Neue Regeln der Macht: FDP und Grüne entscheiden: Die Kleineren übernehmen die Partnersuche
Was gestern galt, ist zweitrangig: wer gewinnt, wer verliert, wer ist Nummer 1. Entscheidend wird, wer mit wem kann. Das ist Laschets Rettung. Ein Kommentar.
In atemberaubenden Tempo haben die politischen Zirkel in den Interviews, der Elefantenrunde und den Talkshows nach Schließung der Wahllokale zwei eherne Regeln der Machtpolitik in der Bundesrepublik abgeräumt.
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Es kommt, erstens, nicht mehr darauf an, wer vorne liegt. Die stärkste Partei hatte bisher in der Regel – wenn auch nicht immer – den Auftrag zur Regierungsbildung. Das gilt nicht mehr. Mit der größten Selbstverständlichkeit im Ton wird nun dargelegt, dass SPD und Union so nahe beieinander liegen, dass nicht mehr entscheidend sei, wer Nummer eins und wer Nummer zwei ist. 2005 wurde das noch ganz anders betrachtet.
Zweitens galt bisher: Wer zulegt, ist der Wunschkandidat der Bürger. Wer stark verliert, ist abgewählt und nicht mehr kanzlerfähig. Die neue Maxime lautet: Es ist zweitrangig, wer von oben und wer von unten kommt. Entscheidend ist, welche Parteien inhaltlich besser zusammenpassen, Beziehungsweise bei welcher Konstellation rasch Ehekrach und Instabilität drohen.
Und so wachen die Bürgerinnen und Bürger am Montag mit einer überraschenden Erkenntnis auf. Es ist offenkundig nicht ausgemacht, dass der nächste Kanzler Olaf Scholz heißt. Auch wenn die SPD mit ihm als Spitzenkandidaten 5,2 Prozentpunkte gewonnen und die Union mit Armin Laschet 8,9 Prozentpunkte verloren hat.
Laschets Auferstehung von den politisch Toten
Die neuen Verhältnisse verschaffen Laschet zunächst eine Gnadenfrist und sogar die Chance zur Auferstehung von den politisch Toten. Er wird nicht gleich in den Gremiensitzungen zum Hauptschuldigen der Niederlage erklärt und abserviert, wie das die Werteunion verlangt. Er könnte sogar ins Kanzleramt einziehen, weil er in NRW gezeigt hat, dass er Koalitionspartner gut behandelt.
Noch verblüffender für ältere Semester: Was die größeren Parteien wollen – SPD und Union -, ist zweitrangig. Welche Koalition zustandekommt, entscheiden nicht die in der ersten Reihe. Sondern die Parteien in der zweiten Reihe: FDP und Grüne. Die Vorstellung, dass die eine oder die andere große Volkspartei den Kanzler stellt und sich für die Mehrheit eine kleinere – oder neuerdings zwei kleinere – als Anhängsel sucht, ist von gestern.
FDP und Grüne einigen sich, wer unter ihnen Kanzler sein darf
Nun gilt umgekehrt: Die Kleineren haben das Sagen. Die Partnersuche geht von Grünen und FDP aus. Sie sind die Königsmacher und legen den Preis fest. Sie warten nicht wie früher, bis die Großen das Gespräch mit ihnen suchen. Sie reden erstmal untereinander. Die beiden stärkeren Fraktionen, SPD und Union, müssen sich gedulden, bis die beiden Mittelgroßen sich geeinigt haben, wer von den beiden Größeren den Kanzler stellen darf .
Zugespitzt gesagt haben sich die Machtverhältnisse umgedreht. Nicht die Kanzlerpartei diktiert den Koalitionspartnern, was geht und was nicht. Umgekehrt stellen FDP und Grüne die Bedingungen auf, was in der nächsten Koalition möglich ist und was nicht. Das dürfte noch Auswirkungen auf die Richtlinienkompetenz des Bundeskanzlers haben.
Ein neues Kapitel der Demokratie für Deutschland
Deutschland startet gerade in eine neue Ära seiner Demokratie. Die Abstände zwischen „Großen“ und „Kleinen“ sind gewaltig geschrumpft, wie das in manchen Nachbarstaaten schon länger der Fall ist. Das verändert zwangsläufig die Arithmetik der Macht.
Das ist gewöhnungsbedürftig und wird manche nervös machen, womöglich gar beunruhigen. Aber es könnte auch umgekehrt ausgehen: ein Aufbruch und Ausbruch aus dem bisherigen Institutionsdenken, das auch inhaltlich Mut macht, neue Wege zu gehen.
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