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80 Prozent von Moria sind Opfer der Flammen geworden.
© dpa

Flüchtlingslager Moria: Der Brand, das Lager und das Leid

Man kann nicht an einen Ort zurückkehren, der vergiftet ist. Das Feuer in Moria entlarvt ein System, das Lager- und Inselbewohner im Stich lässt.

Flammen haben etwas Eindeutiges. Wenn man auch nicht weiß derzeit, wer für den Ausbruch des Großfeuers im Flüchtlingslager Moria verantwortlich ist, so ist die Botschaft der Flammen unmissverständlich: So geht es nicht weiter.

Das Camp auf der griechischen Insel Lesbos ist niedergebrannt bis auf ein paar Verwaltungscontainer, die unbeschädigt blieben. Man kann an den Ort nicht zurückkehren, der verkohlt, verschmort und vergiftet ist. Asche, verbogenes Wellblech und Eisengestänge, Rauschschwaden. Und trotzdem ist es nach vorangegangenen Feuern immer weitergegangen.

Als vor einem Jahr im September eine Mutter mit ihrem Kind in Flammen umkam, ging es weiter. Und als im März ein sechsjähriges Kind in Flammen starb ebenfalls. Die 12700 Menschen in Moria blieben zusammengepfercht in ihren Behelfsbehausungen weitgehend sich selbst überlassen. NGOs vorort wie das International Rescue Committee (IRC) mahnten, dass Europa mehr zur Entlastung der Lage tun müsse, aber es geschah wenig.
Dann, vor einer Woche, wurde der erste Coronafall in dem überfüllten Lager offenbar.

Zwei Beatmungsgeräte, sechs Intensivbetten

Schon vorher war das Leben kaum erträglich gewesen für die Menschen, die in Booten aus der Türkei über den schmalen Seeweg nach Lesbos geflüchtet waren und dort festsaßen. Die Pandemie zwang sie ab März, im Lager zu bleiben. Das Krankenhaus in Mytilini mit seinen zwei Beatmungsgeräten und sechs Intensivbetten würde einem Ausbruch von Covid-19 nicht standhalten.

Die Quarantäne zerrte an den Nerven der Leute, berichten NGO-Mitarbeiter in Lesbos. Man habe der Enge nicht mehr entfliehen, an den Strand gehen können. Das Verlassen des Lagers war nur für Besuche beim Arzt oder beim Anwalt erlaubt worden.

Nach vorangegangenen Feuern und Toten ist es in Moria immer weitergegangen. Das geht jetzt nicht mehr.
Nach vorangegangenen Feuern und Toten ist es in Moria immer weitergegangen. Das geht jetzt nicht mehr.
© AFP

Wer ohne Berechtigung von der Polizei aufgegegriffen wurde, dem drohte ein Bußgeld von 150 Euro.

„Die Menschen verstehen“, sagt Martha Roussou vom IRC, „wie anfällig sie für das Virus sind, aber sie können nichts dagegen tun. Wie sollten sie sich in Moria aus dem Weg gehen, wie Distanz halten? Das hat die Spannungen wachsen lassen.“

Der erste Coranafall. Nach einer Woche sind es 35

Mit dem Coronafall Anfang September wurde das Lager weiter abgeriegelt. Die Behörden kündigten die Errichtung eines Zauns an. Innerhalb einer Woche tauchten bei 2000 Tests 35 positive Ergebnisse auf, und die verschärften Quarantänemaßnahmen führten als erstes dazu, dass der Nachschub an Geld versiegte.

Bankautomaten in Moria wurden nicht mehr befüllt. Den Menschen ging das Bargeld aus, um auf dem zentral gelegenen Marktplatz Besorgungen zu erledigen.

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Teile des Lagers standen ohnehin unter dem wachsenden Einfluss krimineller Banden, wie Helfer berichten. Das seien „keine hundert Leute, die unter den Augen der Polizei in Moria massive Probleme bereiten“, weiß Nicolas Perrenoud, der als Schweizer Freiwilliger in dem Lager arbeitet.

Im Camp gebe es Drogen, sexuellen Missbrauch, Gewalt, Erpressung. Pädophile Griechen würden sich Jungen kaufen, die Geld für die Fortsetzung ihrer Flucht brauchten.

„Wir zerfleischen uns, statt uns zu helfen“

Es heißt, islamistische Kämpfer und Extremisten würden sich als Flüchtlinge ausgeben, um mit gefälschten Pässen nach Nordeuropa zu gelangen. „Wir zerfleischen uns hier in der Verzweiflung wie die Tiere gegenseitig, statt uns zu helfen“, hat eine junge Afghanin in ihrem Moria-Blog geschrieben.

Nach Angaben von Augenzeugen soll der Brand in der Nacht zu Mittwoch nahe der abgesperrten Zone ausgebrochen sein, in der die Corona-Infizierten isoliert waren. Die griechische Nachrichtenagentur ANA meldete unter Berufung auf die Polizei, die Feuer seien nach Protesten einiger Bewohner des Lagers gelegt worden.

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Diese hätten nach einem positiven Coronatest oder wegen Kontakts zu Infizierten unter Quarantäne gestellt werden sollen. Danach sollen sie laut eines örtlichen Behördenvertreters Zelte in Brand gesteckt haben.

„Es war vorsätzlich. Die Zelte waren leer“, sagte Michalis Fratzeskos, Vizechef des Zivilschutzes, dem staatlichen Fernsehsender ERT.

Die Asylagentur brannte. Papiere sind vernichtet

Das Feuer brach an mehreren Stellen aus, fand schnell Nahrung, um sich bei heftigen Winden ungehindert auszubreiten. Planen und Wände aus Karton, Holzplanken und Äste, Textilien und Plastikverpackungen loderten auf.

Wasserleitungen, die als Feuerlöschsystem hätten eingesetzt werden können, gibt es kaum.

Am Morgen zeigte sich ein verheerendes Bild. 80 Prozent von Moria sind Opfer der Flammen geworden. Verschläge und Papp-Behausungen, Generatoren, medizinisches Gerät, die Essensausgabe. Das Lager gleicht einer bizarren Ruininenlandschaft, der Container der griechischen Asylagentur brannte aus. Sämtliche Anträge sollen vernichtet sein.

Wie viele Menschen darüberhinaus ihre Papiere im Feuer verloren haben, als sie sich panisch in Sicherheit brachten, ist noch unklar. Tote soll es nicht gegeben haben, einige Lagerbewohner litten unter Atembeschwerden, berichten Nachrichtenagenturen.

„Es war schlimm, das totale Chaos“

Nicolas Perrenoud zählt zu denen, die in der Nacht reagierten. „Ich habe durch unsere Whatsapp-Gruppen von dem Großbrand erfahren“, berichtet der Mitbegründer des Hilfezentrums „One Happy Family Community Center Lesvos“, das etwa eine Dreiviertelstunde von Moria entfernt liegt.

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„Wir sind schnell im Dunkeln mit dem Auto hin, bis zu den Polizeiblockaden, haben Schlafsäcke verteilt. Es war schlimm, das totale Chaos. Viele Einrichtungen, auch der NGOs, sind total zerstört.“

Überlebende campieren nun auf offener Straße oder bemühen sich, zu Fuß Mytilini zu erreichen. „Sie können nirgendwo hin“, sagt Roussou vom IRC. Berichten zufolge wurden Lagerbewohner von Einheimischen am Betreten eines Dorfes gehindert. Die Regierung hat den Ausnahmezustand über die Insel verhängt.

6000 Flüchtlinge, ein halbes Jahr danach 20000

Hilfsorganisationen wie Ärzte ohne Grenzen und IRC fühlen sich durch die Brandkatastrophe in ihren Befürchtungen bestätigt.

„Seit fünf Jahren warnen wir unablässig davor, die Lage auf Lesbos nicht weiter eskalieren zu lassen. Das Feuer hat die Verletzlichkeit des Systems offenbart“, sagt Roussou und meint damit eine Politik, die auch die Inselbewohner im Stich gelassen hat.

Protestdemonstration in Berlin nach der Brandnacht in Moria.
Demonstranten in Berlin fordern die Flüchtlingsaufnahme aus Moria.
© John MacDougall/AFP

Als die konservative Nea Demokratia im Juli vergangenen Jahres die Parlamentswahl gewann, lebten weniger als 6000 Flüchtlinge in Moria. Das war das Doppelte dessen, für das das Aufnahmelager ursprünglich ausgelegt war.

Aber da auch schon mal 11000 Menschen Zuflucht in den Hügeln nördlich der Hauptstadt Mytilini gesucht hatten, kam die Lage den Insulanern geradezu entspannt vor. Innerhalb eines halben Jahres nach der Wahl erhöhte sich die Zahl auf 20000 Bewohner.

Krawalle, Straßensperren, Brände

Premierminister Kyriakos Mitsotakis war mit dem Versprechen an die Macht gelangt, eine restriktivere Flüchtlingspolitik zu betreiben, als es die Sozialisten getan hatten. Doch auch seine Partei bekam den Zustrom über die Ägäis nicht in den Griff.

Nach Widerständen zahlreicher Festlandsgemeinden gegen die Aufnahme von Flüchtlingen ließ er sie nun nicht mehr von der Insel herunter. Da Nea Demokratia den stärksten Rückhalt in zentralen Regionen Griechenlands besitzt, schien Mitsotakis diesen nicht für die wenigen Parlamentssitze von Lesbos aufs Spiel setzen zu wollen.

Ende Februar kam es zu Krawallen in Mytilini. Straßensperren wurden errichtet und NGO-Einrichtungen in Brand gesetzt.

Wird es auch jetzt so weitergehen? „Ich habe Angst“, sagt Yannis Hatzikyriacos, „nach dem Feuer gehe ich heute nicht auf die Straße.“ Der 73-Jährige, dessen Aklidi-Hotel hell erstrahlt im Licht seines Namens, leidet seit Jahren unter dem Ausnahmezustand. „Wir haben keine Touristen mehr“, sagt der Hotelier leise am Telefon. Er hat wie viele auf den Inseln nahe der Türkei Angst um seine Existenz. Soll er jetzt hoffen, dass Flüchtlinge in seinem Hotel einquartiert werden?

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