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Soldaten der Libysche Nationale Armee auf dem Weg nach Tripolis.
© Esam Omran Al-Fetori/REUTERS

Vorhof zur Hölle: Wie gefährlich ist der Konflikt in Libyen?

In Libyen droht ein neuer Bürgerkrieg. Ost gegen West. West gegen Ost. Und mittendrin Tausende Flüchtlinge. Die wichtigsten Fragen und Antworten.

An hehren Worten fehlt es nicht in Libyen. Es könne keine militärische Lösung des Konfliktes geben, erklärte die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini vor wenigen Tagen. Eine Intervention des Auslandes in dem nordafrikanischen Land sei auch keine Lösung, betonte der italienische Ministerpräsident Giuseppe Conte.

Doch trotz aller Mahnungen gehen die Kämpfe in den Außenbezirken der Hauptstadt Tripolis weiter. Mindestens 121 Menschen sind bislang getötet worden, teilte die Weltgesundheitsorganisation (WHO) am Sonntag mit. 561 Menschen seien seit Beginn der Gefechte am 4. April verletzt worden. In Libyen droht ein neuer Bürgerkrieg – auch, weil sich die Einzelinteressen mächtiger Akteure gegen die Vermittlungsbemühungen der Vereinten Nationen durchsetzen.

Warum wird gekämpft?

Der Kollaps der staatlichen Ordnung nach der Entmachtung des früheren Herrschers Muammar al Gaddafi im Jahr 2011, Machtkämpfe rivalisierender Milizen, das Gerangel um die Verteilung der Erlöse aus den großen Ölvorräten und die Einmischung ausländischer Staaten verbinden sich zu einem komplizierten Geflecht aus Konflikten, das nur schwer zu entwirren ist.

Der Westen muss sich vorwerfen lassen, mit Luftangriffen gegen Gaddafis Armee vor acht Jahren zwar zum Sturz des damaligen Regimes beigetragen, das Land seitdem aber seinem Schicksal überlassen zu haben.

Heute existieren in Libyen zwei Regierungen nebeneinander. In der Hauptstadt Tripolis im Westen des Landes hat die international anerkannte Regierung von Ministerpräsident Fayez al Serrasch ihren Sitz. Ihm steht ein paralleles Machtzentrum unter General Chalifa Haftar im Osten gegenüber.

Herrscher im Osten Libyens: General Chalifa Haftar.
Herrscher im Osten Libyens: General Chalifa Haftar.
© REUTERS/Esam Omran Al-Fetori/File Photo

In den vergangenen Jahren waren die Verhältnisse zwischen den beiden Regierungen mehr oder weniger stabil, doch nun greift Haftar nach der Macht im ganzen Land. Seine Libysche Nationale Armee (LNA) steht nach Eroberungen im ölreichen Süden des Landes nun vor den Toren der Hauptstadt Tripolis, einer Stadt mit 1,2 Millionen Einwohnern.

Welche internationalen Akteure wirken mit?

Offiziell wollen alle Mitglieder der internationalen Staatengemeinschaft den baldigen Frieden in Libyen. Doch einige Staaten mischen kräftig in dem Konflikt mit. Haftar wird von den Vereinigten Arabischen Emiraten, Russland und Ägypten unterstützt. Präsident Abdel Fattah al Sisi empfing Haftar am Sonntag in Kairo.

Die Libyenmission der Vereinten Nationen (UN) warnte am Sonntag die Kriegsparteien vor Angriffen auf Zivilisten . Die Bombardierung von Schulen, Krankenhäusern und zivilen Gebieten sei unter internationalem Recht strengstens verboten. Verstöße würden dokumentiert und an den UN-Sicherheitsrat und den Internationalen Strafgerichtshof weitergeleitet. Bei den UN verhinderte Russland kürzlich eine Resolution, mit der Haftar zum Abbruch des Angriffes auf Tripolis aufgefordert werden sollte. Dagegen stehen die Türkei und Katar in dem Ruf, Milizen gegen Haftar zu helfen.

Auch die EU gibt kein gutes Bild ab. Zwar geht es den Europäern vor allem darum, eine neue Fluchtwelle aus Libyen zu verhindern. Doch Frankreich und Italien streiten sich um Macht und Einfluss in dem Land und haben dabei die Ölvorräte fest im Blick. Mogherinis Erklärung zu dem Konflikt vergangene Woche kam erst nach internem Streit zustande.

Wie sieht es mit libyschen Kontrahenten aus?

Haftar steht an der Spitze der stärksten Militärmacht in Libyen, aber das bedeutet nicht, dass er freie Bahn hat. Das Chaos der vergangenen Jahre sowie traditionelle Clan- und Stammesstrukturen haben eine Vielzahl bewaffneter Gruppen hervorgebracht, denen es häufig um die Macht in einem bestimmten Gebiet geht und deren Loyalitäten zu der einen oder anderen Seite rasch wechseln können.

Herrscher im Westen Libyens: Ministerpräsident Fayez al Serrasch.
Herrscher im Westen Libyens: Ministerpräsident Fayez al Serrasch.
© FETHI BELAID / POOL / AFP

Auch verfügt die Regierung in Tripolis über keine eigenen Truppen, sondern muss sich auf die Hilfe von Milizen verlassen. Das macht die Lage selbst ohne einen Angriff wie den von Haftar sehr instabil. Mehrere bewaffnete Gruppen in der Hauptstadt hatten in den vergangenen Jahren erheblichen Einfluss auf die Verteilung von staatlichen Geldern gewonnen: Von einem „Milizen-Kartell“ spricht der Libyen-Experte Wolfram Lacher von der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin. Die Macht des Kartells rief andere Milizen auf den Plan, die einen Teil der Gelder für sich beanspruchten. Im vergangenen Jahr brachen deshalb in Tripolis heftige Kämpfe aus. Derzeit stellen sich mehrere bewaffnete Gruppen Haftars Truppen in der Hauptstadt entgegen.

Was wollen die Vereinten Nationen?

Für den UN-Sondergesandten Ghassan Salamé bedeutet Haftars Angriff auf Tripolis das vorläufige Scheitern seiner Bemühungen. Er wollte in diesen Tagen eigentlich in dem Oasenort Ghadames eine Friedenskonferenz mit mehr als hundert Teilnehmern aus allen politischen Gruppen des Landes einberufen. Bei dem Treffen sollte es um einen Fahrplan für freie Wahlen und um die Bildung einer gemeinsamen Regierung gehen. Damit wollte Salamé zum Wiederaufbau des Landes beitragen.

Doch diese Pläne müssen die UN zunächst aufgeben. Derzeit geht es vor allem darum, einen neuen Bürgerkrieg zwischen Haftar und der Regierung in Tripolis und damit neues Blutvergießen zu vermeiden. Die geplante Konferenz werde so bald wie möglich einberufen, erklärte Salamé. Nach einigen Medienberichten denkt der UN-Gesandte an Rücktritt.

Wie wirkt sich der Konflikt auf die Flüchtlinge im Land aus?

Mehr als 650.000 Migranten befinden sich Schätzungen des UN-Flüchtlingshilfswerks zufolge in dem Transitland, verzweifelt auf eine Fahrt Richtung Europa hoffend. Sie leben zumeist in extrem prekären Verhältnissen. Besonders dramatisch ist die Situation für jene 5000 bis 6000 Afrikaner, die in Lagern interniert sind. Sie werden nicht nur gefangen gehalten, sondern leiden tagtäglich unter Gewalt, Ausbeutung und Missbrauch. Jetzt werden diese Frauen und Männer auch noch zu Opfern des Bürgerkriegs.

Vor allem in Tripolis ist die Lage dramatisch. „Die Konfliktparteien setzen schwere Waffen ein, die jeden treffen können. Alle Zivilisten sind deshalb großen Gefahren ausgesetzt, einschließlich Tausender Flüchtlinge und Migranten, die weiterhin eingesperrt sind“, sagt Sam Turner, Landeskoordinator von Ärzte ohne Grenzen in Libyen. Einige dieser Gefängnisse lägen bedrohlich nahe an der Front. „Alle Menschen in diesen Internierungslagern sind außerordentlich gefährdet, da sie sich nicht in Sicherheit bringen können. Unsere Teams berichten zudem, dass die Versorgung mit ausreichend Essen, Wasser und anderen essenziellen Hilfsgütern ein großes Problem ist.“

Turner fordert deshalb, alle Eingesperrten so schnell wie möglich in Sicherheit zu bringen. Wenn nicht, könnten die höllischen Haftanstalten zu tödlichen Fallen werden. Die Lager verlassen dürfen einige Flüchtlinge nur, wenn sie bereit sind, sich den Kämpfern anzuschließen. Berichten zufolge wurden inhaftierte Eritreer, Sudanesen und Somalier bereits von Milizen rekrutiert. Sie sollen dabei helfen, Tripolis gegen die Angriffe von General Haftar zu verteidigen. Wer mitmacht, dem werden offenbar Lebensmittel versprochen. Ein verlockendes Angebot für Menschen, die nichts zum Essen haben. Denn in den Kerkern hungern sie. Und sind ständig in Lebensgefahr.

Wie steht es um die Menschenrechte?

Anfang 2017 meldete die deutsche Botschaft im Niger in einer sogenannten Diplomatischen Korrespondenz an das Kanzleramt und mehrere Ministerien „allerschwerste, systematische Menschenrechtsverletzungen“. Gemeint waren die unfassbaren Zustände in den libyschen Lagern. „Authentische Handy-Fotos und -videos belegen die KZ-ähnlichen Verhältnisse in sogenannten Privatgefängnissen.“

Das dürfte nicht übertrieben gewesen sein. Menschenhändler und bewaffnete Gruppen entführen Migranten auf ihrem Weg an die libysche Küste und nehmen sie gefangen. Dieses Schicksal droht auch den Flüchtlingen, die bei ihrer Fahrt nach Europa von der Küstenwache aufgegriffen werden. In den Haftanstalten sind Folter, Vergewaltigung, Erpressung und Exekutionen an der Tagesordnung.

Es geht den brutalen Kriminellen vorrangig darum, mit den Flüchtlingen Geld zu machen. Familien sollen für die Freilassung ihrer Angehörigen zahlen. Um Druck auszuüben, filmen die Folterknechte die von ihnen verübten Misshandlungen. Diejenigen, die kein Geld aufbringen können, werden wie Sklaven weiterverkauft, in der Wüste ausgesetzt oder gleich getötet. In den sogenannten offiziellen Lagern, betrieben von Regierungsbehörden und der libyschen Küstenwache, die oft mit den Schleppern kooperiert, sieht es kaum besser aus. Auch dort herrschen grausame Zustände.

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