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Das zerstörte Berlin bei Kriegsende 1945.
© picture alliance / dpa

Jahrestag des Kriegsendes: Kann Erinnern spalten, statt zu versöhnen?

Vielen fehlt die Bereitschaft, die eigene Schuld zu bekennen. Oft löst das Erinnern neue Konfrontation aus. Das muss nicht so bleiben. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Christoph von Marschall

Das Geheimnis der Versöhnung heißt Erinnerung. Kaum ein Satz wird öfter zitiert im Gedenken an das Kriegsende. Doch in den jüngsten Jahren schien das Gegenteil richtig zu sein: Je öfter die Völker Europas sich an den 8. und 9. Mai 1945 und die Lehren daraus erinnern, desto spaltender wirkt das.

Dies zeigt sich mitten in Berlin. Ukrainer, Russen und Polen, deren Vorfahren die Stadt gemeinsam von der Nazidiktatur befreit haben, wollen partout nicht mehr miteinander gedenken. Die Russen tun es am Ehrenmal für die Rote Armee in Treptow, die Ukrainer im Tiergarten. Polen haben nun ihre Gedenkstätte in Charlottenburg.

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Kann Erinnern spalten, statt zu versöhnen? Das Risiko zeigen auch die Debatten, ob es ein Mahnmal für die polnischen Opfer der NS-Zeit in Berlin geben soll oder ein gesamteuropäisches für alle Kriegsopfer oder eines für die vergessenen Opfer des Vernichtungskriegs im Osten, der in seiner Brutalität und Menschenverachtung die Gräuel im Westen, Süden und Norden weit übertraf.

Warum will sich kein gemeinsames Geschichtsbild formen? Zugespitzter: Kann es überhaupt ein einheitliches Gedenken geben, das den verschiedenen Erfahrungen gerecht wird? Und wenn nicht, was heißt das für die Integration Europas, deren Triebfeder doch die gemeinsamen Lehren aus der Geschichte sein sollen?

Geschichtsbilder wandeln sich mit dem Lauf der Zeit, nur eben nicht überall gleichzeitig und in der gleichen Richtung. Seit Richard von Weizsäckers Rede zum 40. Jahrestag des Kriegsendes 1985 hat sich im Westen Europas vieles in Richtung Versöhnung bewegt. Im Osten nicht.

1985 galt: Die Deutschen bleiben unter sich

Dort wirkten im Kommunismus die von oben verordneten Geschichtsbilder. Sie sind erst mit dem Ende der Diktatur und der Mauer, die Europa widernatürlich geteilt hatte, zerborsten. Nun erst waren die Menschen frei, ihre jeweilige nationale Perspektive zu suchen. Damit leben aber auch unterdrückte Konflikte um Grenzen und Unrecht wieder auf.

Weizsäckers Ziel 1985 war, den Deutschen einen Weg aus dem vermeintlichen Widerspruch zu weisen, ob das Kriegsende primär eine bedingungslose Niederlage oder eine Befreiung war. Es war beides zugleich.

Er zitierte die jüdische Weisheit noch korrekt: „Das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung.“ Ohne Eingeständnis der deutschen Verbrechen keine Aussöhnung mit dem jüdischen Volk und den Nachbarn.

Zu Freunden geworden: Israels Präsident Reuven Rivlin und Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier diskutieren am Holocaust-Tag mit Schülern des Jüdischen Gymnasiums Moses Mendelssohn.
Zu Freunden geworden: Israels Präsident Reuven Rivlin und Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier diskutieren am Holocaust-Tag mit Schülern des Jüdischen Gymnasiums Moses Mendelssohn.
© dpa

Weizsäcker befand noch, die Deutschen müssten an diesem Tag unter sich bleiben. Gemeinsames Erinnern mit den Opfern war kaum vorstellbar.

Heute ist das anders. Joachim Gauck gedachte am 70. Jahrestag 2015 mit internationalen Gästen. Frank-Walter Steinmeier plante das für den 75. Jahrestag 2020 ebenfalls. Dies scheiterte an Corona, nicht am Unwillen der Opfer, an der Seite schuldbeladener Deutscher zu stehen.

Den Jahrestag des Kriegsbeginns darf ein Bundespräsident längst mit Polen in Polen begehen – und am Holocaust-Tag gemeinsam mit Israels Staatsoberhaupt an die Millionen ermordeter Juden erinnern. Da ist, trotz der Monstrosität der Verbrechen, aus Erinnerung Erlösung und Versöhnung gewachsen.

Das Gedenken an den Kriegsbeginn am 1. September mit Polen in Polen ist längst zur Regel geworden: die Präsidenten Andrzej Duda und Frank-Walter Steinmeier.
Das Gedenken an den Kriegsbeginn am 1. September mit Polen in Polen ist längst zur Regel geworden: die Präsidenten Andrzej Duda und Frank-Walter Steinmeier.
© Bernd von Jutrczenka/dpa

Weiter östlich ist das anders. Oft löst das Erinnern neue Konfrontation statt Versöhnung aus. Vielen fehlt die Bereitschaft, das Geschehene mit den Augen der Opfer zu sehen und eigene Schuld zu bekennen. Russlands Führung leugnet die Doppelrolle der Sowjetunion. Stalin war zu Kriegsbeginn Hitlers Komplize. Und ein Befreier auch später gewiss nicht für alle.

Wladimir Putin zieht nicht die gleichen Lehren aus den Erfahrungen der Diktatur wie die Nachbarn weiter westlich. Er unterdrückt die Opposition und führt Krieg gegen die Ukraine.

Nachkommen der Täter haben meist eine andere Sicht als Nachkommen der Opfer. Ein einheitliches Geschichtsbild aller Europäer wird es wohl nie geben. Dafür sind die Erfahrungen zu vielfältig.

Verständnis wächst aber bereits, wenn Menschen mit Neugier statt Abwehr auf die abweichenden Geschichtsbilder der anderen reagieren. Die Vielfalt des Erinnerns ist ein Erfahrungsschatz, der Europa auf dem Weg in die Zukunft helfen kann.

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