Analyse zu den neuen Bundesländern: „Der Osten hat mehr Einfluss als jede andere Region“
Warum leben Ostdeutsche 30 Jahre nach der Wende in einer eigenen Welt? Warum wählen sie häufiger AfD? Politikwissenschaftler Wolfgang Schroeder im Gespräch.
Wolfgang Schroeder untersuchte für seine Habilitation den Wandel industrieller Beziehungen in Ostdeutschland. Er ist Professor an der Universität Kassel und leitet dort das Fachgebiet „Politisches System der BRD-Staatlichkeit im Wandel“. Seit 2016 ist er Fellow am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB). Mit Bernhard Weßels gab er das Buch „Smarte Spalter. Die AfD zwischen Bewegung und Parlament“ heraus.
Herr Professor Schroeder, sind die Ostdeutschen undankbar?
Ich halte diesen Vorwurf für falsch. Die Ostdeutschen haben enorme Anstrengungen unternehmen müssen, um sich in diesem System zu verankern. 80 Prozent der Ostdeutschen haben allein im Zeitraum von 1990 bis 1995 ihren Arbeitsplatz verloren. Oder ihr Arbeitsplatz wurde so umgestaltet, dass sie mit ihren bisherigen Kenntnissen dort nicht mehr mithalten konnten. Ihnen wurden in kurzer Zeit Veränderungen zugemutet wie keiner Bevölkerungsgruppe in Westdeutschland in den vergangenen 40 Jahren.
Aus westlicher Perspektive heißt es dagegen oft, mehrere Hundert Milliarden Euro seien in den Aufbau Ost geflossen, aber trotzdem weigerten sich viele Ostdeutsche, in der Bundesrepublik anzukommen…
Bevor wir über Mentalitäten reden, sollten wir uns die Strukturen ansehen. Ostdeutschland ist die verlängerte Werkbank des Westens. Ohne die Verlagerung der westlichen Wertschöpfungsketten nach Ostdeutschland wäre das Wohlstandsniveau im Westen geringer. Allerdings haben die Firmen dort nur in seltenen Fällen auch Forschungs- und Entwicklungsabteilungen etabliert. Und nur dort sind die komplexen Aufgaben angesiedelt, die gut bezahlt werden. Dagegen ist der Niedriglohnsektor mit 40 Prozent doppelt so hoch wie im Westen. Wer zu solchen Bedingungen arbeitet, kann mit seiner eigenen Arbeit keinen eigenen Rentenanspruch aufbauen. Ein Westdeutscher hat im Schnitt 200.000 Euro Vermögen, ein Ostdeutscher nur 70.000.
Führt das zu Unzufriedenheit?
Das allein nicht. Die Ostdeutschen sind im Durchschnitt ähnlich zufrieden mit ihrem Leben wie die Westdeutschen. Gleichzeitig gibt es ein großes Unbehagen wegen der Stellung des Ostens in Gesamtdeutschland. Aber im Zentrum der öffentlichen Debatte steht nicht die ökonomische Lage. In ihr geht es vor allem um Identitäts-, Anerkennungs- und kulturelle Fragen. Verteilungsfragen werden kaum mehr öffentlich verhandelt. Und wenn sie verhandelt werden, finden sie kaum Resonanz. Selbst in den Gewerkschaften ist eine Solidarität zwischen Ost- und West kaum gegeben. Öffentlich geht eher darum, wer hat das Sagen bei der Klimawende, bei Lebensführungs- und Geschlechterfragen.
Der Ostbeauftragte der Bundesregierung, Marco Wanderwitz sagt, die Diktaturerfahrung der DDR verhindere, dass ein Teil der Ostdeutschen in der Demokratie ankommt. Andere, wie etwa die ostdeutsche Historikerin Christina Morina, verweisen dagegen auf die Nach-Wende-Erfahrung. Wer hat recht?
Natürlich wirkt die Prägung durch die Diktatur weiter. Aber entscheidend ist die Erfahrung der Transformation nach der Einheit und die Struktur der Gesellschaft. Die Spaltung zwischen Stadt und Land ist im Osten ausgeprägter als im Westen. In der gesamtdeutschen und europäischen Wirtschaftsstruktur nehmen die neuen Länder vor allem die Funktion des Zulieferers ein. Aufstieg aus eigener Leistung wird für die dort Beschäftigten dadurch sehr schwierig, das prägt auch die Gesellschaft. Die gleichen Chancen, die die Politik verspricht, sie sind für Ostdeutsche nicht gegeben.
Bei der Wahl in Sachsen-Anhalt vor einer Woche ist die AfD zum zweiten Mal weit mehr als 20 Prozent geholt. Woher kommt diese Affinität zu autoritären Angeboten?
Die Prägung durch die DDR haben wir erwähnt, die Erfahrung der Transformation auch. Dazu kommt: Die eher schwache Struktur der Zivilgesellschaft. Dabei ist sie eine wichtige Schule für die Demokratie, indem sie durch Prozesse der Verhandlung, der Konfliktaustragung, der Entwicklung von Respekt über Vereine und andere Gesellschaften eine Voraussetzung für demokratische Kultur legt. Diese Einübung macht im Osten nur zögerliche Fortschritte, in vielen ländlichen Gebieten fehlt es daran fast völlig. Ich möchte nur daran erinnern: Das ist ein Verhalten, das in Westdeutschland auch erst mühsam erlernt werden musste. In diesen Zusammenhang gehört übrigens auch die Art und Weise, wie die Einheit vollzogen wurde.
Warum, die ist doch bald 30 Jahre her?
Der Einigungsprozess ist bis heute eine Quelle von Unmut. Die Institutionen – von den Parteien bis zu den Gewerkschaften, von den Wohlfahrtsverbänden bis zu den Sozialversicherungen - wurden mit dem Beitritt durch Bundestagsbeschluss aus dem Westen übernommen, da war wenig Platz und Bedarf für eigenes Engagement und politische Kreativität. Das schuf mehrere Probleme. Denn diese Institutionen waren schon im Westen nicht mehr auf der Höhe der Zeit. Und sie sind im Osten auf Mentalitäten und Lebensbedingungen gestoßen, zu denen sie nicht passten. Diese doppelte Schlagseite hat bis heute ihre Spuren hinterlassen. Es gibt nur wenige positive Beispiele, wo sich Osterfahrung und Ostkompetenz doch noch gegen die westlichen Präferenzen durchsetzen konnten, etwa die Polikliniken und Ärztezentren, die anfangs abgeschafft werden sollten, sich aber als weit besser herausstellten als andere Modelle. Sie sind heute Standard in ganz Deutschland.
Noch einmal: Warum hat die AfD im Osten mehr Erfolg als im Westen?
Wir sprechen nicht über die Ostdeutschen insgesamt, sondern über ein bestimmtes Milieu, das es in Westdeutschland auch gibt, das dort aber nicht so stark, nicht so artikulationsfähig ist und auch nicht eine solche Dynamik an seiner Seite weiß. Es ist vor allem auf dem Land stark und in solchen städtischen Gebieten, wo die Modernisierungsverlierer wohnen. In Halle-Neustadt holt die AfD doppelt so viele Stimmen wie in Halle-Altstadt.
Wieso ist die AfD auf dem Land so stark?
Das hat auch etwas mit fehlenden, überzeugenden Personalangebot der AfD-Konkurrenten zu tun. In diesem Zusammenhang ist die Sozialfigur des Handwerkers interessant. Sie sind ökonomisch erfolgreich, sind beliebt und notwendig, weil sie den Laden zusammenhalten, haben aber selbst den Eindruck, in der öffentlichen Debatte tauchen sie gar nicht auf. Sie verstehen sich als Leistungsträger, leiden unter einem Staat, den sie als übergriffig und regelungswütig empfinden. Gleichzeitig sind sie Multiplikatoren, was sie sagen, erreicht und überzeugt viele andere Menschen. Im Westen sind viele Handwerker auch unzufrieden oder nörgelig. Sie stellen sich aber nicht gegen das politische System, weil sie gut eingebunden sind etwa in die Mittelstandsvereinigung der CDU, in der FDP oder der Handwerkskammer. Dort haben sie auch die positive Erfahrung gemacht, dass ihre Interessen und Anregungen aufgenommen werden und politische Wirkung zeigen. Diese positive Erfahrung fehlt Handwerkern im Osten.
Anderen Parteien im Osten fällt es offenbar schwer, ein besseres Angebot zu machen als die AfD. Wie erklären Sie das?
Weil sie nur bedingt repräsentativ für die Bevölkerung sind und viele Menschen sich in ihnen nicht wiedererkennen. Denken Sie an die Ost-SPD, die 1989 in Schwante als Pastoren-, Ingenieurs- und Tierärzte-Partei gegründet wurde. Bei der CDU, der FDP und erst recht bei den Grünen ist die Prägung durch Akademiker ähnlich. Sie stehen nur für einen kleineren Teil der Gesellschaft, für die Gewinner der kulturellen Revolution und der akademischen Revolution. Das schafft ein enormes Repräsentationsproblem. Die AfD im Osten ist dagegen eine Partei, in der Menschen an der Spitze mitwirken, die als Autohändler, Hausmeister oder Handwerker die Sprache der Menschen sprechen. Darin erkennen sich viele wieder.
In Sachsen-Anhalt wird die AfD vom Verfassungsschutz beobachtet. Warum wirkt das nicht abschreckend auf ihre Wähler?
Ein Grund ist: Der Verfassungsschutz gilt manchem im Osten als eine Art Stasi, und wer in der DDR von der Stasi beobachtet wurde, gehörte zu den Guten. Außerdem überzeugt das Agieren des Verfassungsschutzes viele nicht. Erst kommen große Ansagen, aber dann beobachten die Leute, dass darauf wenig folgt für die AfD. Die AfD-Wählerinnen und Wähler sehen, dass die AfD mit ihrer aggressiven Art Aufmerksamkeit gewinnt und gehört wird. Das funktioniert nach dem Motto: Es lohnt sich doch, den anderen Parteien einen mitzugeben, mithilfe der AfD zwingen wir die, uns stärker zu berücksichtigen. Wenn am Wahlabend die Balken der AfD noch oben gehen, haben ihre Wählerinnen und Wähler Wirkung erzielt und fühlen sich wahrgenommen.
In den neuen Ländern leben nur 15 Prozent aller Deutschen. Haben ihre Haltungen und hat ihr Wahlverhalten Einfluss in ganz Deutschland?
Mein Eindruck ist: Der Osten hat politisch mehr Einfluss als jede andere Region in der Bundesrepublik. Das gilt historisch: Denken Sie nur an den Wahlsieg Helmut Kohls in der ersten gesamtdeutschen Wahl. Die Schwäche der SPD im Osten wirkt sich auch auf den Einfluss dieser Partei in ganz Deutschland aus. Die Entwicklung der Grünen von einer offen fundamentalistischen zu einer pragmatisch-flexiblen ökologischen Partei wäre ohne den Einfluss von Bündnis 90 nicht möglich gewesen. Und noch eine ganz wichtige Entwicklung: Die westdeutsche Rechte hat Ostdeutschland als die Region erkannt, die besser als jede andere für ihre Zwecke entwickelt werden kann. Die entscheidenden Figuren der rechtsextremen Szene im Osten sind Westdeutsche. Die AfD hat sich zum Sprachrohr der ländlichen Gesellschaft im Osten gemacht – und wirkt damit jedoch weit über die Grenze zwischen Ost- und Westdeutschland hinaus.
Das müssen Sie erklären…
Die Erfolge der AfD im Osten lösen ja auch im Westen ein Nachdenken darüber aus, was in der Gesellschaft und Politik Gesamtdeutschlands möglicherweise schiefläuft und wie sich verhindern lässt, dass sich ganze Gruppen von Menschen an den Rand gedrängt fühlen. Deshalb ist meine These: 30 Jahre deutsche Einheit war und ist auch peripherie-getriebener Wandel von Ostdeutschen. Aus dem Osten kommen Aufschläge, die die Integrationsfähigkeit des gesamten Systems betreffen. Insofern ist die Ostdeutschland-Frage für jeden, der in der Bundesrepublik regiert, ein Gradmesser, ob er gute Arbeit leistet und dieser Herausforderung überhaupt gewachsen ist.
Der Osten hat in 30 Jahren Umbruch-Kompetenz gewonnen. Lässt sich die für Zukunft fruchtbar machen?
Es gab sehr verschiedene Reaktionen auf den Umbruch. Viele Menschen haben die neuen Länder verlassen; die meisten sind nicht wiedergekommen. Sachsen-Anhalt etwa hat seit 1990 ein Viertel seiner Einwohner verloren. Eine andere war: Viele Menschen haben sich fortgebildet, was nicht immer zu einem besseren Job führte. Die Umbruchkompetenz bestand darin, sich nicht entmutigen zu lassen und trotzdem weiterzumachen. Eine solche Haltung kann wertvoll werden. Denken Sie an das Milliarden-Paket zur Klimawende, bei dem es darum geht aus einer alten Industrie ökologische, nachhaltige Unternehmen zu schaffen. Der Weg zur E-Mobilität könnte in Ostdeutschland zum Durchbruch gebracht werden. Chemnitz, Zwickau und Grünheide wären dann nicht nur für die Autoindustrie, sondern auch für Ostdeutschland positive Hotspots, die sich auch auf die politische Kultur auswirken könnten, wenn es gelingt daraus eine neue ostdeutsche Erfolgsgeschichte zu stricken, die alle mitnimmt.