Wie radikal ist Ostdeutschland?: Der Osten braucht mehr Zuwendung - über den Wahltag hinaus
Manche Menschen sind für die Demokratie verloren. Die Mehrheit der ostdeutschen Wechselwähler nicht. Ihre Sorgen hat die Politik vernachlässigt. Ein Kommentar
Die schon wieder. Pünktlich zur Landtagswahl in Sachsen-Anhalt erlebt Deutschland mal wieder eine Ost-Debatte. Die Frage diesmal: Sind Teile der Menschen zwischen Ostsee und Erzgebirge, auch wegen ihrer Diktatur-Erfahrungen, nicht mehr für die Demokratie zu gewinnen? Die Antwort ist, wie immer in Ostdeutschland, nicht einfach. Aber die Mühe lohnt sich, hier besonders.
Sachsen-Anhalt hat 700.000 Menschen verloren
Ja, die DDR hat tiefe Spuren in den Seelen vieler Generationen hinterlassen. Genauso die schnelle Einheit zu Bonner D-Mark-Bedingungen, die sich die meisten Ostdeutschen gewünscht, aber ganz anders vorstellt hatten. Gerade in strukturschwachen Gebieten verheilen die Wunden des radikalen Strukturwandels sehr langsam. Sachsen-Anhalt hat nach der Stilllegung veralteter Chemie- und Maschinen-Fabriken und dem Abbau des Bergbaus seit der Einheit fast 700.000 Menschen durch Wegzug verloren – nahezu ein Viertel der Bevölkerung.
Bei den Zurückbleibenden kann das Resignation fördern, erst recht, wenn Rechtsradikale entleerte öffentliche Räume mit Wut und Hass füllen. Mit Mut zur klaren Abgrenzung und mutmachender Strukturpolitik dagegenzuhalten, hat die Politik über viele Jahre versäumt. Die Quittung dafür kommt der Demokratie teuer zu stehen: Viele Menschen reisen innerlich aus, nehmen am demokratischen Leben kaum teil, bleiben schwer erreichbar. Soll man sie deshalb aufgeben?
Wenn nun der Ostbeauftragte der Bundesregierung, Marco Wanderwitz, im Osten eine stärkere Neigung zur Wahl rechtsradikaler Parteien als im Westen beklagt, hat er Recht. Wenn er in einem FAZ-Podcast von Menschen spricht, „die teilweise in einer Form diktatursozialisiert sind, dass sie auch nach 30 Jahren nicht in der Demokratie angekommen sind“, hat er teilweise Recht. Laut der letzten Autoritarismus-Studie der Universität Leipzig hat fast jeder zehnte Ostdeutsche eine „manifeste rechtsextreme Einstellung“, im Westen sind es nur drei Prozent. Dass hier gelernte und weitergegebene Autoritätsgläubigkeit eine Rolle spielt und viele Leute kaum für den demokratischen Meinungsstreit zu gewinnen sind, ist leider eine oft erlebte Erfahrung. Aber da sind eben auch die anderen 90 Prozent. Oder besser: vor allem die anderen 90 Prozent.
Die unradikale Mehrheit der Ostdeutsche gehört in den Vordergrund der öffentlichen Debatte. Ihre anhaltenden Sorgen über anhaltend ungleiche Lohn-, Eigentums- und Lebensverhältnisse müssen das ganze Land sorgen. Die noch junge Demokratie braucht sie. Über den Wahlabend hinaus.
Ein Ost-Beauftragter darf auch unbequem für den Osten sein
Gerade im Sinne des demokratischen Austauschs darf ein Ost-Beauftragter auch unbequeme Wahrheiten aussprechen, mit denen sich der Osten auseinandersetzen muss. Nicht immer war der Westen schuld. Oder, trotz ihrer desaströsen Privatisierungspolitik, die Treuhand. Darauf aus dem Osten heraus hinzuweisen, erfordert Mut; erst recht von einem CDU-Politiker kurz vor einer Wahl, in der die im Osten besonders extreme AfD erstmals die CDU überholen könnte. Der Mut zur klaren Kante hat vielen CDU-Politikern in Ostdeutschland lange gefehlt. So wurde der rechte Rand stark gemacht.
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Der Demokratie im Osten auf Dauer hilft nur eine zugewandte Strukturpolitik, wirtschaftlich wie gesellschaftlich: Ärztehäuser und Bahnlinien auf dem Land, mehr Ostdeutsche in gesamtdeutschen Führungspositionen. Für die volatilen Protestwähler im Osten, die lange die Linkspartei als Werkzeug benutzten, um auf sich aufmerksam zu machen, und nun auch einen gewichtigen Teil der AfD-Wähler ausmachen, muss die Politik mehr Angebote machen – zum Mitmachen, wenigstens zum Gespräch.
Nur beharrliches Werben um jede Einzelne, um jeden Einzelnen zeigt den in ihrer Heimat bleibenden Menschen, dass sie wahrgenommen werden. So entscheidet sich der Kampf um Demokratie. Auch für einen Ost-Beauftragten. Die schon wieder? Jede Ost-Debatte ist eine Debatte fürs ganze Land. Über den Umgang mit dem inzwischen dauerhaften Strukturwandel – wie man dabei Menschen aktiv mitnimmt und sie sich nicht passiv in sich zurückziehen lässt. Über Demokratie reden heißt: Wir schon wieder.