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Schießübungen: Die Terrormiliz zeigt sich in ihren Propagandaaufnahmen stets kampfbereit.
© dabiq/picture alliance / Zumapress.com

Kampf gegen die Terrormiliz IS: Der "Islamische Staat" ist noch lange nicht am Ende

Der IS hat im Irak und in Syrien herbe Niederlagen hinnehmen müssen. Doch die Islamisten reagieren auf die Rückschläge mit noch mehr Terror.

Ramadan. Einen Monat lang sind Muslime aufgefordert zu fasten, um Allah besonders nah zu sein. Der so gestärkte Glauben soll dabei helfen, sich von den bösen Einflüsterungen des Teufels fernzuhalten. Für die allermeisten Muslime heißt das: beten, Gutes tun, den Menschen mit Freundlichkeit begegnen. Das ist der friedliche Aspekt der Fastenzeit. Aber es gibt auch einen kriegerischen. Denn Prophet Mohammed selbst zog im Ramadan des Jahres 624 gegen Mekka zu Felde und besiegte seine Feinde. Dschihadisten leiten heutzutage daraus ab, gerade in diesen vier heiligen Wochen mit aller Gewalt gegen „Ungläubige“ vorzugehen.

Der „Islamische Staat“ hält es genauso. IS-Sprecher Abu Mohammed al Adnani hatte im Mai sogar einen „Monat des Schmerzes“ angekündigt. Und Wort gehalten. Hunderte Menschen, vor allem Muslime, haben den Ramadan nicht überlebt. Sie fielen Anschlägen der Fanatiker zum Opfer. Irak, USA, Frankreich, Libanon, Jemen, Türkei, Bangladesch und wieder Irak – die blutige Spur des Todes ist in diesem Jahr besonders lang. Allein in der irakischen Hauptstadt starben am vergangenen Sonntag fast 300 Frauen, Kinder und Männer. Ein Selbstmordattentäter hatte sich in einem mit Bomben beladenen Kühlwagen in die Luft gesprengt. Die meisten Opfer waren Schiiten, die für das abendliche Fastenbrechen einkauften.

Militärische Rückschläge

Dass Mitglieder des IS in den vergangenen Wochen und Monaten besonders häufig mordeten, hat nach Einschätzung von Experten einen einfachen Grund: Der „Islamische Staat“ ist militärisch in Bedrängnis, das von ihm kontrollierte Territorium im Irak und in Syrien drastisch geschrumpft. Die Bombardements der internationalen Anti-IS-Allianz haben den Terroristen merklich zugesetzt. Hunderte Kämpfer sollen gefallen sein, Nachschubrouten und Verbindungswege gingen offenkundig verloren.

Erst vor kurzem konnten irakische Einheiten die symbolträchtige IS-Bastion Falludscha zurückerobern. Nun soll auch der Sturm auf die Millionen-Stadt Mossul beginnen, die informelle Hauptstadt der Extremisten im Irak. Der IS nimmt allerdings die Rückschläge keineswegs tatenlos hin. Er antwortet auf die auf seine Art und Weise – mit verstärktem, noch rücksichtsloserem Terror.

„Die Anschläge sollen von den Verlusten und Niederlagen auf dem Schlachtfeld ablenken“, sagt Terrorismus-Experte Peter Neumann vom King’s College in London. Die Dschihadisten wollten so in der Szene und bei ihren Anhängern Stärke demonstrieren. „Nicht zuletzt, weil das Projekt eines ,Kalifats’ ins Stocken geraten ist, wenn nicht gar gänzlich vor dem Scheitern steht.“ Damit werde es für die IS-Führung um Abu Bakr al Baghdadi auch immer schwieriger, neue Mitglieder zu rekrutieren. Die Zahl der sogenannten Ausreiser ist laut Sicherheitsbehörden mittlerweile deutlich gesunken.

Noch vor einem Jahr war die Lage für den „Islamischen Staat“ eine ganz andere. Die Miliz hatte sich in ihren Kerngebieten im Irak und Syrien festgesetzt. Die Anarchie in Libyen nutzten die Fanatiker geschickt, um dort ebenfalls Fuß zu fassen. Die Propagandamaschinerie lief auf Hochtouren. Das Image der vermeintlichen Unbesiegbarkeit wurde in zahllosen Internetbotschaften bild- wie wortreich gepflegt. Mit Erfolg. Tausende Sympathisanten aus der ganzen Welt zog es Richtung Nahost. Sie begeisterten sich für den „Heiligen Krieg“ und ein pseudo-staatliches Gebilde, das auf einer angeblich unverfälschten Anwendung koranischer Gebote und Aussagen des Propheten beruht.

Zeitweise beherrschte der IS – nicht zuletzt dank der Schwäche und Zerstrittenheit seiner Gegner – ein Territorium mit den Ausmaßen Großbritanniens. Dies wiederum gab der Terrormiliz die Möglichkeit, ihre Kriegskasse praktisch nach Belieben zu füllen. Aus einer ohnehin wohlhabenden Organisation wurde eine reiche. Und das verdankte sie nicht allein den Einnahmen aus dem illegalen Ölverkauf und dem lukrativen Handel mit erbeuteten Altertümern. Vielmehr setzen die Terroristen bis heute darauf, die von ihnen eroberten Gebiete auszurauben und auszuplündern. Privateigentum von Feinden wird beschlagnahmt, Menschen werden verschleppt und verkauft, Geiseln kommen nur gegen Lösegeld frei. Eine Einkommenssteuer gibt es ebenso wie den Zwang zu Abgaben für Strom, Wasser und Gesundheitsversorgung. Wer sich weigert zu zahlen, dem droht der Tod.

Doch inzwischen gehören diese ertragreichen Zeiten der Vergangenheit an. Denn in gleichem Maße, wie das kontrollierte Gebiet schrumpft, verringert sich auch die Beute. Die Gewinne aus dem Ölschmuggel sind ebenfalls drastisch gesunken, weil die alliierten Luftangriffe auf Förderungsanlagen Wirkung zeigen. Auch fehlt fachkundiges Personal, um Raffinerien am Laufen zu halten. Aus Sicht der Terrorbande hat der daraus resultierende finanzielle Engpass durchaus unangenehme Folgen. Der Sold für die Kämpfer musste in den vergangenen Monaten offenbar mehrfach gekürzt werden. Und das drückt auf die Stimmung. Die Berichte über unzufriedene, enttäuschte und frustrierte Anhänger häufen sich.

Rückzugsgebiet Türkei

Besonders hart trifft den „Islamischen Staat“, dass die Türkei als wichtiges Rückzugsgebiet und Zufluchtsort zumindest teilweise verloren gegangen ist. Lange Zeit ließ Präsident Recep Tayyip Erdogan die selbsternannten „Gotteskrieger“ mehr oder weniger unbehelligt in seinem Land agieren. Auf die heftige Kritik des Westens reagierte die Regierung in Ankara zumeist mit demonstrativer Empörung, verharmloste die Gefahr oder schaute einfach weg Auch, weil der IS Syriens Machthaber Baschar al Assad bekämpfte, Erdogans Erzfeind

Die gewährten Freiräume nutzte der „Islamische Staat“ clever für seine Geschäfte und den Nachschub. „Über die türkische Grenze kamen die ausländischen Kämpfer sowie komplizierte technische Gerätschaften“, sagt „Spiegel-“Korrespondent Christoph Reuter, der sich seit Jahren mit dem IS beschäftigt und über die „Schwarze Macht“ ein kenntnisreiches Buch geschrieben hat. Im Gegenzug verhielt sich der IS ruhig und verzichtete auf große Anschläge.

Vor gut einem Jahr dann die Kehrtwende. Erdogans Zurückhaltung hatte ein Ende, die Türkei erklärte der Terrormiliz den Krieg. Vor allem aus zwei Gründen. Die westlichen Verbündeten des Nato-Staates fühlten sich von Ankara in ihrem Kampf gegen die Extremisten im Stich gelassen. Immer wieder verlangten sie mehr Engagement, nicht zuletzt militärisches. Dass Erdogan dem Drängen schließlich nachgab, haben sich die Islamisten auch selbst zuzuschreiben. Mitte 2015 starben in Suruc, einem Ort kurz hinter der syrischen Grenze, mehr als 30 Menschen bei einem Anschlag. Ankara zögerte nicht lange und machte den IS dafür verantwortlich. Kurz darauf flogen türkische Kampfjets erstmals Angriffe auf Stellungen der Extremisten. Die wiederum kündigten Vergeltung an.

Trauer um die Opfer: Bei einem Anschlag des IS in Bagdad vor einigen kamen fast 300 Menschen ums Leben, die meisten waren Muslime.
Trauer um die Opfer: Bei einem Anschlag des IS in Bagdad vor einigen kamen fast 300 Menschen ums Leben, die meisten waren Muslime.
© Ali Abbas/dpa

Seitdem gab es mehrere verheerende Attentate. Das jüngste Ende Juni am Flughafen in Istanbul. Und Erdogan verdammt den „Islamischen Staat“ jetzt mit klaren Worten. Die Terroristen gehörten „in die Hölle“. Damit ist endgültig klar: Das ungestörte Agieren in der Türkei hat ein Ende. Ein herber Rückschlag für die Killertruppe. „Der Verlust dieser Grenze trifft den IS massiv“, sagt Experte Christoph Reuter. „Denn um sein ‚Kalifat’ herum hat er sonst nur Feinde oder abgeriegelte Grenzen. Oder beides.“

Allerdings wäre es völlig verfrüht und damit verfehlt, schon das baldige Ende des IS zu verkünden. Vielmehr spricht dafür, dass der Kampf gegen den militanten Islamismus in eine neue Phase tritt – womöglich eine noch gefährlichere. Das auf einer transnationalen Ideologie und einem beherrschbaren Territorium beruhende Staatsprojekt mag auf absehbare Zeit gescheitert sein. Aber als „Marke“, da sind sich die Fachleute sicher, wird der „Islamische Staat“ noch lange Bestand haben. Mit allen Folgen. Laut Jean-Paul Laborde, Leiter des UN-Komitees zur Terrorismusbekämpfung, befinden sich noch 20.000 bis 30.000 ausländische Kämpfer im Irak und in Syrien. Sie sind zumeist militärisch und ideologisch bestens geschult.

Von ihnen geht deshalb für den Westen wie für die muslimische Welt eine immense Bedrohung aus: Da der Aktionsradius der Dschihadisten im Nahen Osten durch die Luftschläge und Niederlagen am Boden sich zusehends verringert, könnten die Fanatiker in andere Länder der Region oder nach Europa ausweichen beziehungsweise zurückkehren. Und den Terror in einem noch stärkeren Maße als bisher dorthin tragen.

Schon vorhandene Konflikte nutzen, um Staaten zu destabilisieren – das könnte eine weitere Strategie sein. Aus Sicht der Islamisten bieten sich dafür beispielsweise die Türkei, Jordanien, der Libanon, Jemen und Libyen an. In gewissem Sinne kehrt der IS damit zu seinen Ursprüngen zurück. „Er hat als Terrorgruppe begonnen, gerierte sich dann als Aufstandsbewegung und verfolgte später sein Konzept der Bildung eines Staates“, sagt Politikwissenschaftler Peter Neumann. „Künftig wird der ,Islamische Staat’ vermutlich wieder allein auf Terror setzen.“

Sunniten gegen Schiiten

Der Irak bekommt das schon lange zu spüren. Kaum ein Tag vergeht ohne Attentate. In der Regel sind Schiiten die Opfer. Und diese Angriffe haben System. Zum einen betrachtet die sunnitische Miliz die Schiiten als Ungläubige, die mit Feuer und Schwert verfolgt werden müssen. Zum anderen nutzt der IS die seit Jahrhunderten bestehende Rivalität innerhalb des Islam, um die Bevölkerungsgruppen gezielt gegeneinander auszuspielen und aufzuhetzen. So wird der Zerfall des Irak forciert. Was wiederum ganz im Sinne des „Islamischen Staats“ ist. Denn er versteht sich darauf, aus fehlenden Strukturen, einem Machtvakuum und widerstrebenden Interessen Profit zu schlagen.

Lange Zeit hat der Westen den Aufstieg und das brutale Treiben des IS schulterzuckend hingenommen, die mörderischen Bürgerkriege in Syrien und im Irak als dessen Nährboden geflissentlich ignoriert. Das hat sich gerächt. Deshalb sollten alle gewarnt sein. Selbst das mögliche Ende der Expansionspläne ist kein Grund, sich beruhigt zurückzulehnen. Im Gegenteil.

Womöglich werden sich die Dschihadisten nun im apokalyptischen Endkampf wähnen. Allahs Gläubige gegen die Gottesleugner – so sieht ihr krudes Weltbild aus. Und für ihren Kreuzzug mit Bomben und Kalaschnikows verfügt der „Islamische Staat“ ungeachtet aller Rückschläge über ausreichende finanzielle wie logistische Mittel. Auch an kampfbereiten Sympathisanten herrscht kein Mangel. Paris, Brüssel, Istanbul, Bagdad – die nächste Schlacht gegen Terror ist bereits in vollem Gange.

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