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Jugend im Kampfmodus: Im Nahen Osten und Nordafrika gibt es regelrechte Aufstände. Die Menschen wie hier in Bagdad fordern ein würdiges Leben und Jobs.
© Ameer Al Mohammedaw/dpa

Kommt ein zweiter arabischer Frühling?: Die Wut der Menschen ist kaum mehr einzudämmen

Hunderte Tote innerhalb Monaten, wütende Demonstranten, verhasste Regime – die muslimische Welt ist in Aufruhr und der Geist des Aufbegehrens aus der Flasche.

Im krisengeplagten Nahen und Mittleren Osten werden Länder von Ägypten bis Iran seit Monaten von Unruhen erschüttert. Mehrere Hundert Menschen sind bei Auseinandersetzungen mit den staatlichen Sicherheitskräften getötet worden. Demonstranten gehen auf die Straße und verlangen grundsätzliche Veränderungen, die von den Regierungen bisher jedoch verweigert werden.

Die Massenproteste wirken wie eine Fortsetzung des „Arabischen Frühlings“ vor acht Jahren – und jetzt ist auch der nicht-arabische Iran von den Aufständen erfasst worden. Trotz vieler unterschiedlicher Voraussetzungen in den betroffenen Ländern sind einige gemeinsame Wurzeln der Unruhen erkennbar, die bereits bei der „Arabellion“ eine Rolle spielten.

Ein Überblick über die wichtigsten Protest-Faktoren macht deutlich: Der Geist des Aufbegehrens ist wohl auch mit Gewalt nicht einzudämmen.

Junge Menschen ohne Perspektive

Das starke Bevölkerungswachstum in der arabisch-muslimischen Welt schafft in vielen Ländern einen immens steigenden Druck auf die Arbeitsmärkte. Im Irak zum Beispiel sind fast 24 Millionen der rund 40 Millionen Einwohner jünger als 24 Jahre, jedes Jahr drängen rund 700.000 neue Job-Suchende auf den Arbeitsmarkt. Und die Bevölkerung wächst jedes Jahr um rund eine Million Menschen. Die Weltbank schätzt, dass die Länder des Nahen Ostens und Nordafrikas bis zum Jahr 2050 rund 300 Millionen neue Arbeitsplätze schaffen müssen, um die stetig wachsende Nachfrage nach bezahlter Beschäftigung zu befriedigen.

Bisher versagt die Region bei dieser Aufgabe. Nach Angaben der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) liegt die Jugendarbeitslosigkeit im Nahen Osten bei 30 Prozent und damit höher als in allen anderen Weltgegenden. Besonders junge Frauen sind davon betroffen: Nur 14 Prozent von ihnen haben einen Job – der weltweite Durchschnitt liegt bei 37 Prozent. Perspektivlosigkeit, Armut und wachsende Wut sind die Folge. In Ägypten zum Beispiel sind 60 Prozent der rund 100 Millionen Bürger auf subventionierte Lebensmittel angewiesen.

Reformbedürftige Wirtschaftssysteme

Diese Probleme und Aufgaben überfordern die betroffenen Länder. Lange Zeit garantierte vielerorts im Nahen Osten ein System für Stabilität, das von Experten als „autoritärer Tauschhandel“ bezeichnet wird: Der Staat garantierte seinen Bürgern ein Mindestmaß an Jobs und Wohlstand, zumeist durch eine aufgeblähte Bürokratie, während die Bürger im Gegenzug auf politische Teilhabe verzichteten.

In einigen reichen Ländern wie Saudi-Arabien funktioniert dieses Modell noch leidlich, andernorts allerdings nicht mehr. Die Staaten haben – unter anderem wegen der seit Jahren fallenden Ölpreise – immer weniger Geld, um immer mehr Job-Suchende zu versorgen. Auf ihrer Suche nach neuen Einnahmequellen haben einige Regierungen in jüngster Zeit selbst unabsichtlich neue Unruhen losgetreten. Im Libanon etwa begannen die Demonstrationen, nachdem die Regierung eine Sondersteuer auf den Kurzbotschaftendienst WhatsApp erhoben hatte. Im schiitischen Iran brachte die Regierung ihre Bürger mit einer drastischen Erhöhung der Benzinpreise gegen sich auf.

Aufgebrachte Iran demonstrieren gegen drastische Erhöhung der Benzinpreise.
Aufgebrachte Iran demonstrieren gegen drastische Erhöhung der Benzinpreise.
© AFP

Solche Entscheidungen wirken wie politische Brandbeschleuniger. Die Region hat ohnehin mit erheblichen Problemen wie diversen bewaffneten Konflikten, der Destabilisierung durch extremistische Gruppen wie den „Islamischen Staat“ und – im Fall des Iran – mit drastischen westlichen Wirtschaftssanktionen zu kämpfen. Der Privatsektor schafft es nicht, diese Lücke zu füllen – er kann sich nicht entfalten wie in einer freien Marktwirtschaft. In vielen Nahost-Ländern ist die Nähe zu den jeweiligen Machthabern die elementare Voraussetzung für den Erfolg eines Unternehmers. Auch bürokratische Hemmnisse und Korruption bremsen die Entwicklung. Mancherorts spielen staatliche Organe in der Wirtschaft eine so große Rolle, dass private Initiativen keine Chance haben. Das gilt zum Beispiel für das Wirtschaftsimperium der Revolutionsgarden im Iran. Von Steuern und Zöllen befreit, nutzen die Garden ihre Nähe zum Regime, um in fast allen Branchen Fuß zu fassen. Energie, Rüstung, Telekommunikation, Infrastruktur – mithilfe eines kaum zu entwirrenden Firmengeflechts kontrollieren die Paramilitärs einen erheblichen Teil der iranischen Ökonomie – mit Einnahmen in Milliardenhöhe.

Reformansätze gibt es zwar, allerdings ist deren Erfolg ungewiss. So versucht Saudi-Arabien unter Kronprinz Mohammed bin Salman, sich nach dem Vorbild der Vereinigten Arabischen Emirate vom Öl als Einnahmequelle zu lösen und auf Dienstleistungen sowie Hightech zu setzen. Mehr politische Mitsprache will der ehrgeizige Thronfolger seinen Untertanen jedoch nicht einräumen.

Herrschaft ohne Legitimität

Eng verbunden mit der wirtschaftlichen Ratlosigkeit ist eine Krise der politischen Systeme. Herrschaftsmodelle, die teils über Jahrzehnte hinweg stabil waren, geraten unter dem Druck der demografischen und ökonomischen Veränderungen zunehmend ins Wanken.

So ist die Legitimität der Islamischen Republik im Iran durch die brutale Niederschlagung der jüngsten Proteste gegen die Benzinpreiserhöhungen schwer angeschlagen. Im Irak gehen die Demonstranten unter anderem gegen den starken Einfluss der iranischen Mullahs auf die Politiker in Bagdad auf die Straße. Hinzu kommt im Irak, dass sich das Land noch nicht von den blutigen Folgen der amerikanischen Invasion von 2003 erholt hat.

Demonstranten im Libanon schwenken libanesische Nationalflaggen und leuchten mit der Lampe von Handys während einer alternativen Parade in Beirut.
Demonstranten im Libanon schwenken libanesische Nationalflaggen und leuchten mit der Lampe von Handys während einer alternativen Parade in Beirut.
© Marwan Naamani/dpa

Im Libanon richten sich die Proteste gegen ein politisches System, das die Macht zwischen verschiedenen religiösen Gruppen austarieren soll, aber von einer kleinen Elite zur Bereicherung genutzt wird.

Grassierende Korruption

Es ist ein Geschwür, das ungehindert wuchert. In fast allen Ländern der Region zersetzt Korruption die Staatswesen von innen. Bestechung und Bestechlichkeit gehören zu den großen Übeln der arabischen Welt. Jemen, Syrien, Libyen, Libanon, Irak – sie alle rangieren auf dem Korruptionsindex von Transparency International ganz weit oben. Weil dort anvertraute Autorität und Macht besonders maßlos missbraucht wird, um privat davon zu profitieren. Wer als Bürger von der Verwaltung etwas haben möchte, benötigt ausreichend Schmiermittel. Das System reicht vom unterbezahlten Beamten, der die Hand aufhält, um sein schmales Gehalt aufzubessern, bis zu Ministern und Staatschefs, die öffentliche Aufträge so vergeben, dass erhebliche Beträge in die eigene Tasche fließen. Ohne Geld und Gefälligkeiten gibt es nichts. So erodiert das Fundament der Gesellschaften im Nahen Osten, und das seit Langem.

Die Dimensionen sind gewaltig. Im Irak haben Politiker und Geschäftsleute seit dem Sturz von Saddam Hussein 2003 nach regierungsamtlichen Untersuchungen rund 450 Milliarden Dollar an öffentlichen Geldern in die eigenen Taschen gesteckt. Die Bevölkerung verfügt nicht einmal über eine funktionierende Strom- und Wasserversorgung.

Ähnlich ist es im Libanon. Der Staat ist quasi pleite und kann die Grundleistungen für seine Bürger nicht gewährleisten. Da kommt es verständlicherweise schlecht an, wenn der inzwischen zurückgetretene Premier Saad Hariri – verschrien als Vertreter einer korrupten Politikerkaste, der seinem Land einen harten Sparkurs verordnet hat – mal eben 16 Millionen Dollar an ein Bikini-Model überweist. Oder wenn einer wie Präsident Abdel Fattah al Sisi sich steuerfinanzierte Paläste bauen lässt, während jeder dritte Ägypter unter der Armutsgrenze lebt.

Siegeszug der Smartphones

In früheren Zeiten hätten die Machthaber all diese Probleme möglicherweise noch unter den Teppich kehren können. Doch die weltweite Revolution der Kommunikationstechnologie hat auch im Nahen und Mittleren Osten sowie in Nordafrika das Informationsmonopol der Regierungen gebrochen.

Die Demonstranten wissen dank Internet und Smartphones nicht nur, wie das Leben in gut verwalteten Staaten aussehen kann. Sie sind auch in der Lage, sich zu vernetzen und Aktionen zu koordinieren. So spielten beim erfolgreichen Aufstand gegen den Diktator Omar al Baschir im Sudan Anfang des Jahres die Handys der Oppositionsanhänger eine wichtige Rolle. Sie umgingen die von Baschirs Regierung verhängten Zugangssperren zu sozialen Medien mit der Hilfe von virtuellen privaten Netzwerken.

Drastische Maßnahmen wie die fast vollständige Internet-Sperre im Iran in den vergangenen Tagen sind Notbremsen der Herrschenden und damit ein Eingeständnis des Scheiterns, das zudem noch kontraproduktiv sein kann. So schadet eine Regierung der eigenen Wirtschaft, wenn Unternehmen durch fehlendes Internet von der Außenwelt abgeschnitten werden.

Die ohnehin durch die US-Sanktionen geschwächte iranische Volkswirtschaft habe wegen der Internet-Blockade einen zusätzlichen Verlust von rund 300 Millionen Dollar erlitten, schätzt die Gruppe NetBlocks, die Einschränkungen des Internet-Zugangs weltweit beobachtet. Doch Beobachter sind sich recht sicher, dass der große Unmut der Menschen durch brutale Gewalt und Willkürmaßnahmen der Herrschenden kaum einzudämmen sein dürfte. Der Geist des Aufbegehrens ist aus der Flasche.

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