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Hongkongs Einwohner:innen stehen Schlange, um das letzte Exemplar von "Apple Daily" zu kaufen.
© Vincent Yu/dpa

Hongkonger Zeitung „Apple Daily“ schließt: Der lauteste China-Kritiker verstummt

Hongkongs Zeitung „Apple Daily“ ist Geschichte – hier erzählt ein Reporter, wie Peking eine der wichtigsten publizistischen Stimmen in die Knie zwingt.

Am Ende steht ein Rekord. Die letzte Auflage von „Apple Daily“ ist die höchste in der 26-jährigen Geschichte der Zeitung.

Normalerweise druckt das Blatt aus Hongkong 70.000 Exemplare, am Donnerstag waren es nach eigenen Angaben eine Million. Am morgigen Freitag: null. Die Peking-kritische Redaktion schließt, muss schließen. Eine der wichtigsten publizistische Stimmen für Hongkongs Demokratiebewegung verstummt.

„Apple Daily war der lauteste Kritiker der chinesischen Regierung. Ohne diese Zeitung ist Hongkong wie jede beliebige Stadt in Festland-China“, sagt Politikreporter Tom Lee (40), der seinen richtigen Namen aus Sicherheitsgründen nicht veröffentlichen will, am Mittwochabend am Telefon. Nachmittags sei der Redaktion mitgeteilt worden, die Donnerstagsausgabe würde die letzte sein

Dass das Aus bevorstand, war vielen längst klar. „Meine Familie war sehr besorgt, dass ich für meine Texte festgenommen werden könnte, deshalb habe ich am Dienstag gekündigt“, sagt Lee, der 14 Jahre für „Apple Daily“ schrieb. Jetzt verfolge er zu Hause per Youtube-Livestream die letzten Stunden seiner Zeitung.

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Vergangene Woche hatten Hunderte Polizeikräfte die Redaktionsräume durchsucht und Computer beschlagnahmt, darunter den von Tom Lee. Chefredakteur Ryan Law, Herausgeber Cheung Kimhung und drei weitere Mitarbeitende wurden mit Verweis auf das „Nationale Sicherheitsgesetz“ festgenommen, das der Regierung weite Befugnisse gegenüber Regierungskritikern einräumt.

Diese Woche wurde auch Yeung Ching-Kei festgenommen, bekannt als Leitartikler unter dem Namen Li Ping. Ihm wird „Verschwörung mit ausländischen Kräften“ vorgeworfen. Weil Bankkonten der Zeitung eingefroren worden waren, fehlte letztlich auch das Geld zur weiteren Produktion.

„Die Leute fühlen sich, als bekämen sie keine Luft mehr“

Ob er Angst habe? Tom Lee lacht. „Ja, wenn deine Frau dich jeden Tag bittet, endlich Hongkong zu verlassen, kriegst du irgendwann Angst.“ Redaktionell sei zwar bis zuletzt unabhängige Berichterstattung möglich gewesen.

Doch seit der Verabschiedung des „Sicherheitsgesetzes“ im Juni 2020 sei man auch beim traditionell nicht um moderate Töne bemühten „Apple Daily“ vorsichtiger geworden. „Hongkong hat sich sehr verändert im letzten Jahr. Die Leute fühlen sich, als bekämen sie keine Luft.“

Im Sommer 2020 war Jimmy Lai, Gründer und Gesicht von „Apple Daily“, wegen seiner Beteiligung an den pro-demokratischen Proteste von 2019 festgenommen und schließlich zu 20 Monaten Haft verurteilt worden.

Als Kind von China nach Hongkong geflüchtet, wurde der KP-Kritiker als Textilunternehmer reich und schuf 1995 mit „Apple Daily“ eine Medienmarke, die einerseits sensationsheischenden Boulevard voller Sex, Skandal und Rotlicht versprach, aber mit der Zeit auch vermehrt investigative politische Berichte publizierte. Während der Proteste von 2019 stellte das Blatt sich hinter die Demokratiebewegung.

„Apple Daily ist die einzige Zeitung, die nie an ihrer redaktionellen Unabhängigkeit gerüttelt hat und für uns mit Wahrheit und Fakten aufstand“, schreibt eine pro-demokratische Hongkongerin und Teilnehmerin der Proteste dem Tagesspiegel. „Ein Schild der Verteidigung für uns in Zeiten der Erschöpfung.“

Hongkongs Führung will einen scharfen Kritiker loswerden

Es dürfte kein Zufall sein, dass Hongkongs Regierungschefin Carrie Lam gerade jetzt mit „Apple Daily“ ihren schärfsten medialen Gegenspieler loswerden will. Chinas KP, die großen Wert auf symbolische Daten legt, blickt nicht nur dem ersten Jahrestag des „Sicherheitsgesetzes“ am 30. Juni entgegen, sondern begeht am Tag darauf auch ihre 100-Jahrfeier.

„Am 1. Juli muss Carrie Lam der Zentralregierung einen Bericht darüber vorlegen, was sie mithilfe des Gesetzes geleistet hat“, sagt Journalist Tom Lee. „Die Schließung von Apple Daily kann sie jetzt als großen Erfolg präsentieren.“

Bekenntnis zum Produkt: Mitglieder der Redaktion nehmen Abschied von "Apple Daily".
Bekenntnis zum Produkt: Mitglieder der Redaktion nehmen Abschied von "Apple Daily".
© Tyrone Siu/Reuters

Laut der Vereinbarung von 1984 zwischen China und dem Vereinigten Königreich, dessen Kronkolonie Hongkong bis 1997 war, ist der Stadt zwar bis 2047 ein „hoher Grad an Autonomie“ garantiert. Daran will sich Präsident Xi Jinping aber nicht halten. Das Prinzip „Ein Land, zwei Systeme“ ist längst hinfällig – mit ihr die ebenfalls in der chinesisch-britischen Erklärung festgeschriebene Pressefreiheit.

Ein Rest an freier Presse bleibt Hongkong, zum Beispiel das Onlineportal „Stand News“. Wie lange noch, weiß niemand. Die einflussreiche „South China Morning Post“ hat ihre Unabhängigkeit schon 2015 durch den Verkauf an die chinesische Alibaba Group um den Unternehmer Jack Ma eingebüßt.

Auswandern oder einen neuen Job außerhalb der Medienbranche suchen?

Die Sprecherin des Auswärtigen Amts, Maria Adebahr, sagte am Mittwoch, die Schließung von „Apple Daily“ sei „ein weiterer harter Schlag gegen die Pressefreiheit in Hongkong und zeigt abermals, wie das sogenannte Nationale Sicherheitsgesetz selektiv angewandt wird, um gegen kritische Stimmen vorzugehen“.

Es gebe jetzt zwei Optionen, sagt Tom Lee. „Entweder suchen wir uns Jobs außerhalb der Medienbranche. Oder wir wandern aus.“ Viele Kollegen wollten ins Vereinigte Königreich, nach Kanada oder Taiwan ziehen. Die letzten Tage seien „wie eine große Abschiedsparty“ gewesen. „Die Leute versammelten sich in der Redaktion, um zusammen zu trinken und zu essen, Fotos zu machen. Um mit schönen Erinnerungen zu gehen.“

Die letzte Titelseite von „Apple Daily“ zeigt eine Gruppe Unterstützer, die sich am Mittwochabend vor dem Redaktionsgebäude versammelt hatte: „Hongkonger verabschieden sich im Regen traurig von Apple Daily“. Am Donnerstag waren die Homepage und das Webarchiv schon nicht mehr aufrufbar. Dort ist eine Notiz an die Abonnenten zu lesen. Goodbye, schreibt die Zeitung. Und: Viel Glück.

Cornelius Dieckmann

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