Aber kommen wir wieder zur Besinnung und lassen wir die Kirche im Dorf: Dieser Wutbürgermob soll eine Bedrohung für die stabile deutsche Demokratie sein, wie viele Kommentatoren befürchten? Ist es wirklich klug, sofort eine Parallele zum dunkelsten Kapitel der deutschen Geschichte zu ziehen, wie es Claudia Roth, die Vize-Präsidentin des Bundestags getan hat? Im 75. Jahr nach der Befreiung vom nationalsozialistischen Terror seien diese Bilder nicht auszuhalten, so Claudia Roth.

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Dieser Verweis bagatellisiert nicht nur den Nationalsozialismus, sondern ist auch ganz im Sinne der heutigen neonazistischen Scharfmacher. Aber auch ein Graben rund um den Reichstag steht zur Debatte, als wäre er eine mittelalterliche Burg ... und warum nicht gleich eine Zugbrücke?

Für Extremisten kommt die Pandemie mit den Ängsten, die sie auslöst, wie gerufen. Aber können sie wirklich der Demokratie in diesem Land schaden? Die Franzosen werden antworten, dass sich die deutsche Demokratie bewährt habe. Im Gegensatz zu den Deutschen müssen sie in den Großstädten auch draußen eine Maske tragen und zahlen eine saftige Strafe, wenn sie es nicht tun. Sie sehen mit Schrecken auf die Zahl der Infektionen, die erneut auf Rekordhöhe gestiegen ist und singen ein Loblied auf Deutschland und seine Effizienz im Kampf gegen die Pandemie. Nur zu gerne würden sie Emmanuel Macron gegen Angela Merkel eintauschen. Wie viel Macht wir den Reichsbürgern & Co einräumen, wenn wir sie als echte Gefahr für die Demokratie darstellen! Öffnen wir die Augen: In diesem milden Spätsommer thront der Reichstag noch immer ruhig mitten in Berlin, und die Revoluzzer in Cargohosen sind nach Hause gefahren.

Übersetzung aus dem Französischen: Odile Kennel

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