Setzte die CDU auf AfD-Stimmen?: Der eingefädelte Tabubruch von Erfurt
Überraschung? Mitnichten. Ein einflussreicher CDU-Stratege in Thüringen hat schon vorher einen Plan zur Wahl eines Ministerpräsidenten von AfD-Gnaden skizziert.
War die Wahl von Thomas Kemmerich geplant? Für die einen in der CDU Thüringen war es eine konkrete Option, für die anderen eine reale Gefahr. Einer der wichtigen Spindoktoren der Partei und enger Vertrauter von Mike Mohring hat Tage vorher schon beschrieben, wie ein FDP-Kandidat für das Ministerpräsidentenamt auch mit den Stimmen von AfD und CDU ins Amt kommen kann. Und diese Variante als ausdrücklich ungefährlich bezeichnet.
Der Mann heißt Karl-Eckhard Hahn, er ist sein Januar Leiter des wissenschaftlichen Dienstes der CDU-Landtagsfraktion. Am vergangenen Sonntag, drei Tage vor der Ministerpräsidenten-Wahl, erschien im Debattenportal "The European" ein Text von ihm, gekennzeichnet als "ausschließlich persönliche Auffassung".
Darin bescheinigte er Björn Höcke einerseits, dass er wesentlichen Anteil daran habe, dass die AfD ins Visier des Verfassungsschutzes geraten sei. Es müsse im Parlament eine "klar markierte Distanz zu allem" geben, "was dem Rechtspopulismus Vorschub leistet". Andererseits: "Die 22 Abgeordneten der AfD sind von den Thüringer Wählern genauso demokratisch legitimiert wie jene aller anderen Fraktionen auch und repräsentieren das Volk."
"Es wird eine Gefahr beschworen, die es gar nicht gibt"
Dann fragte Hahn in seinem Aufsatz : "Was ist, wenn eine Regierung mit Stimmen von AfD-Abgeordneten ins Amt kommt?" Die Frage war zu diesem Zeitpunkt bereits virulent. Die FDP dachte darüber nach, ihren Fraktionschef Thomas Kemmerich ins Rennen zu schicken. Hahn fragte sich und andere: Warum denn nicht? Er kritisierte Versuche - namentlich der Linke-Landesvorsitzenden Susanne Hennig-Wellsow -, "die Zustimmung der AfD zum Kandidaten einer bürgerlichen Partei der Mitte zu skandalisieren".
Das Ansinnen der Linken sei "demokratisch fragwürdig, weil die Bürger Thüringens nicht durch 68 sondern durch 90 Abgeordnete präsentiert werden", schrieb der CDU-Vordenker weiter. Es werde eine Gefahr beschworen, "die es gar nicht gibt". Die Stimmabgabe zugunsten eines FDP-Kandidaten, der ohne einen Koalitionsvertrag oder sonstige politische Zusicherungen an den Start ginge, verpflichtete diesen "politisch zu absolut nichts, weder gegenüber der AfD noch irgendjemandem sonst". Bei der Zusammenstellung eines Kabinetts wäre er vollkommen frei. Und: "Ein solcher Ministerpräsident hätte keine geringere demokratische Legitimation als ein Ministerpräsident Bodo Ramelow auch."
Publizistische Aktivitäten "weit im nationalen Lager"
Hahn ist in der thüringischen CDU seit Jahrzehnten eine Größe. Anfang der 90er Jahre kam er aus Hessen nach Thüringen, arbeitete viele Jahre für Christine Lieberknecht, als die Europaministerin und Landtagspräsidentin war. 2013 wurde der West-Import aus den 90ern von Ministerpräsidentin Lieberknecht zum Regierungssprecher ernannt.
"Die Zeit" veröffentlichte damals einen Text über den "problematischen Lebenslauf" von Hahn, schrieb über dessen publizistische Aktivitäten "weit im nationalen Lager". Die Wochenzeitung zitiert Hahn mit den Worten: "Ich lasse mir gedanklich nicht gerne Fesseln anlegen. Die Distanzierungsmasche, das ständige Verlangen nach Distanzierung, halte ich für eine intellektuelle Zumutung."
Lob von Mike Mohring für seinen Vordenker
Als Bodo Ramelow 2014 zum Ministerpräsidenten gewählt wurde, wurde Hahn zum Sprecher der von Mike Mohring geführten CDU-Landtagsfraktion ernannt. Als Mohring ihn im Januar auf den Posten des Leiters des Wissenschaftlichen Dienstes der Fraktion versetzte, lobte er ihn mit den Worten: "Als Mitverfasser unseres Wahlprogramms kennt er die wesentlichen Ziele der Thüringer Union und kann helfen, ihr Profil zu schärfen." Mohring hat am Freitag nach einer Krisensitzung der CDU-Landtagsfraktion angekündigt, sein Chef-Amt im Mai abzugeben.
Der Aufsatz Hahns drei Tage vor der Wahl ist ein weiterer Hinweis darauf: Die Wahl von Kemmerich zum Ministerpräsidenten von AfD-Gnaden war nicht bloß Zufall. Die bisherigen Regierungsparteien Linke, SPD und Grüne vermuten ein abgekartetes Spiel. Ramelow selbst geht inzwischen davon aus, das "Gift in Thüringen", wie er formuliert, sei "systematisch vorbereitet" worden.
Ex-MP Althaus: "Bescheuert oder bewusst kalkuliert"
Die Überlegungen des führenden CDU-Fraktionsmitarbeiters Hahn zur Ministerpräsidenten-Wahl waren nicht die Gedankenspiele eines Einzelnen, sie waren ein Thema in der CDU - und genau so wie dargelegt kam es. Das stützt auch ein Schreiben des ehemaligen Ministerpräsidenten Dieter Althaus (CDU) an einen Parteifreund: "Die Thüringer Unionsfraktion ist für mich bescheuert, naiv oder hat bewusst kalkuliert." Höcke habe "mit seinem Kandidaten nur die Leimrute ausgelegt" und die Unionsfraktion sei "drauf gegangen". Das sei für ihn "mehr als ein Dammbruch".
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Nach Recherchen der "Thüringer Allgemeine" hatte Althaus am Sonntag in einer Telefonschalte das Präsidium der CDU Thüringen davor gewarnt, Kemmerich zu wählen. Kaum einer habe auf ihn hören wollen.
Vom damaligen Ost-Beauftragten der Bundesregierung, Christian Hirte (CDU), gab es noch am Sonntag auf Twitter eine Empfehlung für den Artikel von Hahn: "Prädikat: Lesenswert!" Hirte hatte am Mittwoch Kemmerich als "Kandidaten der Mitte" zu dessen Wahl zum Ministerpräsidenten herzlich gratuliert. Am Samstag entband Kanzlerin Angela Merkel im Einvernehmen mit Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier (beide CDU) Hirte von seinem Posten.
Am Mittwoch, eine halbe Stunde vor der Eröffnung der Plenarsitzung, twitterte Hahn: "Eine Kandidatur von @KemmerichThL ist eine ,demokratische Selbstverständlichkeit' - er zitierte damit Noch-Amtsinhaber Ramelow, der das am Mittwochmorgen vor der FDP-Fraktion so gesagt haben soll. Die Wahl von Kemmerich zum Ministerpräsidenten "wäre es ebenfalls", fügte Hahn hinzu.
Nach dem von Kemmerich angekündigten Rückzug vom Ministerpräsidentenamt teilte Hahn am Donnerstag den Tweet eines rechten Publizisten: Der Rücktritt zeige, "dass nicht die Wähler bzw. ihre Abgeordneten in Erfurt entscheiden, wer sie regiert, sondern die Parteiführungen in Berlin und die Medien. (...) Was für #Scheindemokraten!"