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Patriotischer Park in Moskau: Mit nachgebautem Kriegsmaterial hält der Kreml die Erinnerung an den Großen Vaterländischen Krieg wach,
© dpa/Ulf Mauder

80. Jahrestag des deutschen Angriffs auf die Sowjetunion: Ein neuer Blick auf die Kriegsopfer

Wandel in den Geschichtsbildern: Wie die Proteste in Belarus und Putins Verhalten in der Ukraine das Bild der Deutschen vom Zweiten Weltkrieg verändern.

Da verschiebt sich etwas in den Geschichtsbildern, die die Deutschen und ihre europäischen Nachbarn mit sich herumtragen.

Zum 80. Jahrestag des deutschen Angriffs auf die Sowjetunion taucht plötzlich Belarus auf in den deutschen Abendnachrichten: als die Nation, die die relativ meisten Opfer im Zweiten Weltkrieg zu beklagen hatte, bezogen auf die damalige Einwohnerzahl.

Zwischen 1,6 und zwei Millionen Belarusen starben im deutschen Vernichtungskrieg und im sowjetischen Gegenangriff in den Jahren 1941 bis 1945 – ein Drittel der damaligen Bevölkerung.

Die gleichen Nachrichten vermelden Kritik an Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, weil er seine Rede zum Jahrestag im deutsch-russischen Museum Karlshorst hielt; Anlass war die Eröffnung einer Ausstellung dort am vergangenen Freitag zum verbrecherischen Umgang der Nazis mit sowjetischen Kriegsgefangenen.

Ungewohnte Kritik am Bundespräsidenten

Die Ortswahl sei ein Missgriff, hieß es. Das wirke so, als akzeptiere Steinmeier den Anspruch Russlands, als einziger legitimer Erbe der Sowjetunion aufzutreten und alle sowjetischen Opfer mittelbar als russische Opfer zu definieren. Der Botschafter der Ukraine, Andrij Melnyk, sprach gar von einem „Affront“.

Zudem: Warum heißt das ehemalige Kapitulationsmuseums heute überhaupt deutsch-russisches Museum? In der Villa in Berlin-Karlshorst hatte die deutsche Wehrmachtsführung in der Nacht vom 8. auf den 9. Mai 1945 die bedingungslose Kapitulation unterzeichnet, nun gegenüber der Roten Armee so wie bereits am 7. Mai in Reims gegenüber den Westalliierten. Die sowjetische Armee, die Berlin eroberte, war doch keine russische Armee.

Beides ist neu. Belarus, bisher Terra Incognita im deutschen Bild vom Krieg, tritt als eigenständige Opfernation auf die Bühne des Gedenkens an den Weltkrieg – so wie das die Ukraine und die drei baltischen Republiken seit Jahren selbstbewusst für sich beanspruchen. Und der Bundespräsident, zumeist eine Konsensfigur im Umgang der Deutschen mit ihrer Geschichte, steht unter Verdacht, zu viel Verständnis für das vom Kreml verordnete Geschichtsbild zu zeigen.

Wie wandeln sich Geschichtsbilder mit der Zeit?

Was ist dran an den Vorwürfen, das Bild vom Angriff auf die Sowjetunion 1941 sei zu Russland-orientiert? Hat sich da etwas geändert seit dem 50. Jahrestag 1991, dem 70. Jahrestag 2011 oder dem 75. Jahrestag 2016? Und wenn ja, warum hat es sich geändert? Genereller: Was beeinflusst unsere Bilder von Geschichte?

Die Lust auf Moskau-Reisen ist ihm vergangen: Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und der russische Präsident Wladimir Putin bei einem Arbeitsbesuch 2017 im Kreml.
Die Lust auf Moskau-Reisen ist ihm vergangen: Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und der russische Präsident Wladimir Putin bei einem Arbeitsbesuch 2017 im Kreml.
© dpa

Der Wandel von Geschichtsbildern beginnt mit der Wahrnehmung. Was man nicht sieht, kommt nicht vor. Doch Fakten, die den Menschen vorher nicht bewusst waren reichen alleine nicht. Das zuvor Unbekannte muss auf offene Ohren und Herzen treffen, um Breitenwirkung zu entfalten. Das geschieht, wenn das Gedenken mit emotional aufwühlenden aktuellen Ereignissen zusammenfällt.

Seit Monaten verfolgt die Welt die Proteste der belarusischen Opposition gegen Wahlfälscher Aleksandr Lukaschenko. Besonders aufwühlend war die erzwungene Landung eines Passagierflugzeugs auf dem Weg von Griechenland nach Litauen in Belarus, um den Blogger Roman Protassewitsch gefangen zu nehmen. Das ist der Hauptgrund, warum Belarus in deutschen Nachrichten zum Jahrestag des Angriffs auf die Sowjetunion jetzt als eigenständiges Opfer auftaucht.

Verlagerung der Opferrolle von der Sowjetunion auf Belarus

Auf die Frage „Wer hatte die meisten Opfer im Zweiten Weltkrieg zu beklagen?“ gab es früher über Jahrzehnte nur eine Antwort: die Sowjetunion. 27 Millionen ihrer Bürgerinnen und Bürger kamen ums Leben, etwa die Hälfte davon Zivilisten. Das deutsche Bild vom Krieg im Osten war Russland-zentriert.

Belarus gab es in diesen Jahrzehnten weder im Sprachgebrauch noch in der historischen Wahrnehmung. Das Volk, das man früher die Weißrussen nannte, galt als Unterstamm der großen russischen Nation. Das hat sich nun geändert.

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Auch andere Völker östlich von Deutschland waren erstaunlich lange im Wahrnehmungsdunkel geblieben. Zunächst wegen der Ost-West-Spaltung Europas im Kalten Krieg, die persönliche Kontakte verhinderte und damit auch das Anteilnehmen an Familienschicksalen. Doch als die Mauer 1989 fiel und die Sowjetunion sich 1991 auflöste, rückten die Geschichte der Polen, Tschechen, Litauer, Letten, Esten, Ukrainer sowie ihre oft prekäre Lage zwischen den beiden übermächtigen Nachbarn Deutschland und Russland allmählich ins Bewusstsein. Und wuchs die Sympathie für ihre Selbstbestimmung.

Mit EU-Partnern spricht man auch über Familienschicksale

Polen, Tschechen und Balten half, dass sie seit 2004 EU-Mitglieder sind und ihre Vertreter im Europäischen Parlament, der EU-Kommission und den EU-Behörden sitzen. Da spricht man irgendwann auch darüber, wie es den Großeltern, Eltern und weiteren Angehörigen im Krieg ergangen ist. Wer unter deutscher – oder sowjetischer - Besatzung umkam.

Die Ukraine taucht als Subjekt der Geschichte erst seit wenigen Jahren auf. Es begann mit den Protestwellen der orangen Revolution. Schließlich annektierte Wladimir Putin 2014 die Krim und überzog die Ostukraine mit Krieg, um zu verhindern, dass sich die Ukraine wie zuvor die Ex-Sowjetrepubliken Estland, Lettland und Litauen an EU und Nato annähert.

Ukraine: Der Abschuss eines Passagierjets ändert die Wahrnehmung

Auch im Ukrainekonflikt haben aufwühlende Einschnitte die Wahrnehmung von Gegenwart wie Geschichte stärker beeinflusst als nüchterne Fakten. Der Abschuss eines malayischen Passagierflugzeuge über der Ostukraine war der emotionale Wendepunkt im Ukrainekrieg. Die Bilder von Machokämpfern am Abschussort, die mit Patronengurten über der Brust und Zigarette im Mundwinkel respektlos über Leichenteile und Kinderspielzeug trampelten, hat die Stimmung kräftiger gegen Russland gewendet als die weit größere Gesamtzahl von Kriegstoten zuvor und die erste gewaltsame Grenzänderung in Mitteleuropa seit 1945.

In der Folge wuchs dann die Bereitschaft, das Schicksal der Ukraine im Weltkrieg nicht mehr nur als Anhängsel der russischen Geschichte zu sehen. Seit einigen Jahren weigert sich die Ukraine, die Jahrestage des Kriegsendes und des deutschen Angriffs auf die Sowjetunion gemeinsam mit Vertretern Russlands zu begehen. Die Ukraine beansprucht ihren, von Moskau unabhängigen Platz im Erinnern. Dazu gehört auch das Massensterben der ukrainischen Bauern im „Holodomor“ als Folge der sowjetischen Kollektivierungspolitik.

Der Geschichtsstreit stellt Deutschland vor Probleme

Die neue Eigenständigkeit im Gedenken stellt die Repräsentanten der Deutschen vor schwierige Fragen. Das Dritte Reich hat damals die Sowjetunion angegriffen und einen Vernichtungskrieg geführt. Es hat nach der Devise „Teile und herrsche“ Kollaborateure in den besetzten Ländern gesucht. Der ukrainische oder lettische SS-Mann ist ein allgemein bekannter Topos, der von der russischen Geschichtspropaganda regelmäßig abgerufen wird. Ebenso die Behauptung, viele Polen hätten beim Holocaust bereitwillig mitgeholfen.

Mit Polen ist gemeinsames Gedenken möglich: Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und Polens Präsident Andrzej Duda am 80. Jahrestag des Beginns des Zweiten Weltkriegs in Wielun.
Mit Polen ist gemeinsames Gedenken möglich: Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und Polens Präsident Andrzej Duda am 80. Jahrestag des Beginns des Zweiten Weltkriegs in Wielun.
© dpa

Putin missbraucht solche Topoi in den aktuellen politischen Auseinandersetzungen. Nach der „orangen Revolution“, die Putins Handlanger in Kiew stürzte, diskreditierte er die neue demokratische Regierung als Horde von Faschisten und Antisemiten.

Etablierte Geschichtsbilder beeinflussen die Wahrnehmung der Gegenwart. Und die Gegenwart nimmt Einfluss auf den Wandel der Geschichtsbilder.

Zur Schuld bekennen, ohne mit Putin zu kollaborieren

Für Deutschland jedoch bleibt unverändert: Es hat den Krieg begonnen und darf seiner Verantwortung für die vielen Millionen Opfer nicht ausweichen.

Andererseits kann es seine Augen auch nicht davor verschließen, wie Russland heute mit seinen Nachbarn umgeht. Und wie es manipulative Geschichtsbilder in seinen heutigen Machtkämpfen einsetzt.

Wladimir Putin möchte nur die ihm genehmen Rollen der Sowjetunion hervorheben: Hitlers Opfer 1941, Sieger und Befreier 1945. Von einer Mittäterschaft zu Kriegsbeginn, vom Hitler-Stalin-Pakt, vom gemeinsamen Überfall auf Polen im September 1939 und der Aufteilung der Beute, von den Verbrechen an Ukrainern, Belarusen, Balten will er nichts wissen.

Bei dieser Inszenierung durfte der Bundespräsident nicht mitmachen. Also reiste er nicht nach Moskau. Die Rede in Karlshorst war sein Versuch, die deutsche Verantwortung hervorzuheben, ohne Putin die Bühne zu bieten, um Russlands Opferrolle zu zelebrieren.

Das deutsch-russische Museum spiegelt die Lage bei Vertragsschluss

Das Museum ist im Übrigen nicht so rückwärtsgewandt, wie die Kritiker behaupten. Gewiss, man kann streiten, ob der Name „deutsch-russisch“ noch zeitgemäß ist. Im Trägerverein sind auch Belarus und die Ukraine vertreten. Das Sagen haben freilich russische Ministerien. Das spiegelt die Verhältnisse zum Zeitpunkt des Vertrags: Auch das lässt sich im Zug der Veränderung der Geschichtsbilder ändern.

Das Entscheidende in diesem Wechselspiel zwischen Deutschland, Russland und den zwischen ihnen wohnenden Völkern muss sich in Moskau ändern: die Auseinandersetzung mit dem eigenen Tun. Putin ist daran nicht interessiert. Die Gleichsetzung der sowjetischen Opfer mit russischen Opfern und das Abstreiten eigener Untaten dient seinen Interessen.

Wie robust er diese Darstellungen durchzusetzen vermag, haben Polen, Israel und Deutschland beim 75. Jahrestag der Befreiung des KZ’s Auschwitz durch die Rote Armee und beim 80. Jahrestag des Kriegsbeginns 2019 erfahren. Nicht Stalin habe beim Beginn des Weltkrieg im Einvernehmen mit Hitler gehandelt, behauptete Putin, sondern Polen trage die Verantwortung, weil es einen Nichtangriffspaket mit Berlin geschlossen habe, der Stalin keine andere Wahl gelassen habe, als selbst mit Hitler zu paktieren.

Hitler und Stalin vernichteten die polnische Führungsschicht gemeinsam

Das sowjetische Vorgehen in Polen war kaum weniger brutal als das deutsche. Die Nazis ließen die polnische Intelligenz verhaften, um dem polnischen Volk seine Eliten zu nehmen. Die Sowjets ermordeten im Wald bei Katyn das polnische Offizierskorps und die Polizeiführung. Auch in der Ukraine, in Weißrussland, im Baltikum gibt es kaum Familien, die nicht Angehörige unter deutscher oder sowjetischer Herrschaft verloren haben.

Das Wissen um die Verbrechen der Führung in Moskau damals wie heute darf für Deutsche kein Grund sein, der Verantwortung für die eigenen Verbrechen auszuweichen. Die Rücksicht auf die Leidensgeschichte der Völker, die zwischen Deutschland und Russland leben, verbietet es aber zugleich, bei Putins Inszenierung mitzumachen.

So zeigen das neue Interesse für die Kriegsopfer in Belarus und die Kritik an Steinmeiers Auftritt im deutsch-russischen Museum vor allem eines: den Widerspruch zwischen Putins Geschichtspropaganda und der aktuellen Realität in Europa. Der Wandel der Geschichtsbilder hat wiederum Einfluss auf die aktuelle Politik. Die Empathie mit Belarus und die Abneigung gegen Putins Umgang mit Belarus wachsen.

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