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Bei einem Luftangriff zerstörtes Lager für Migranten nahe Tripolis
© REUTERS/Ismail Zitouny

Gefahr eines Stellvertreterkriegs: Drohen Libyen syrische Verhältnisse?

Libyen versinkt in Chaos und Gewalt, ausländische Mächte mischen mit. Mittendrin leben Tausende Flüchtlinge. Doch die Parallelen zu Syrien haben auch Grenzen.

Acht Jahre nach dem Sturz des Diktators Muammar Gaddafi im Herbst 2011 könnte Libyen zu einem zweiten Syrien werden: ein Bürgerkriegsland, in dem sich lokale Machthaber und Milizen mit Unterstützung rivalisierender ausländischer Kräfte bekämpfen. Libyen ist – wie Syrien – zum Ausgangspunkt eines Flüchtlingsansturms nach Europa und zur Basis islamistischer Extremisten geworden. Und wie in Syrien ist die Staatengemeinschaft offenbar nicht willens oder in der Lage, den Krieg zu beenden.

Warum wird in Libyen gekämpft?

Das Ende der mehr als 40-jährigen Herrschaft Gaddafis hinterließ ein Machtvakuum, das zunächst von einer Übergangsregierung in der Hauptstadt Tripolis gefüllt wurde. Doch eine stabile Ordnung gab es nicht. Der Westen, der Gaddafis Gegner mit Luftangriffen unterstützt hatte, überließ Libyen sich selbst.

Alte Gegensätze – zum Beispiel zwischen islamistischen Gruppen und Mitgliedern des Gaddafi-Regimes – sowie lokale Interessen von Politikern, Clans und Volksgruppen wie den Tuareg führten zu Spannungen. Milizen bewaffneten sich, indem sie Waffenlager plünderten.

Im Jahr 2014 spaltete sich die Regierung in eine Führung im westlibyschen Tripolis und eine Gegenregierung im Osten des Landes. Nach einer Zeit relativer Ruhe – in der die libysche Zentralbank weiter Gehälter auf beiden Seiten zahlte – brach der Krieg vor Kurzem wieder aus.

Die selbsternannte Nationale Libysche Armee (LNA) unter General Chalifa Haftar brachte weite Teile im Süden des Landes und damit wichtige Ölquellen unter ihre Kontrolle. Im April begann sie mit einem Großangriff auf die Hauptstadt Tripolis.

Damit wurde der Plan der UN konterkariert, den Konflikt mit Hilfe einer Friedenskonferenz einzudämmen. Die LNA will die Regierung der Nationalen Einheit (GNA), die von den Vereinten Nationen als legitime Führung des Landes anerkannt wird, stürzen und die Macht im ganzen Land übernehmen. Der Vormarsch der LNA ist jedoch in den Vororten von Tripolis steckengeblieben.

General Haftar will ganz Libyen unter seine Kontrolle bringen und hat seinen Truppen befohlen, die Hauptstadt Tripolis zu erobern.
General Haftar will ganz Libyen unter seine Kontrolle bringen und hat seinen Truppen befohlen, die Hauptstadt Tripolis zu erobern.
© Abdullah Doma/AFP

Wer sind die libyschen Kontrahenten?

Chalifa Haftar, ein 75-jähriger Ex-General der Armee Gaddafis, ist der starke Mann bei der Nationalen Libyschen Armee. Er wirft seinem Gegenspieler, Ministerpräsident Fayiz as-Sarradsch (59) von der Nationalen Einheitsregierung vor, sich von Islamisten stützen zu lassen. Beide Seiten kämpfen mit der Hilfe von Verbündeten, auf deren Loyalität sie sich nicht unbedingt verlassen können.

Bei der offiziellen Führung ist das besonders deutlich zu sehen. Die Regierung in Tripolis hat keine eigenen Streitkräfte, sondern ist auf den militärischen Beistand verschiedener Milizen angewiesen, die im Gegenzug eine Menge Geld vom Staat verlangen. Haftar argumentiert, einige dieser Milizen seien radikal-islamistische Gruppen, gegen die vorgegangen werden müsse.

Auch andernorts haben die Kämpfer lokaler Clans oder Milizen das Sagen, was weitreichende Folgen haben kann. So erließen die UN im vergangenen Jahr Sanktionen gegen einen ehemaligen Milizenführer wegen Menschenschmuggels – der Mann war ebenfalls Chef einer Einheit der libyschen Küstenwache, die im Auftrag und mit dem Geld der EU versuchen sollte, Flüchtlinge an der Überfahrt nach Europa zu hindern.

Weitet sich der Konflikt zu einem Stellvertreterkrieg aus?

Ausländische Akteure spielen im libyschen Krieg eine wichtige Rolle. Rivalisierende Nahost-Mächte konkurrieren in dem nordafrikanischen Land. So erhält Haftar Unterstützung von Ägypten, SaudiArabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten, während dessen Gegner Sarradsch auf die Hilfe der Türkei und Katars zählen kann.

Beide Seiten erhalten Waffen von ihren jeweiligen Partnern im Ausland – das UN-Waffenembargo für Libyen wird von allen Beteiligten ignoriert. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan bestätigte kürzlich offiziell Waffenlieferungen seines Landes an Milizen, die für die Regierung in Tripolis kämpfen. Nach einem Rückzug von Haftars Truppen aus einer Stadt nahe Tripolis wurden im Juni amerikanische Panzerabwehrraketen gefunden, die über Frankreich nach Libyen kamen.

Denn auch die Europäer mischen in dem Konflikt mit. Frankreich unterstützt Haftar, während Italien für die von den UN anerkannte Regierung Partei ergreift. Die beiden EU-Länder werfen sich gegenseitig vor, dem Frieden in Libyen im Wege zu stehen.

Feuer frei. Milizen verteidigen die Hauptstadt Tripolis gegen angreifende Einheiten von Warlord Haftar.
Feuer frei. Milizen verteidigen die Hauptstadt Tripolis gegen angreifende Einheiten von Warlord Haftar.
© Mahmud Turkia/AFP

Drohen syrische Verhältnisse?

Wie Syrien ist auch Libyen zu einem Konfliktherd geworden, der eine ganze Region destabilisiert, ausländische Akteure und islamistische Extremisten anzieht und Menschen massenhaft zu Flüchtlingen macht. In beiden Ländern wurden seit Langem herrschende Regime zum Ziel von Aufständen des Arabischen Frühlings 2011. In Libyen stürzte Herrscher Gaddafi, während in Syrien Baschar al Assad seine Macht verteidigen konnte.

Ohnehin sind die Zustände in den beiden Bürgerkriegsländern nicht in allen Belangen vergleichbar. In Libyen gibt es keinen amtierenden Diktator wie in Syrien, zudem fehlen dem überwiegend sunnitisch-muslimischen Land die scharfen konfessionellen Gegensätze, die in Syrien eine wichtige Rolle im Krieg spielen.

Auch sind die militärischen Gewichte in Libyen ausgeglichener als in Syrien. Russland steht in Libyen zwar auf der Seite Haftars. Auf ein so massives militärisches Engagement wie in Syrien, wo Moskau die Assad-Regierung zum Sieg über seine Gegner gebombt hat, hat Kremlchef Wladimir Putin in Libyen bisher verzichtet.

Was bedeutet das für Europa?

Ein weiterer wichtiger Unterschied zwischen Libyen und Syrien besteht aus europäischer Sicht darin, dass die EU im Syrien-Konflikt mit der Türkei einen Pufferstaat hat, der Millionen von Flüchtlingen aufnimmt. Im Libyen-Krieg fehlt der Europäischen Union ein solches Land an ihrer Peripherie, das als Auffangstation für fliehende Menschen dienen könnte.

Während das mit der Türkei 2015 geschlossene Flüchtlingsabkommen den Zuzug von Menschen über Griechenland stark reduziert hat, wird in der EU der Streit um die Aufnahme der Flüchtlinge aus Libyen wieder heftiger. Die Mitgliedsstaaten können sich nicht auf einen Verteilungsschlüssel für ankommende Menschen einigen. Italiens Regierung beklagt, dass es mit dem Flüchtlings-Problem allein gelassen wird und verwehrt privaten Seenotretter den Zugang zu seinen Häfen.

Wird der IS wieder zu einer Bedrohung?

Das ist möglich, sogar recht wahrscheinlich. Die Gefechte zwischen den Bürgerkriegsparteien kommen den Dschihadisten auf jeden Fall gelegen. Denn Chaos, widerstreitende Interessen, Misstrauen und die fehlende Einheit ihrer Gegner spielen den Terroristen generell in die Hände.

Das war auch im Irak und Syrien der Fall. In den vergangenen Monaten hat der libysche Ableger des IS auch mit Anschlägen immer wieder deutlich gemacht, wozu er nach wie vor in der Lage ist. Genauer gesagt: wieder ist.

Auf dem Höhepunkt ihrer Macht hatten sich die Extremisten in Libyen regelrecht eingenistet und das in Trümmern liegende Land zu einem ihrer wichtigsten Stützpunkte ausgebaut. Zeitweise kontrollierten sie vor allem die strategisch bedeutende Hafenstadt Sirte und umliegende Gebiete.

Kampf um Sirte. Vor drei Jahren konnten Milizen den Islamischen Staat aus ihrer libyschen Hochburg vertreiben.
Kampf um Sirte. Vor drei Jahren konnten Milizen den Islamischen Staat aus ihrer libyschen Hochburg vertreiben.
© Ismail Zitouny/Reuters

Dann jedoch schlossen sich verschiedene Milizen zusammen und gingen entschlossen gegen den „Islamischen Staat“ vor – und das mit amerikanischer Luftunterstützung. Ende 2016 konnte der IS so aus seinen Stellungen vertrieben werden.

Doch endgültig geschlagen waren die „Gotteskrieger“ mitnichten. Sie gingen vielmehr in den Untergrund und verlegten sich auf eine Guerillataktik. Seitdem gibt es eine anhaltende Bedrohung durch Angriffe und Entführungen – auch weil sich die Kämpfer Geldquellen erschließen konnten. Sie sollen zum Beispiel längst ins lukrative Schleusergeschäft eingestiegen sein. Dass der IS wieder zu einer relevanten Gefahr geworden ist, liegt nicht zuletzt am wieder aufgeflammten Bürgerkrieg. Denn viele Soldaten und Milizionäre kämpfen nun wieder gegeneinander, statt gegen den „Islamischen Staat“.

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