Sachsen-Anhalt wählt: Das Eigentlich-Egal-Land, das heute schocken könnte
Ein Bundesland, das viele nur vom Durchfahren kennen, wählt heute – und die ganze Republik schaut auf das Ergebnis für die AfD. Was ist da los? Eine Analyse.
Viele Sachsen-Anhalter hatten im vergangenen Herbst einige Hoffnungen in ihre Landeshauptstadt gesetzt, mitgezittert. Die Elbstadt wollte immerhin Kulturhauptstadt Europas 2025 werden. „Raus aus der Leere“ war das Motto der Bewerbung. Erzählt man Schwaben, Bayern oder Sachsen davon, wird oft ungläubig geguckt. Was, bitte? Für sich selbst damit zu werben, aus der Leere, dem Nichts, ausbrechen zu wollen, passt nicht in die Gedankenwelt selbstbewusster Häuslebauer oder Freistaatler.
Industrieruinen, Arbeitslosigkeit und weite Kartoffeläcker tauchen vor dem inneren Auge auf. Dabei ist Magdeburg längst nicht mehr so leer wie einst. Aber vielleicht ist der fast überehrliche Slogan gerade deshalb typisch für das ganze Land Sachsen-Anhalt - im Guten wie im Schlechten. Es ist ein Land mit großer Geschichte, dem die guten Geschichten abzugehen scheinen.
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Es ist auch ein Bundesland auf der Suche nach Identität, einem Wir. Heißen die Menschen hier Sachsen-Anhalter oder Sachsen-Anhaltiner? Da sind sich nicht mal alle Sachsen-Anhalter sicher. Was sagt das über ein Bundesland, wenn es vor allem durch eine zynische Imagekampagne der Landesregierung bekannt wurde? Land der Frühaufsteher. Zynisch? Ja. Sachsen-Anhalter standen damals vor allem deshalb neun Minuten früher auf als Durchschnittsdeutsche, weil sie besonders weite Wege zur Arbeit pendeln mussten. Ansonsten war da lange das „Rote-Laterne-Image“: höchste Arbeitslosigkeit, wenigste Gründungen, kaum Kaufkraft, besonders viele Nazis, klassisch Osten, jaja. Dabei ist es vielerorts längst anders.
Die AfD ist hier besonders radikal
Die amerikanische Essayistin Joan Didion hat einmal den wunderbaren Satz geschrieben: „Wir erzählen uns Geschichten, um zu leben.“ Aber was macht das mit Land und Menschen, wenn gute Geschichten rar sind?
Wenn an diesem Sonntag der neue Landtag gewählt wird, ist das Bild von Sachsen-Anhalt in vielen Köpfen klar: Es ist das vom Eigentlich-egal- Land, das den Rest der Republik mit einer starken AfD nervt und mit Menschen, die so gestrig wirken. „Diktatursozialisiert“, wie es der Ostbeauftragte der Bundesregierung, Marco Wanderwitz (CDU), kürzlich ausdrückte, und mit noch so guter Politik nicht wiederzugewinnen, verloren.
In den Vorwahl-Umfragen ist es zumindest vereinzelt so knapp zwischen CDU und AfD, dass über einen Wahlsieg der hier besonders radikalen Rechtsaußenpartei spekuliert wird - den Dammbruch also.
Ein Zufall ist das nicht. Politische und soziokulturelle Entwicklungen zeigen sich in Sachsen-Anhalt oft so ausgeprägt und frühzeitig wie kaum irgendwo sonst. Schon bei der vergangenen Wahl 2016 holte die AfD hier 25 Prozent, so viele Stimmen wie nie zuvor. Nach der Wiedervereinigung schlug hier die Deindustrialisierung des Ostens besonders tiefe Schneisen.
Landflucht, Industrieruinen, Hartz-IV-Demonstrationen
Vom Maschinenbau in Magdeburg und den Chemieunternehmungen in der Gegend um Halle und Bitterfeld blieben oft nur Ruinen, Erinnerungen und Enttäuschte zurück. In den Nullerjahren konnte man auf der Straße abzählen: 1, 2, 3, 4, arbeitslos. 1, 2, 3, 4, arbeitslos. Die DVU schaffte es schon 1998 als Neonazi-Partei mit 13 Prozent der Stimmen in den Landtag, 2004 begannen die Montagsdemonstrationen gegen die Hartz-IV-Gesetze dort.
Mehr als 500 000 Menschen verschwanden seit der Wende aus dem Land. Die Stadt Dessau-Roßlau ist heute mit einem Altersschnitt von 49,5 Jahren die älteste der Republik. Auch das ist ein Vorbote auf etwas, das vielen Landstrichen bevorstehen könnte. Der Landtag von Sachsen-Anhalt ist Laboratorium für politisch Neues: vom Magdeburger Modell über die Kenia-Koalition bis hin zu Gedanken an eine aus vier Parteien bestehenden Simbabwe-Koalition.
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Anders, als man es aus dem Bundesland der Horrormeldungen vermuten könnte, sind dessen Einwohner heute recht zufrieden: Im Glücksatlas stehen die Sachsen-Anhalter auf Platz sechs, nur einen Platz hinter dem reichen Freistaat Bayern, deutlich vor allen anderen Ost-Ländern und Berlin. Matthias Brenner, der Intendant des Neuen Theaters Halle, sprach jüngst von einer Art „innerer Bescheidenheit“ der Sachsen-Anhalter, die leider nicht besonders einladend wirke - aber vielleicht umso sympathischer ist. Gleichzeitig halten 69 Prozent der Menschen ihr Land laut einer MDR-Umfrage für unattraktiv.
Taucht das Stichwort Sachsen-Anhalt in der überregionalen Berichterstattung auf, dann meist negativ: das antisemitische Attentat von Halle, der noch immer unaufgeklärte Tod des Asylbewerbers Oury Jalloh im Dessauer Polizeigewahrsam, manchmal wird auch über Außenseiterhaftes der Kopf geschüttelt, wie die 86-Cent-Kontroverse um den Rundfunkbeitrag, dann wieder geht es um Abwanderung oder rechte bis rechtsextreme Umtriebe im Land. Ja, auch das passiert alles in diesem Land. Ansonsten sind viele nur mal durchgefahren. „Reicht ja auch“, wird dann oft ergänzt.
Die dunklen Jahre sind eigentlich vorbei. Längst ist der Bevölkerungsrückgang gestoppt. Wenn in anderen Regionen die Familie rund um die Weihnachtszeit besinnlich unter dem Tannenbaum zusammensitzt, werden in Sachsen-Anhalt erfolgreich „Rückkehrertage“ veranstaltet. Sie sind aus der Not des Fachkräftemangels geboren, zeugen aber von neuem Selbstbewusstsein: Im Jahr 2018 sank die Arbeitslosenzahl erstmals seit der Wiedervereinigung auf unter neun Prozent.
Dessau, mit den vielen alten Leuten, soll ein Zentrum europäischer Impfstoffproduktion werden. Das Unternehmen IDT Biologica will hier monatlich Millionen Dosen Impfstoff produzieren. Städte wie Magdeburg und Halle florieren, sind studentisch, zu großen Teilen durchrenoviert, haben große Pläne: raus aus der Leere. Sind die Sachsen-Anhalter einfach schlechte Geschichtenerzähler?
Man ist eher "Ossi" als Sachsen-Anhalter
Das Bundesland ist nicht historisch gewachsen, sondern ein Kunstgebilde, zusammenpuzzelt aus den ehemaligen DDR-Bezirken Magdeburg und Halle. Es war der Rest, der bei der Neugliederung der Ost-Länder nach 1990 übrig geblieben war. So wissen viele Sachsen-Anhalter auf die Frage danach, was das Bundesland ausmache, auch oft keine deutlich besseren Antworten, als sie der Sänger Rainald Grebe für seinen Song „Sachsen-Anhalt“ sammelte: Erde der Börde, Kartoffeln, Rüben bis zum Harz, Land der Frühaufsteher, Tokio Hotel, so etwas. Man ist eher Altmärker, Magdeburger, Hallenser, Wernigeröder oder Dessauer, dann noch „Ossi“ vielleicht, selten Sachsen-Anhalter.
Nach der Wende gab es hier keinen Sachsen-König wie Kurt Biedenkopf, sondern den SPD-Mann Reinhard Höppner, der zum politikergewordenen Gesicht des Jammerossis wurde, wie der MDR-Journalist Uli Wittstock schreibt. Wie soll so gesunde Identität entstehen? Stattdessen findet man im Bindestrich-Land einen seltsamen Trotz-Stolz. Es ist eine Art regionales Biedermeiertum entstanden, das begrenzt den Verantwortungsraum. Es führt im schlimmsten Fall zur Ausgrenzung Andersdenker und -aussehender.
Seit 2016 regiert eine Not-Regierung
Eine Art Not-Regierung aus CDU, SPD und Grünen regiert seit 2016, ein Kenia-Bündnis. Wieder: das erste seiner Art. Ministerpräsident Reiner Haseloff hat sich inzwischen zum anerkannten Landesvater gemacht, seine Koalition wirkt aber seit Jahren zerfasert und zerstritten. Haseloff hält einige seiner Parteikollegen nur mit Mühe davon ab, Koalitionsträume mit der AfD allzu deutlich auszusprechen. Das Kenia-Bündnis drohte mehrmals, auch daran, zu scheitern - es blieb: aus Alternativlosigkeit.
Die Sachsen-Anhalter selbst sind dagegen eigentlich ganz zufrieden mit dem Zweckbündnis: Anfang Mai gaben in einer Umfrage des MDR 53 Prozent der Befragten der Landesregierung gute Noten. Die Demokratie, hat man das Gefühl, funktioniert hier nicht in erster Linie aus sich selbst heraus, sondern als Abwehrreflex gegen rechts außen. Aus schierer Notwendigkeit, aber auch, weil viele demokratische Institutionen, wie überall im Osten, sonst erst nach und nach Einzug in das Alltagsleben hielten.
Im krassen Gegensatz zur Beziehungslosigkeit zwischen Land und Leuten steht die Verwurzelung der Region in der deutschen Geschichte. Hier gibt es sechs Unesco-Weltkulturerbestätten, so viele wie nirgendwo sonst. Angefangen mit der matt schimmernden Scheibe von Nebra über die einzigartige Altstadt von Quedlinburg und den prächtigen Naumburger Dom. Dazu kommen die Luthergedenkstätten in Wittenberg und Eisleben. Hier liegt die Wiege der Reformation.
Das Wörlitzer Gartenreich 18. Jahrhundert gehört dazu und die Bauhausstätten in Dessau. „Ohne Magdeburg und den Magdeburger Dom sind große Teile der Geschichte des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation nicht denkbar“, sagte der Magdeburger Soziologe David Begrich mal im Deutschlandfunk. Alles war, war, war, werden manche entgegenhalten. Aber so ist es nicht.
Reichen Leuchttürme als Identitätsmarker?
Selbst einer der größten Rückschläge der jüngeren Wirtschaftsgeschichte könnte sich bald revidieren: Das geisterhafte „Solar Valley“ im Süden des Landes, bekannt von Schildern an der Autobahn 9, wird reindustrialisiert. Hier arbeiteten Anfang der Zehnerjahre mehr als 3000 Menschen an Fotovoltaikanlagen, Ministerpräsidenten kamen für schicke Fotos mit Helm, um zu zeigen: Wo Sachsen-Anhalt liegt, ist jetzt vorn. Bis dann 2012 die deutschen Hersteller der Niedrigpreiskonkurrenz aus China Platz machen mussten. Jetzt kehren Hersteller zurück, ein Schweizer Solarmodulhersteller will 3500 Arbeitsplätze schaffen.
Aber reichen solche Leuchttürme als Identitätsmarker? Oder strahlen sie doch an zu vielen vorbei?
Die Menschen seien "veränderungserschöpft", heißt es
Im Wahlkampf wirbt Haseloff mit dem Slogan „Jetzt ist nicht die Zeit für politische Experimente“. Die Kampagne nimmt die Veränderungsmüdigkeit vieler, gerade konservativer, Ostdeutscher auf. Der Soziologe Steffen Mau schrieb kürzlich im „Spiegel“: „Die Erfahrung einer entschwundenen Gesellschaft hat für ein Immer-wieder-Neu nicht empfänglicher gemacht.“ Weite Teile seien „veränderungserschöpft“ - für das einstige Rote-Laterne-Land gilt das umso mehr.
Paradoxerweise kann wohl wenig dem Land mehr schaden als „keine Experimente“. Es braucht ja gerade Neues, Unerwartetes. Das gilt einerseits politisch: Die sieche Kenia-Koalition ist eben keine besonders reizende Werbung für eine lebendige Demokratie. Der Politologe Christian Stecker brachte kürzlich ein Regieren mit wechselnden Mehrheiten ins Spiel, um aus der Pfadabhängigkeit „gegen die AfD“ zu gelangen. Andererseits müsste die Experimentierlust auch gesellschaftlich gelten: Der Raum für Veränderungen ist da. Die Aussagen des Ostbeauftragten Marco Wanderwitz, die einen Status quo betonieren, Gestaltungswillen vermissen lassen, haben dahingehend nicht geholfen.
Der Magdeburger Soziologe David Begrich twitterte nach Wanderwitz' Aussagen, die Kontinuitäten von DDR und Transformationsgesellschaft, die zum Erfolg der extremen Rechten beitrügen, seien hinreichend erforscht, bekannt. Seit 30 Jahren wehre sich dagegen die Zivilgesellschaft, unter schwierigen Bedingungen. „Diese Geschichte wäre Aufmerksamkeit wert“, schreibt Begrich. Mit dem Motto „Raus aus der Leere“ ist Magdeburg im Finale um die Kulturhauptstadt Europas übrigens knapp gescheitert. Der Titel wird nach Chemnitz gehen. Dort werden gute Geschichten womöglich noch dringender gebraucht.