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Bewohner des zerstörten Camps Moria auf Lesbos.
© REUTERS/Alkis Konstantinidis

Migrationsexperte über die EU-Flüchtlingspolitik: „Europa verhält sich in Moria wie Donald Trump an der mexikanischen Grenze“

Die EU braucht jetzt visionäre neue Politiken, sagt Gerald Knaus. Er gilt als Erfinder des Flüchtlingsabkommens mit der Türkei.

Gerald Knaus wurde 1971 in Österreich geboren, studierte in Rom, Bologna und Oxford und arbeitete viele Jahre für NGOs, die UN und an Universitäten. 1999 gründete er die „European Stability Initiative“ (ESI). Die Denkfabrik ist vor allem für Migrationskonzepte bekannt. Knaus berät die Bundesregierung und gilt als Kopf hinter dem Türkei-EU-Deal.

Herr Knaus, Sie beobachten seit Jahren die Lage auf den griechischen Inseln. Wie muss Europa auf die Tragödie von Moria reagieren?
Wir dürfen nicht mehr naiv sein und auf Wunder hoffen. Zuerst brauchen wir eine schnelle Lösung für ein humanitäres Problem. Das Potenzial für weiteres Leiden und Gewalt auf Lesbos ist sehr hoch. Wir wissen, dass es auch von Seiten der lokalen Bevölkerung große Spannungen gibt. Gleichzeitig brauchen wir natürlich auch eine Politik, die über die Kurzzeitreaktion hinausführt. Auch dabei müssen wir realistisch sein, denn eine solche Politik werden nicht alle EU-Staaten mittragen.

Innenminister Horst Seehofer (CSU) ist bereit, 150 minderjährige Flüchtlinge aus Moria aufzunehmen. Ist das genug?
Nein, natürlich nicht. Es ist wichtig, minderjährigen Flüchtlingen zu helfen. Aber die Menschenwürde gilt für alle, auch für Erwachsene. Wir können nicht unser Gewissen beruhigen, indem wir einer kleinen Zahl helfen und die anderen als Geißel für Abschreckungspolitik instrumentalisieren. Das ist nicht nur unmoralisch und illegal, es ist auch unklug. Diese Politik ist in den letzten zwei Tagen gescheitert und wird weiter scheitern. Dabei stehen wir vor einem beherrschbaren Problem: In den vergangenen sechs Monaten sind etwa 600 Menschen auf den griechischen Inseln angekommen. Es geht da nicht um Zehntausende wie noch 2015.

Seehofer pochte bisher auf ein einheitliches Vorgehen der EU in der Flüchtlingspolitik. Sehen Sie dafür eine Chance?
Nein, überhaupt nicht. Es gibt Regierungen in der EU, die offen sagen, dass sie die Situation auf den griechischen Inseln nicht stört. Sie halten das für die richtige Politik und wollen die Menschen auch jetzt auf den Inseln lassen. Doch wie lange soll das so gehen? Es ist offensichtlich, dass sie nicht abgeschoben werden können, da es in diesem Chaos keine fairen Asylverfahren geben kann. Es gibt keinen Grund, sie dort zu lassen, außer der brutalen Abschreckungsbotschaft.

Gerald Knaus, Vorsitzender der ESI in Berlin.
Gerald Knaus, Vorsitzender der ESI in Berlin.
© dpa/Francesco Scarpa/European Stability Initiative

Kann es eine Koalition der Willigen geben, die tausende Geflüchtete aufnimmt?
Eine solche Koalition könnte es geben. Neben Deutschland sind das Länder wie Luxemburg und Finnland, auch die Franzosen wären zu bewegen. In anderen Ländern entbrennen gerade Diskussionen. Eine derartige Koalition wäre auch kein Scheitern Europas. Visionären neuen Politiken sind immer Koalitionen vorausgegangen. Das war bei Schengen so und beim Euro, auch bei den Anfängen mit der Gemeinschaft für Kohle und Stahl. Es ist nicht neu, dass eine Gruppe von Staaten zeigt, dass es möglich ist, ein Problem besser zu lösen und die anderen dann folgen.

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Gegner der Flüchtlingsaufnahme befürchten, dass das zu einem Pull-Effekt, also zu mehr Flüchtlingen führt.
Das hängt von der Umsetzung ab. Zwischen dem Sommer 2016 und September 2017 wurden 20 000 Schutzbedürftige vom griechischen Festland verteilt. Damals gab es keinen Pull-Effekt. Man könnte jetzt der griechischen Regierung anbieten, Menschen in Unterkünften auf dem Festland schnell aufzunehmen, um sofort Platz zu schaffen. Es gibt aber griechische Politiker, die eine Politik der Abschreckung für notwendig halten, da es keine Einigung mit der Türkei mehr gibt. Europa müsste also wieder auf die Türkei zugehen. Die dreieinhalb Millionen Flüchtlinge in der Türkei befinden sich aufgrund der Krise ebenfalls in einer wachsenden Notsituation. Die EU muss signalisieren, dass sie auch für die nächsten Jahre Geld zur Verfügung stellt, wenn die Türkei einer neuen Türkei-EU-Erklärung zustimmt. Das würde auch Griechenlands Regierung beruhigen.

Sie prophezeiten schon im Januar den baldigen Zusammenbruch auf Lesbos.
In den vergangenen sechs Monaten wurde jedes Grundrecht der Flüchtlings- und Menschenrechtskonvention gebrochen. An Landes- und Meeresgrenzen kommt es zu illegalen Push-Backs, auch auf dem Balkan. Derzeit verhält sich Europa so, wie Donald Trump sich das an der amerikanisch-mexikanischen Grenze vorstellen würde. Das ist eine moralische Niederlage.

Was steht beim Thema Flüchtlingspolitik für die EU auf dem Spiel?
Wenn Konventionen, Gesetze und Standards nicht gelten, ist das nicht nur ein Problem der Betroffenen, sondern auch für den Rechtsstaat und die Glaubwürdigkeit der EU. Wenn an den Grenzen Grundrechte einfach ausgesetzt werden, was schützt uns dann davor, dass das auch mit anderen Grundrechten geschieht?

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