Nach dem Feuertod einer Frau in Moria: In Europas größtem Flüchtlingslager herrscht Ausnahmezustand
Am Sonntag ist im griechischen Flüchtlingslager auf der Insel Lesbos eine Frau verbrannt, auch ihr Kind soll gestorben sein. Die Lage in Moria ist katastrophal.
Der erste Eindruck im größten Flüchtlingslager Europas: Elend, Verwahrlosung, keine Strukturen, keine Sicherheit. Das völlig überbelegte Lager Moria für Geflüchtete und Migranten liegt auf der griechischen Ägäisinsel Lesbos nahe der türkischen Küste. In dem ehemaligen Militärkomplex, der als „Hotspot“ für die Erstregistrierung und Unterbringung von 3000 Flüchtlingen und Migranten nach Europa gedacht war, hausen derzeit fast 13.000 Menschen, darunter tausende Kinder.
Mit zusammengeknoteten Plastikplanen, Decken, die über Olivenbäumen hängen, in Campingzelten und in Baucontainern ohne angemessene Sanitäranlagen, Wasser- und Stromversorgung haben sie sich auf Sandhügeln notdürftige Behausungen gebaut. Vor allem nachts kommen weiter hunderte, oft bereits mehrfach traumatisierte Kinder, Frauen und Männer in Schlauchbooten von der nahen türkischen Küste in Griechenland an.
Jetzt ist die Lage in Moria eskaliert. Denn eine Mutter ist bei einem Brand in dem Lager ums Leben gekommen.
Zehntausend Migranten sollen aufs Festland gebracht werden
Der Bürgermeister der Inselhauptstadt Mytilini, Stratos Kytelis, sagte dem griechischen Nachrichtensender Skai: „Tausende Migranten müssen so schnell wie möglich aufs Festland gebracht werden.“ Die griechischen Behörden in Moria kommen nach Angaben von Hilfsorganisationen indes kaum mit der Registrierung der Flüchtlinge, der Prüfung ihrer Identitäten sowie den Asylverfahren nach.
Termine zur Anhörung liegen teils erst mehrere Monaten in der Zukunft. Bislang wurden oft unbegleitete Kinder und Jugendliche, von denen rund 1000 in einem Extratrakt unter Ausnahmebedingungen leben, in die ebenfalls überfüllten Lager auf dem griechischen Festland gebracht, ebenso psychisch erkrankte und traumatisierte Familien, Frauen, Kinder.
Fast jede Nacht Boote mit Migranten und Flüchtlingen
Nach Tagesspiegel-Informationen kamen alleine im Norden von Lesbos, in dem kleinen Fischerort Skala Sikamineas, im vergangenen Monat fast 3000 Flüchtlinge und Migranten an. Sie stammen vor allem aus Afghanistan und dem Iran, erreichen die Insel zumeist in völlig überfüllten schwarzen Schlauchbooten aus der Türkei im Schutz der Nacht. Preis für die Überfahrt: 1000 bis 1400 US-Dollar pro Person, Kinder rund 500 US-Dollar.
Noch in den Morgenstunden werden die Neuankömmlinge unter anderem vom UNHCR in Transitlager gebracht, ihre Boote und die oft nur mit Verpackungsmaterial gefüllten Rettungswesten abtransportiert.
In Moria, etwa anderthalb Autostunden östlich des kleinen Küstenortes, wird die Situation hingegen immer dramatischer. Bei den beiden Bränden am Sonntag sind neben der Frau möglicherweise auch ein Kind ums Leben gekommen. Das Feuer sei nach ersten Erkenntnissen der Feuerwehr in der Küche eines Wohncontainers ausgebrochen. „Brandstiftung schließe ich aus“, sagte ein Sprecher des Bürgerschutzministeriums im Staatsfernsehen (ERT).
Eine Decke mit sterblichen Überresten eines Menschen werde noch gerichtsmedizinisch untersucht, heißt es dort weiter. Zuvor hatte das Staatsfernsehen und der Gouverneur der Region, Kostas Moutzouris, von zwei Toten - der Mutter und ihres Kindes - berichtet. Die Leiche eines Kindes sei nach neuesten Angaben des Rettungsdienstes und des Krankenhauses von Lesbos aber nicht entdeckt worden. Nach Angaben des Rettungsdienstes wurden zudem 16 Menschen verletzt.
Ärzte ohne Grenzen: „Europa trägt Verantwortung“
Wie Pressesprecherin Anna Pantelia vom Kinderklinik-Behandlungszentrum „Ärzte ohne Grenzen“ (Médecins Sans Frontrières/MSF) am Montag sagte, haben die drei MFS-Ärzte am Sonntag „zum Glück nur kleinere Verletzungen“ versorgen müssen. „Zumeist haben die Patienten Verletzungen von Stürzen, nachdem sie weggerannt sind“, sagte Pantelia: „Die griechische Regierung und die EU tragen eine Verantwortung dafür, dass sich solche dramatischen Vorkommnisse wiederholen“.
Eine staatliche Klinik oder Vergleichbares gibt es in Moria nicht, dort arbeiten weniger als eine Handvoll Ärzte der griechischen Behörden für mehr als 12.000 teils schwer und mehrfach traumatisierte Migranten, 4000 bis 5000 davon Kinder. Zuletzt wurde ein in einem Pappkarton spielendes Kind überfahren, ein junger unbegleiteter Flüchtling von einem Lagerbewohner erstochen. Nach Medienberichten sollen Kinder in den Zelten im vergangenen Winter erfroren sein. Es gab immer wieder Aufstände von den ohne Struktur zusammengepfercht lebenden Menschen aus Kriegs- und Krisengebieten.
Auch extremistische Kämpfer, etwa aus Syrien, sollen sich dort aufgehalten haben, die wie im Herkunftsland gegen andersgläubige Minderheiten vorgegangen seien, berichtete unter anderem die "Deutsche Welle" vor einem Jahr. Es gibt auf Lesbos auch noch andere, kleinere Camps, in der Organisation lokaler Behörden, die weit besser funktionieren.
Innenminister Horst Seehofer plant Besuch
Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) hatte nun vor einer Woche angekündigt, dass er in Kürze nach Griechenland und in die Türkei reisen wolle. Moria müsse dringend winterfest gemacht werden, das Deutsche Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) wolle mit Experten bei der Registrierung und anderem helfen.
Eigentlich sollen, so der EU-Plan, in Griechenland die Asylverfahren laufen, allerdings fehlt bei der Menge der Menschen den Griechen das Personal, und die meisten Migranten wollen ohnehin weiter nach Deutschland und Nordeuropa und wegen der Dublin II-Verordnung und am liebsten erst gar keine Fingerabdrücke in Griechenland abgeben. Griechenland wiederum erklärt, es können nur wegen der räumlichen Nähe zur Türkei nicht alle Migranten abfangen und aufnehmen.
Gewalttätige Ausschreitungen von Jugendlichen in Moria
Die Regierung in Athen wollte am Montag um die Mittagszeit bei einer Krisensitzung unter Ministerpräsident Kyriakos Mitsotakis beraten, wie es weitergehen soll. Bereits vergangene Woche hatte Athen beschlossen, mehr als 10.000 Migranten von den Inseln zum Festland zu bringen. Nachdem der Tod der Frau bekannt worden war, waren am Sonntag Hunderte aufgebrachte Migranten - in der Mehrheit Jugendliche - auf die Polizei und die Beamten losgegangen, die im Lager arbeiteten. „Kill the Police“ (tötet die Polizei) skandierten die Migranten, sagte der Sprecher der Gewerkschaft der Polizisten von Lesbos, Wasilis Rodopoulos, dem griechischen Nachrichtensender Protothema.
Sie schleuderten Steine und andere Gegenstände und legten Feuer, hieß es. Zudem hätten sie versucht, festgenommene Migranten aus einem Containergefängnis zu befreien, berichteten Reporter vor Ort. Mindestens acht Containerwohnungen seien zerstört worden. „Sie schlugen alles kurz und klein. Wir haben Angst“, sagte ein Einwohner des nahe gelegenen Dorfes Moria dem griechischen Nachrichtensender Skai.
Athen schickt Bereitschaftspolizei auf die Ägaisinsel
Die Randalierer ließen die Feuerwehr laut den Berichten gar nicht an die Brandherde heran. „Wir wurden angegriffen und konnten nicht sofort die Feuer im Lager löschen. Wir hatten Angst um unser Leben“, sagte der Sprecher der Gewerkschaft der Feuerwehrleute von Lesbos, Georgios Dinos, im griechischen Fernsehen.
Ein anderes Feuer, das in einem sogenannten Satellitenlager außerhalb des Registrierlagers von Moria ausgebrochen war, konnte die Feuerwehr unter Einsatz eines Löschflugzeugs schnell löschen, wie das Fernsehen zeigte. Die Regierung brach in der Nacht mit einem Transportflugzeug des Typs C-130 zusätzliche Einheiten der Bereitschaftspolizei nach Lesbos. Die Polizei setzte massiv Tränengas ein, um die ausgebrachten Migranten zurückzudrängen, berichteten Reporter.
Auf den der Türkei vorgelagerten Inseln Lesbos, Chios, Samos, Leros und Kos sind derzeit rund 30.000 Flüchtlinge unter teils prekären Umständen untergebracht, weil der Zustrom von Migranten aus der Türkei in den vergangenen Wochen zugenommen hat. Ihre Zahl ist die Höchste seit Inkrafttreten des EU-Türkei-Flüchtlingspaktes im März 2016. Die Türkei versorgt derzeit knapp vier Millionen Geflüchtete und Migranten im Land. Hintergrund ist auch die zunächst noch nicht eingelöste Ankündigung des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğans, Syrer wegen der Überbelegung und auch des Unmuts der türkischen Bevölkerung wegen steigender Preise etwa auf dem eng gewordenen Wohnungsmarkt in eine Zone im Norden Syriens zurückzuschicken. (mit dpa)