Lukaschenko bei Putin: Moskaus Ziel ist die Vereinigung mit Belarus
Die Strategie der EU ist hochriskant: Schärfere Sanktionen treiben Lukaschenko in Putins Arme. Sie muss den direkten Konflikt mit Moskau wagen. Ein Kommentar.
In diesen Tagen und Wochen wird die politische Karte des östlichen Mitteleuropas neu gezeichnet. Die EU und Russland ringen um die Zukunft von Belarus: Freiheit in Souveränität oder Rückkehr ins Imperium unter Aufgabe der Selbstbestimmung und am Ende auch der Eigenstaatlichkeit.
Die Solidarität Europas mit der unterdrückten Opposition dort ist einerseits zwingend, zumal nach der Kaperung eines Ziviljets durch Diktator Alexander Lukaschenko, um den Blogger Roman Protassewitsch zu verhaften. Andererseits hat die EU begrenzte Optionen und mehr Druck ist riskant, weil er Lukaschenko, sofern er nicht nachgibt, vollends in Putins Arme treibt – um den Preis, dass Belarus seine Existenz als unabhängiger Staat aufgibt.
Am Freitag bot die EU ein Hilfsprogramm von drei Milliarden Euro an unter der Bedingung, dass Belarus sich demokratisiert. Mit den Hilfen und Darlehen "für ein demokratisches Belarus" sollen Unternehmen, Verkehrsprojekte, die Digitalisierung, klimafreundliche Energievorhaben und demokratische Reformen gefördert werden.
Lukaschenko reiste am Freitag zur Audienz bei Putin. Er ist wirtschaftlich in hohem Maß von Russland abhängig und reist als Bittsteller an. Moskau verfolgt seit langem das Ziel, eine eurasische Wirtschaftsunion als Gegengewicht zur EU aufzubauen. Ihr Kern soll die politische Union mit Belarus und der Ukraine sein. Die Bürger der Ukraine entschieden sich anders, doch mit der Annexion der Krim und dem Krieg in der Ostukraine hat Putin ihre Annäherung an die EU verhindert.
Ein breiter Kampf vom Luftraum bis zur Eishockey-WM
Auch im Ringen um Belarus, wo Lukaschenko im August 2020 die Wahl manipulierte, handelt Wladimir Putin schneller als die EU, hat die Eskalationsdominanz und treibt das Geschehen voran. Die EU reagiert vornehmlich, statt zu agieren. Sie muss sich intern abstimmen, das macht sie schwerfällig und langsam.
Der Kampf um Belarus wird auf vielen Feldern gleichzeitig ausgetragen, von Sanktionen über die Öffnung oder Sperrung des nationalen Luftraums für Passagierjets und Landerechte in der EU und in Moskau bis zur Beflaggung bei der Eishockey-WM samt der Ausweisung von Diplomaten. Die Felder der Konfrontation sind so vielfältig, dass die breite Öffentlichkeit kaum noch mitkommt. Wer in Deutschland weiß, zum Beispiel, dass Belarus alle lettischen Diplomaten ausgewiesen hat?
Das kam so: Die lettische Hauptstadt Riga hat als Gastgeber der Eishockey-WM die offizielle rot-grüne Flagge von Belarus durch die weiß-rot-weiße Fahne der Opposition ersetzt. Daraufhin verbannte Lukaschenko alle lettischen Diplomaten – eine in der Härte ungewöhnliche Reaktion, die man sonst nur aus Kriegszeiten kennt. Auch viele polnische und litauische Diplomaten mussten Belarus in den vergangenen Wochen verlassen. Ihre Länder sind Hauptzufluchtsorte der Opposition.
Moskau verweigert Air France und Austrian die Landung
Mehrere Passagierflugzeuge waren in den letzten Tagen gezwungen, mitten in der Luft umkehren. Zunächst hatte die EU der belarusischen Linie Belavia zu Wochenbeginn die Landerechte entzogen als Reaktion auf die von einem Kampfjet erzwungene Landung des Ryanair-Flugs von Athen nach Vilnius in Minsk, in dem Protassewitsch saß. Mindestens eine Belavia-Maschine versuchte seither in den Luftraum über dem Nachbarland Polen zu fliegen, musste aber umkehren.
Zugleich forderte die EU westliche Airlines auf, den Luftraum über Belarus zu meiden. Daraufhin verlangte Russland umgekehrt von einzelnen westlichen Airlines, sie müssten über Belarus fliegen, wenn sie eine Landeerlaubnis in Russland haben wollten. Air France und Austrian konnten ihre Moskau-Passagiere nicht ans Ziel bringen. Nun sagt der Kreml, die Auflage bestehe nicht mehr.
Putin hindert die EU, Belarus von Russland zu trennen
Wladimir Putin unterläuft so die Strategie der EU. Sie möchte den Konflikt mit Belarus getrennt von Russland behandeln und ihre Sanktionen allein gegen Lukaschenko richten. Der Frage, ob die Zwangslandung des Ryanair-Flugs zur Verhaftung Protassewitschs eine verdeckte Aktion des russischen Geheimdienstes war, ist sie bisher ausgewichen; denn dann wäre sie gezwungen, Sanktionen gegen Russland zu verhängen. Putin tritt nun offen als Verbündeter Lukaschenkos auf, der Sanktionen der EU gegen Belarus mit Sanktionen Russlands gegen EU-Staaten beantwortet.
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Nach der gefälschten Wahl und dem brutalen Vorgehen gegen die Demokratiebewegung hatte sich die EU zunächst für personenbezogene Strafen gegen Lukaschenko und gegen Funktionäre entschieden, die an der Unterdrückung beteiligt sind. Sie dürfen nicht in die EU reisen, ihre Vermögen dort werden eingefroren.
Sanktionen, die die Wirtschaft, den Handel und die belarusischen Deviseneinnahmen treffen, vermied die EU mit dem Argument, dass sie der ganzen Bevölkerung schaden. Verschwiegen wurde der andere Grund: Es täte auch Unternehmen in EU-Staaten weh, wenn Belarus Kali, Potassium, Phosphat und Raffinerieprodukte nicht mehr liefern darf und Aufträge im Energiesektor storniert.
Erst jetzt ist die EU zu breiten Handelssanktionen bereit
Zu dieser Verschärfung ist die EU nun bereit. Die Verbannung der Fluglinie Belavia trifft die Bevölkerung. Da die Landgrenzen bereits geschlossen sind, waren Flüge die letzte Option, in den Westen zu reisen. Hinzu kommen nun breite Wirtschaftssanktionen. Außenminister Heiko Maas sagte in der Beratung mit EU-Kollegen, er erwarte eine „lange Sanktionsspirale“, wenn Lukaschenko nicht nachgebe und die 400 politischen Gefangenen entlasse.
Jede weitere Sanktion, das weiß die EU, erhöht Lukaschenkos Abhängigkeit von Putin. Litauens Außenminister Gabrielius Landsbergis warnt, die Eskalation könne zur russischen Einverleibung von Belarus führen.
Bei der Protesten der Opposition sind – anders als in der Ukraine – kaum EU-Flaggen zu sehen. Dies ist keine Absetzbewegung einer ganzen Nation nach Westen. Die Belarusen sind weder dezidiert pro-Russland noch pro-EU. Sie wollen den Diktator, der das Land seit Juli 1994, also annähernd 27 Jahren, regiert, loswerden.
Ein neuer Eiserner Vorhang
Ihre Tragik besteht darin, dass ihr Herrscher sie womöglich eher Putins Imperialismus ausliefert und als Provinz-Gouverneur weitermacht, als seine Macht in Minsk aufzugeben.
Das würde die Karte Europas dramatisch verändern. Ein neuer Eiserner Vorhang würde an der Ostgrenze von Nato und EU niedergehen. Russische Truppen würden direkt an den Grenzen aller drei baltischen Staaten und Polens stehen. Die Ukraine würde zu einer prekären Existenz, auf drei Seiten von Russland eingeschlossen. Höchste Zeit also, dass die EU Mittel findet, Putin wirksam entgegenzutreten.