Brüssel und Ankara: „Beim Abkommen mit der Türkei bin ich mit meinem Gewissen im Reinen“
EU-Kommissionschef Juncker verteidigt im Interview den Flüchtlingspakt mit der Türkei. Gleichzeitig fordert er Ankara auf, Grundrechte wie die Pressefreiheit nicht zu opfern.
Herr Juncker, es gibt Streit um die geplante Visafreiheit für die Türkei. Im Europaparlament stehen viele Abgeordnete auf dem Standpunkt, dass es ohne eine vollständige Erfüllung der Kriterien - und vor allem der Änderung der türkischen Anti-Terror-Gesetzgebung - keine Visafreiheit geben kann. Ist das auch Ihre Auffassung?
Die Kommission war von Anfang an sehr klar in dieser Frage, und an unserer Haltung hat sich nichts geändert: Die Türkei hat sich verpflichtet, insgesamt 72 Voraussetzungen zu erfüllen, und erst wenn das geschehen ist, können wir die Visa-Pflicht für türkische Bürgerinnen und Bürger aufheben. Ob und wann die Visa-Freiheit umgesetzt wird, hängt also maßgeblich von der Türkei ab. Wir haben unsererseits immer wieder signalisiert, dass wir bereit sind, sie bei den notwendigen Reformen zu unterstützen. Unsere Position ist ebenso deutlich, wenn es um Menschenrechte und Meinungsfreiheit geht, weil sich Kompromisse dabei verbieten. Grundrechte, wie etwa die Pressefreiheit, dürfen nicht einfach mit dem Hinweis auf die Anti-Terror-Gesetzgebung ausgehebelt werden.
Welche Schritte sollte die EU demnächst unternehmen, um in der Flüchtlingspolitik eine größere Unabhängigkeit von der Türkei zu erlangen?
Bei einer Herausforderung, die so groß war wie die Flüchtlingskrise, war von Anfang an klar, dass es kein Allheilmittel gibt. Das Abkommen mit der Türkei ist daher nur ein Baustein unserer umfassenden Strategie, für die wir schon vor 15 Monaten mit der Europäischen Migrationsagenda einen Fahrplan vorgelegt haben. So haben wir in Rekordzeit einen gemeinsamen europäischen Grenz- und Küstenschutz aufgebaut, der schon in diesem Sommer einsatzbereit ist, und wir haben ebenfalls die Partnerschaften mit Herkunfts- und Transitländern vertieft, um die Ursachen der Flucht anzupacken.
Hat es sich im Nachhinein als Fehler erwiesen, eine Flüchtlingsvereinbarung mit der Türkei zu schließen?
Diejenigen, die das Abkommen mit der Türkei kritisieren, kann ich nur daran erinnern, dass die Realität leider nicht ausschließlich aus den Ausschnitten besteht, die wir gerne wahrnehmen wollen. Zur Wahrheit gehört auch, dass wir mit unseren Nachbarn zusammenarbeiten müssen - nicht, weil wir diese oder deren Regierungen alle besonders lieben, sondern weil wir in der Pflicht stehen, denen zu helfen, die sonst darunter leiden würden, wenn wir uns nicht einigen. Es wäre unerträglich gewesen, länger zuzuschauen, wie Zehntausende in der Ägäis sterben, weil wir Schmuggler mit ihrem menschenverachtenden Geschäftsmodell gewähren lassen. Um das zu stoppen, haben wir die Vereinbarung mit der Türkei getroffen. Ich bin mit meinem Gewissen im Reinen.
Die Bewältigung der Flüchtlingskrise wäre für die EU einfacher, wenn viele osteuropäische Staaten nicht Widerstand gegen verpflichtende Quoten zur Aufnahme von Flüchtlingen leisten würden. Haben Sie das Projekt inzwischen zu den Akten gelegt?
Als Hüterin der Verträge ist die Kommission verpflichtet, sicherzustellen, dass gemeinsam beschlossene Entscheidungen - also gültige europäische Gesetze - auch umgesetzt werden. Die Quotenregelung, die die Mitgliedstaaten im Rat beschlossen haben, beruht auf dem Prinzip der Solidarität, das es gebietet, die Mittelmeer-Länder nicht mit der Flüchtlingsdramatik allein zu lassen. In der Politik heißt Verantwortung auch, für Entscheidungen einzustehen. Gleichzeitig bin ich nicht weltfremd. Ich weiß, dass es kulturelle Unterschiede gibt zwischen traditionellen Einwanderungsländern und anderen, die sich erst allmählich mit dem Phänomen des Fremden und Neuen auseinandersetzen. Ich erwarte, dass diejenigen, die weniger Flüchtlinge aufnehmen, entsprechend mehr für den EU-Außengrenzschutz tun oder mehr syrische Flüchtlinge aus der Türkei aufnehmen. Die Slowakei, die jetzt die EU-Präsidentschaft innehat, kann das koordinieren.
Beim Gipfel der 27 EU-Staaten am 16. September in Bratislava wollen die Kontinentaleuropäer beraten, wie es nach dem Brexit-Votum vom Juni weitergehen soll. Befürchten Sie, dass sich Tendenzen zur Renationalisierung, wie sie etwa vom ungarischen Regierungschef Viktor Orban vertreten werden, demnächst in der EU noch verstärken werden?
Ich setze grundsätzlich auf die Vernunft. Wenn man sich dieser bedient, ist schnell klar: In einer Welt, die immer stärker zusammenwächst, wäre es unsinnig, wenn Europa das ignoriert und sich stattdessen in seine nationalen Bestandteile verzettelt. Wir können unsere Art des Lebens - zu der soziale Standards und Verbraucherschutz ebenso gehören wie die Freiheit, über Grenzen hinweg zu reisen und zu leben - nur bewahren, wenn wir zusammenhalten und gemeinsame Lösungen finden. Wenn wir mit einer Stimme sprechen, haben wir viel bessere Karten als jedes Land für sich allein, wenn es um Außenpolitik, Energie-Verhandlungen oder Handelsabkommen geht. Nur gemeinsam gewinnen wir also echte Souveränität. Darüber sollten diejenigen, die so lautstark Souveränität fordern, einmal nachdenken.
Die EU-Kommission verschärft das Rechtsstaatlichkeitsverfahren gegenüber Polen und spricht sich gleichzeitig dafür aus, die Defizitsünder Spanien und Portugal ungeschoren davonkommen zu lassen. Was entgegnen Sie dem Vorwurf, dass die Kommission hier mit zweierlei Maß messe?
Bei beiden Entscheidungen haben wir nur ein Maß angewendet: das EU-Recht. Was Polen angeht, muss meine Kommission als Hüterin der Verträge sicherstellen, dass so fundamentale Prinzipien wie die Rechtsstaatlichkeit, auf denen unsere Union beruht, respektiert werden. In diesem Sinne haben wir der polnischen Regierung drei Monate Zeit gegeben, um die Reformen beim Verfassungsgericht so zu ändern, dass die Unabhängigkeit des Gerichts gewahrt bleibt und seine Beschlüsse geachtet werden. Nur ein unabhängiges Verfassungsgericht kann die Rechtsstaatlichkeit garantieren und schützen. Im Fall von Portugal und Spanien haben wir den Spielraum, den die Mitgliedstaaten im Stabilitäts- und Wachstumspakt ausdrücklich eingebaut haben, genutzt, um die Regeln mit Vernunft anzuwenden.
Viele sind aber der Auffassung, dass die Kommission dabei zu milde mit Spanien und Portugal umgegangen ist.
Wir wollten aus guten Gründen verhindern, dass der beginnende wirtschaftliche Aufschwung in beiden Ländern erstickt wird, und haben gleichzeitig diese Entscheidung mit sehr konkreten Vorgaben für das laufende Jahr verknüpft. Wir haben zwar beschlossen, die Geldbußen zu streichen, aber dafür gleichzeitig entschieden, die Zahlungen aus den Strukturfonds auszusetzen. Die Mitgliedstaaten haben sich nicht dagegen ausgesprochen. Das ist mittel- und langfristig vernünftiger und zielführender als Sanktionen um der Sanktionen willen, weil wir nur so den bereits eingeschlagenen Reformkurs in beiden Ländern unterstützen können.
Die Fragen stellte Albrecht Meier.