Erik Marquardt zur Situation im Flüchtlingscamp: „Der Brand in Moria ist eine Katastrophe mit Ansage“
Tausende Menschen in Isolation, kein Brandschutzkonzept und eine immer angespanntere Lage: Der Grünen-Politiker Erik Marquardt schildert seine Eindrücke aus Moria.
Erik Marquardt ist seit 2019 Mitglied des Europäischen Parlamentes für die Grünen. Seine Schwerpunkte sind Flucht, Migration und Menschenrechte. Regelmäßig besuchte Marquardt, der eigentlich Fotograf ist, in den vergangenen Jahren das Flüchtlingslager Moria auf er griechischen Insel Lesbos.
Herr Marquardt, Sie waren schon oft in Moria und kennen viele Menschen, die dort leben. Was können Sie über die aktuelle Situation vor Ort berichten?
Dieses Feuer ist anders als alle anderen Brände zuvor. 35 bis 40 Prozent des Camps sollen zerstört sein, viele haben alles verloren. Ein Freund hat mir gestern Nacht geschrieben, dass er nur noch seinen Ausweis und sein Handy besitzt. Die Menschen dort hatten ohnehin nur sehr wenig, jetzt sind auch ihre letzten Erinnerungsstücke an die Heimat und ihre Familien verbrannt. Es gibt Berichte von Toten. Menschen erzählen auf Videos, wie andere Campbewohner vor ihren Augen verbrannt seien. Auch viele Strukturen, etwa zur Essenausgabe oder das Büro der europäischen Asylagentur, sollen verbrannt sein. Tausende Menschen sind aus dem Camp geflohen und jetzt obdachlos. Ich habe Videos gesehen, wie sie auf den Straßen umherirren. Den 13.000 Bewohnern des Camps eine halbwegs würdige Unterkunft und Essensversorgung zu ermöglichen, wird die Herausforderung der nächsten Tage sein.
Es kam in den vergangenen Jahren immer wieder zu Feuern in Moria. Warum?
Feuer sind etwa entstanden, wenn Menschen in ihren Zelten gekocht haben. Der Brand in Moria ist eine Katastrophe mit Ansage. Es fehlt in Moria nicht nur an Schulbildung, gesundheitlicher Versorgung, Essensversorgung und Unterkünften für die Menschen, es gibt auch kein Konzept für Brandschutz oder Evakuierung. Jedes kleine Feuer kann in einer solchen Situation zu einer riesigen Katastrophe werden.
Mindestens 35 Menschen aus dem Camp sind inzwischen positiv auf das Coronavirus getestet worden. Hat der Ausbruch die Situation vor Ort noch einmal verschärft?
Seit März gab es im Camp eine Ausgangssperre, die immer weiter verlängert wurde. Viele dürfen das Camp nicht verlassen. Man hat Corona als Vorwand benutzt, Moria zu einem geschlossenen Camp zu machen, damit die Bewohner nicht auf den Straßen sind. Das hat schon lange zu Spannungen geführt. Als dort die ersten Corona-Fälle identifiziert wurden, hat man nicht die einzelnen Infizierten isoliert, sondern das gesamte Camp.
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Das ist eine Durchseuchungsstrategie, die sonst überall in Europa als unmenschlich angesehen wird. Wir lassen dort die Schwächsten zurück. Es ist Wahnsinn, ein überfülltes Flüchtlingslager einfach abzusperren. Dass es dort zu Spannungen, Protesten und auch zu Feuern kommt, ist nicht überraschend. Man kann Menschen nicht so lange unwürdig behandeln und glauben, dass sie einem dafür Blumensträuße schenken.
Sie gehen also von Brandstiftung aus?
In den Videos sieht man viele unterschiedliche Brandherde. Es kann also sein, dass es auch einen Unfall gab. Ich vermute aber, dass einzelne Bewohner das Camp in Brand stecken wollten. Sie sahen wohl keinen anderen Ausweg mehr, als dafür zu sorgen, dass dieser Ort nicht mehr existiert. Brandstiftung mit vermutlicher Todesfolge ist durch nichts zu rechtfertigen. Aber Helfer haben lange vor solchen Szenarien gewarnt. Ich war zuletzt Anfang August in Moria. Zu dem Zeitpunkt gab es noch keinen Corona-Fall. Es war aber offensichtlich, dass es bei einem Ausbruch zu einer gefährlichen Dynamik und zu Konflikten zwischen den Camp-Bewohnern kommen würde. Man musste nicht nur von einer gesundheitlichen, sondern auch von einer gesellschaftlichen Katastrophe ausgehen. Jeder, der sich mit der Situation vor Ort beschäftigt hat, wusste, was dort passieren kann.
Hätte man die Katastrophe verhindern können?
Die europäischen Mitgliedstaaten haben es seit fünf Jahren nicht geschafft, die Situation zu verbessern. Europa hat versagt. Jedes Mal, wenn ich nach Moria gefahren bin, gab es mehr neue Probleme als Lösungen. Unter dem Vorwand, eine europäische Lösung zu suchen, haben die einzelnen Regierungen ein europäisches Problem viel zu lange akzeptiert. Was soll noch alles geschehen, bis die Lager evakuiert werden? Wir müssen endlich aufhören, möglichst menschenunwürdige Bedingungen für Schutzsuchende zu schaffen. An den europäischen Außengrenzen versucht man, die Menschen abzuschrecken. Dafür ist das Asylsystem nicht geschaffen worden.
Was muss jetzt passieren?
In einem ersten Schritt müssen wir humanitäre Hilfe organisieren: Es braucht temporäre Unterkünfte, medizinische Versorgung und Nahrung. Aber auch Möglichkeiten, Menschen zu isolieren. Es muss vermieden werden, dass viele Menschen in riesigen Zelten zusammenkommen, damit sich das Corona-Virus nicht weiter ausbreitet. Wenn Kreuzfahrtschiffe frei sind, dann sollte man auch deren Kapazitäten nutzen. Außerdem müssen die europäischen Mitgliedsstaaten endlich Verantwortung übernehmen, allen voran die deutsche Bundesregierung in der EU-Ratspräsidentschaft. Die Geflüchteten müssen dann von den griechischen Inseln auf die EU-Mitgliedstaaten verteilt werden. In Moria verbrennen nicht nur die Zelte und Habseligkeiten von vielen Menschen, sondern auch das Fundament, auf dem wir in Europa zusammenleben.
Innenminister Horst Seehofer (CSU) hat mehreren Bundesländern, Städten und Kommunen, die Flüchtlinge aus den griechischen Lagern aufnehmen wollten, die Zustimmung dafür verweigert, mit Verweis auf ein bundeseinheitliches Handeln.
Horst Seehofer hat dafür gesorgt, dass hunderte Menschen, die aufgenommen werden sollten, noch in Moria waren, als das Feuer ausgebrochen ist. Warum müssen sich Städte, Länder und Kommunen für ihre Hilfsbereitschaft rechtfertigen? Man muss doch jene unterstützen, die helfen wollen und sich nicht denen anbiedern, die Hass streuen. Wie wir die Menschen in Moria behandeln, sagt mehr über uns aus als über sie. Gerade während der Coronakrise sollten wir uns als Gesellschaft fragen, wie wir miteinander umgehen wollen. Ich erwarte von der Bundesregierung, dass sie mit derselben Handlungsfähigkeit, die sie im Kampf gegen die Pandemie gezeigt hat, auch Menschenrechte und Menschenwürde an den EU-Außengrenzen verteidigt.