So blickt die Welt auf die nächste Bundesregierung: Von Deutschland wird mehr außenpolitisches Engagement erwartet
Rechtsstaats-Sünder in Europa, Chinas Machtgebaren, Russlands Gaspolitik und der Rückzug der USA als Weltpolizist – auf die neue Bundesregierung kommt viel zu.
Im Verlauf der 16-jährigen Kanzlerschaft von Angela Merkel ist die Großwetterlage ungemütlicher geworden. China betont seinen Machtanspruch im indopazifischen Raum immer deutlicher. Russland hat 2014 die Krim annektiert und bleibt ein unberechenbarer Partner. Unter Donald Trump hat das Verhältnis zu den USA gelitten; der Nahe Osten bleibt eine Krisenregion. Die Europäische Union und Frankreich warten auf europapolitische Weichenstellungen in Deutschland, dem wirtschaftsstärksten Land in der Gemeinschaft. Welche Probleme muss die nächste Bundesregierung in der Außenpolitik angehen? Ein Überblick über die Herausforderungen nach der Bundestagswahl.
Frankreich – Warten auf den Partner
Wenn man Stéphane Séjourné, einen Vertrauten des französischen Präsidenten Emmanuel Macron, nach seinen Erwartungen an die nächste Bundesregierung fragt, bekommt man als Erstes zu hören: „Wir wünschen uns vor allem, dass es schnell geht.“ Damit meint der Europaabgeordnete aus Macrons Regierungspartei „La République en Marche“ das Tempo bei der Bildung der kommenden Berliner Koalition.
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Nach Séjournés Worten braucht Frankreich spätestens einen handlungsfähigen Partner in Deutschland, wenn Paris zum 1. Januar 2022 die EU-Präsidentschaft übernimmt. Ein Schwerpunkt für Macron liegt dabei auf dem „Europa der Verteidigung“, also der Stärkung der europäischen Verteidigungskapazitäten. Die neue Bundesregierung wird sich dabei positionieren und Macron gegebenenfalls klar machen müssen, dass das Projekt nicht zu einer Spaltung der Nato führen darf.
Séjourné bereitet es keine Sorgen, dass die Europäische Union im Bundestagswahlkampf nur am Rande vorkam. Das zeige letztlich nur, dass auch die kommende Bundesregierung eine pro-europäische Haltung vertreten werde. Im Detail muss das nächste Koalitionsbündnis den Fortschritt beim geplanten europäischen Kampfjet Future Combat Air System (FCAS) politisch bewerten. Das Milliardenprojekt dient dazu, in Deutschland den Eurofighter und in Frankreich den Kampfjet „Rafale“ abzulösen. Die nächste Entwicklungsphase des Projekts dauert bis 2027. Die Freigabe aller bis dahin nötigen Gelder hatte die SPD zuletzt im Haushaltsausschuss im Juni an Bedingungen geknüpft.
Der künftigen Bundesregierung wird auch die Diskussion über die Beteiligung am UN-Einsatz in Mali erhalten bleiben. Frankreich ist als ehemalige Kolonialmacht militärisch besonders stark in der Sahel-Zone vertreten, will aber sein Truppenkontingent im kommenden Jahr von 5200 auf weniger als 3000 Soldaten in der Region verringern.
Europäische Union – Dialog und Härte
Wie strikt sollen die Defizitregeln für die Euro-Staaten angewandt werden? Wie wird das Klimapaket der EU umgesetzt? Kommt eine gemeinsame Einlagensicherung bei den europäischen Banken? Das sind drängende Fragen, zu denen in Brüssel Antworten aus Berlin erwartet werden.
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Neben der erwartbaren Agenda könnten für Berlin auch die steigenden Flüchtlingszahlen an der belarussisch-polnischen Grenze zu einem Problem werden. Präsident Alexander Lukaschenko lotst Flüchtlinge aus dem Irak in die EU, um nach der Verhängung von Sanktionen Druck auf die Gemeinschaft auszuüben. Falls die Flüchtlingszahlen steigen, wird sich Berlin entscheiden müssen – zwischen einem harten Vorgehen an den EU-Außengrenzen und einer denkbaren Verteilung von Migranten in der EU.
Mit Polen hängt wiederum die Frage zusammen, wie entschieden die nächste Bundesregierung im Rechtsstaats-Streit auftreten soll. Die EU-Kommission hat beim Europäischen Gerichtshof die Verhängung eines Bußgeldes gegen Polen beantragt, weil die Regierung in Warschau weiterhin an einer umstrittenen Disziplinarkammer am Obersten Gericht festhält, welche die Entlassung nicht linientreuer Richter ermöglicht.
Während die EU-Kommission auf eine strikte Einhaltung der rechtsstaatlichen Kriterien pocht, hatte Merkel zuletzt bei einem Besuch in Warschau auf Dialog gesetzt. „Politik ist doch mehr, als nur zu Gericht zu gehen“, hatte die Kanzlerin gesagt und damit vor allem bei den Grünen heftige Kritik geerntet. Vor allem die Grünen sind aber der Ansicht, dass die künftige Bundesregierung sich mehr als in der Vergangenheit für ein strikteres Vorgehen der EU gegenüber Rechtsstaats-Sündern einsetzen solle.
USA – gemeinsames Vorgehen, bitte
Die große Sorge vieler Transatlantiker ist, dass sich die Regierungsbildung wie vor vier Jahren bereits lange hinziehen könnte und Berlin als Partner erstmal eine Weile ausfällt. Die Regierung von Joe Biden hat versprochen, das durch vier Jahre Donald Trump auf die Probe gestellte transatlantische Verhältnis zu kitten. Doch die Amerikaner sehen die Deutschen in der Verantwortung, mehr Führung innerhalb der EU zu übernehmen.
So wird Washington weiter darauf drängen, dass Berlin seine Verteidigungsfähigkeiten verbessert, also zum Beispiel der Nato-Selbstverpflichtung nachkommt, dass alle Mitglieder zwei Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts in ihr Militär investieren. Je nachdem, welche Koalition regiert, wird dieser Wunsch auf wenig oder gar keine Gegenliebe stoßen.
Nur schwer vorstellbar ist hier nicht nur für Amerikaner, was passieren würde, wenn die Linke, die den Nato-Austritt Deutschlands fordert, Teil einer Regierung würde. Da aber die Amerikaner sich aus manchen Regionen zurückziehen, um sich stärker auf Asien und China zu konzentrieren, bedeutet das zwangsläufig mehr Verantwortung für Europa und die Deutschen bei der Suche nach Lösungen für Konflikte in der eigenen Nachbarschaft.
Zwar hegen nicht nur die Franzosen, sondern auch viele Deutsche den theoretischen Wunsch, dass die europäische Verteidigungspolitik unabhängiger von den USA wird, aktuell gerade besonders im indopazifischen Raum, wo weder die Franzosen noch die Europäer über den neuen Sicherheitspakt zwischen den USA, Großbritannien und Australien vorab informiert worden waren... Nur: Wie diese ersehnte „strategische Autonomie“ praktisch erreicht werden soll, ist eine offene Frage.
Biden hofft zudem, dass sich Deutschland mit dafür stark macht, eine gemeinsame Strategie des Westens gegenüber China und Russland zu finden. Dass die EU unmittelbar vor Bidens Amtsantritt und ausgerechnet während der deutschen Ratspräsidentschaft ein Investitionsabkommen mit China abschloss, war ein bitteres Begrüßungsgeschenk.
Und hier droht auch weiterhin Enttäuschung. Deutschland ist viel stärker vom Handel mit China abhängig und liegt geografisch viel näher an Russland als die USA. Daher wird jede Bundesregierung genau abwägen, wie groß der Schaden ist, wenn sie zum Beispiel offen Kritik an Menschenrechtsverletzungen äußert. Mit Interesse wurde in den USA indes aufgenommen, dass die grüne Spitzenkandidatin Annalena Baerbock im Wahlkampf häufig US-nahe Positionen etwa bei der Gas-Pipeline Nord Stream 2 oder gegenüber China fand.
Der Konflikt mit dem Iran ist ein weiteres Thema, bei dem ein gemeinsames transatlantisches Vorgehen wünschenswert wäre. Die Biden-Regierung hat signalisiert, dem von Trump gekündigten Atomabkommen wieder Leben einhauchen zu wollen. Weniger Interesse scheinen die Amerikaner dagegen an den Entwicklungen im Irak, Syrien oder Afghanistan zu haben. Mit den Konsequenzen zum Beispiel mit Blick auf die Zahl der Flüchtlinge werden eher die Europäer konfrontiert werden.
Ein Problem bleibt mit Blick auf eine intensivere Zusammenarbeit auch: Der US-Senat hat bisher gerademal zwei Botschafter Bidens bestätigt. Die designierte Statthalterin in Berlin, Amy Gutmann, ist nicht darunter. Und wann die Republikaner um den texanischen Senator Ted Cruz ihre Blockadehaltung aufgeben, ist nicht absehbar. Cruz hat angekündigt, Dutzende Nominierungen für die Führungsebene des Außenministeriums zu verzögern, solange Biden nicht gegen die umstrittene Nord Stream 2 vorgeht.
Russland – Vorteil für Putin
Der wertvollste Trumpf gegenüber Putin ist mit dem Regierungswechsel perdu: Erfahrung im Umgang mit dem russischen Autokraten und die persönliche Erinnerung, was hinter verschlossenen Türen in den vergangenen 16 Jahren vereinbart wurde. Merkel konnte Putin vorhalten: Du weißt doch, was du mir 2015 versprochen hast mit Blick auf die Krim und den Friedensprozess in der Ostukraine?
Egal um welches Thema es geht, von der Syrienpolitik samt dem Migrationsdruck über die Gaspipeline Nord Stream 2 bis zu Hackerangriffen – über dieses institutionelle Gedächtnis verfügt Merkels Nachfolger nicht, ebenso wenig über ihre Russischkenntnisse und ihre Vertrautheit mit der politischen Kultur im Kreml. Putin kann gegenüber dem nächsten Bundeskanzler abstreiten, dass rote Linien im Umgang mit der Opposition wie etwa Giftanschläge auf Alexej Nawalny besprochen wurden; und drohende Konsequenzen, wenn russische Geheimdienstler erneut einen Mordanschlag wie im Berliner Tiergarten verüben; oder Bedingungen, unter denen Sanktionen gelockert werden können.
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Insofern wird die Lage für Putin einfacher. Er hat die Chance zu einem „Restart“ mit der neuen Koalition, seine Altlasten wiegen dabei weniger schwer. Andererseits bringen die Grünen als mutmaßliche Regierungspartei den Willen mit, härter auf Verletzungen der Menschenrechte in Russland zu reagieren und den Kreml wegen seiner Klimabilanz zur Rede zu stellen. Die SPD zeigt die Tendenz zu mehr Entgegenkommen gegenüber Putin.
In der Summe ergeben sich für beide Seiten Optionen, die deutsche Russlandpolitik zu modifizieren. Ein radikaler Kurswechsel ist jedoch unwahrscheinlich. Der wird die Entschlossenheit der nächsten Regierung in Berlin testen: Wie ernst nimmt sie ihre Bündnispflichten an der Ostflanke der Nato? Wie intensiv tritt sie für die Interessen der Opposition in Belarus ein und für die Zusagen an die Ukraine, dass Nord Stream 2 nur in Betrieb gehen und in Betrieb bleiben kann, wenn es parallel beim Energietransit durch die Ukraine bleibt? Und gibt sie nach, wenn er den Gaspreis oder neue Flüchtlingsströme als Druckmittel einsetzt? Diesen Test müssen die Neuen erstmal bestehen.
China – rigoroses Selbstbewusstsein
Die Freilassung der willkürlich festgenommenen Kanadier Michael Kovrig und Michael Spavor an diesem Wochenende verdeutlicht das Problem, vor dem die künftige Bundesregierung im Umgang mit der Volksrepublik steht: ein machtbewusstes und selbstbewusstes China, das sogar vor Geisel-Diplomatie nicht zurückschreckt, um seine Interessen durchzusetzen. Längst ist klar, dass Merkels freundlicher Kurs gegenüber dem zunehmend autoritären China unter Präsident Xi Jinping nicht fortgesetzt werden wird. Das erhoffen sich auch die USA und die Europäische Union, die China als systemischen Rivalen betrachten und nicht mehr wie Merkel in erster Linie als Wirtschaftspartner.
Besonders die FDP und die Grünen setzen sich für eine stärker werteorientierte Politik gegenüber China ein. Sie fordern chinesische Verstöße gegen universelle Menschenrechte stärker zu sanktionieren, etwa die Unterdrückung der uigurischen Minderheit in der westchinesischen Provinz Xinjiang. Auch die schwindende Autonomie der Sonderverwaltungszone Hongkong solle Konsequenzen haben, fordern sie. SPD und Union sind etwas weniger rigoros. Markus Söder (CSU) warnte zuletzt vor einer „kompletten Belehrungsdogmatik“ gegenüber China und sagte, es gebe auch deutsche Wirtschaftsinteressen zu wahren. Für das von Merkel vorangetriebene Investitionsabkommen der Europäischen Union mit China sieht es zurzeit allerdings nicht gut aus. Auch ein Zeichen, dass sich die Zeiten geändert haben.
Nahost – weniger Waffen, schärferer Ton
Die deutsche Nahost-Politik dürfte sich verändern, zum Beispiel bei Waffenexporten. Die Region gehört zu den Hauptabnehmern deutscher Militärgüter. Von 2017 bis 2019 machten Ägypten, Algerien, Katar, Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate nach einer Analyse der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) mit rund 6,1 Milliarden Euro etwa ein Drittel des Gesamtwerts der Rüstungsexportgenehmigungen aus. Stephan Roll von der SWP erwartet nach der Wahl eine Neuregelung der deutschen Waffenexportpolitik. Zwar werde es keine 180-Grad-Wende geben. „Aber bei einer veränderten Regierungskoalition könnten die Golf-Monarchien und die Staaten Nordafrikas weniger Waffen erhalten als bisher.“
Die neue Bundesregierung wird zudem vor der Frage stehen, ob sie zur Verhinderung einer Massenflucht aus Afghanistan enger als bisher mit dem Iran zusammenarbeiten soll. Teheran droht damit, die schon jetzt mehr als zwei Millionen afghanischen Flüchtlinge nach Europa weiterzuschicken.
„Der Iran wird versuchen, die Flüchtlingsfrage in den Beziehungen zu den Europäern als Druckmittel einzusetzen“, sagt Ali Fathollah-Nejad, Iran-Experte an der FU Berlin. Teheran wolle die Europäer zu Zugeständnissen in den Verhandlungen über das iranische Atomprogramm bewegen. Da auch deutsche Politiker forderten, zur Verhinderung einer Fluchtwelle aus Afghanistan nach Europa mit Afghanistans Nachbarn zu sprechen, „könnte die iranische Strategie durchaus Erfolg haben“.
Fathollah-Nejad plädiert dafür, statt der Unterstützung für autokratische Regime die Menschenrechte und die Stärkung der Zivilgesellschaften in den Mittelpunkt der Nahost-Politik zu stellen. Ob nach der Wahl eine solche Neuorientierung eingeleitet wird, ist zwar fraglich. Roll hält es aber immerhin für denkbar, dass die neue Bundesregierung die Menschenrechtsprobleme im Nahen Osten offener ansprechen wird als bisher.
Mehr Kritik aus Deutschland kommt auch auf die Türkei zu. Die scheidende Bundesregierung sah sich in der Vergangenheit dem Vorwurf der Leisetreterei gegenüber der autokratischen Regierung in Ankara ausgesetzt. „Es wird härtere Töne geben“, sagt Ebru Turhan, Europa-Expertin an der Türkisch-Deutschen Universität in Istanbul. Einen Bruch mit Ankara erwartet sie nicht.
Das besondere Verhältnis zum jüdischen Staat wird besonders bleiben – egal, wer in Berlin das Sagen hat. Auf die Frage, wie es denn um die deutsch-israelischen Beziehungen bestellt sei, gibt es in Jerusalem fast immer die gleichlautende Antwort: sehr gut! Das heißt aber nicht, dass nur eitel Sonnenschein herrscht. Auch in den 16 Merkel-Jahren gab es zuweilen Dissonanzen.
Die scheidende Regierungschefin gilt als erklärte Freundin des Landes am Mittelmeer. Keiner hat ihren in der Knesset gesprochenen Satz vergessen, wonach die Sicherheit Israels deutsche Staatsräson ist. Daran wird die Politik der Bundesrepublik gemessen. Doch Merkel nahm sich stets die Freiheit, einen wie Benjamin Netanjahu wissen zu lassen, wenn ihrer Meinung nach etwas schief lief. So prangerte sie die Siedlungspolitik des rechtsgerichteten Premier an.
Denn auch daran ließ Merkel nie einen Zweifel: Eine Zweistaatenlösung mit den Palästinensern besitzt für Deutschland Priorität. Die künftige Regierung wird daran nicht rütteln. Das wissen die Verantwortlichen in Jerusalem. Aber der Nahostkonflikt besitzt für den jüdischen Staat schon lange keine nennenswerte Bedeutung mehr. Jerusalem treibt vor allem die atomare Aufrüsten Irans um – und wünscht sich von Deutschland mehr Engagement, um Teheran in die Schranken zu weisen.