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Das Atomkraftwerk Grohnde im Abendlicht.
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Ende der Atomenergie in Deutschland: Der atomisierte Unterschied

Zwei Männer der ersten Stunde. Ein Gegner, ein Befürworter der Atomkraft. Im Laufe der Jahre haben sich ihre Positionen angenähert. Erstaunlich.

Gerald Hennenhöfer ist gut gelaunt. Der ehemalige Abteilungsleiter Reaktorsicherheit im Umweltministerium geht federnden Schrittes auf das Marie-Elisabeth-Lüders-Haus zu. Dort tagt an diesem Tag im November die Endlagerkommission. Und dort wird er nach einer längeren Pause mal wieder einen öffentlichen Auftritt haben. Die Kommission hat zu einer Anhörung eingeladen, um sich über die Stärken und Schwächen des Standortsuchgesetzes zu informieren. Es war eine der letzten größeren Aufgaben für Hennenhöfer im Ministerium. Zu dem Zeitpunkt ist Michael Sailer schon eingetroffen. Der Geschäftsführer des Öko-Instituts steht vor dem Anhörungssaal und unterhält sich mit dem grünen Umweltminister aus Baden-Württemberg, Franz Untersteller. Untersteller saß bis 2011 im Vorstand des Öko-Instituts. Seit Unterstellers Ausscheiden aus dem Vorstand und dem Institut, weil er Minister geworden war, schreibt Sailer ab und zu ein Gutachten für die Baden-Württemberger. Der Atomkraftbefürworter Hennenhöfer und der Atomgegner Sailer kennen sich seit Jahrzehnten. Mitten im politischen Kampf um die Atomkraft wussten beide genau, wo sie hingehörten. Hennenhöfer war an der Genehmigung des Forschungsreaktors am Berliner Wannsee beteiligt, und Sailer schrieb Gutachten für die Anti-Atombewegung in Wyhl bei Freiburg. Über die Jahre sind sich die beiden immer nähergekommen.

Die Atomenergie ist ein Kind der Technikeuphorie. Technik war für die Nachkriegsgeneration Fortschritt, der Weg zum Wohlstand. Ohne Technik, davon war diese Generation überzeugt, würde die Zivilisation wieder in der Steinzeit landen. Aber die Atomkraftgegner haben den damaligen baden-württembergische Ministerpräsident Hans Filbinger (CDU) trotzdem ausgelacht, als er 1975 drohte, wenn das Akw in Wyhl im Kaiserstuhl nicht schnell gebaut werde, „dann gehen noch vor 1980 die Lichter aus“.

Sailer weiß, dass es keine Technik gibt, die "sicher und wartungsfrei" ist

Michael Sailer kennt diese Technikbegeisterung aus seiner Kindheit. „Ich habe jahrelang neben der Baustelle des Atomkraftwerks Biblis gewohnt“, erzählt er. Da habe man sich gefreut, so moderne Technik zu bekommen. Doch dass die Technik als „sicher und wartungsfrei“ verkauft wurde, hat ihn misstrauisch gemacht. Die Stimme hebt und senkt sich in der hessischen Sprachmelodie. Sailer streckt die Arme aus und verschränkt sie hinter seinem Kopf. Die langen schwarzen Haare, die er stets offen trägt, sind durchzogen von silbernen Strähnen. Ein großer Schnurrbart thront über seinen Lippen, darunter sitzt ein Kinnbart wie ein graues umgedrehtes Dreieck.

Sailer, inzwischen 61 Jahre alt, sitzt in seinem Berliner Büro im Öko-Institut im Schicklerhaus nicht weit vom Alexanderplatz. Das war mal die Parteizentrale der von der SPD abgespaltenen radikaleren USPD und von 1930 bis 1933 die Marxistische Arbeiterschule, in der auch der berühmte Physiker Albert Einstein Vorträge hielt. Sailer ist seit 2009 Sprecher der Geschäftsführung des in Freiburg vor 37 Jahren gegründeten Instituts.

Michael Sailer arbeitet seit den 1980er Jahren als Atomexperte für das Öko-Institut. Er ist einer der Geschäftsführer des in Freiburg gegründeten Instituts, das in seinen Anfangsjahren vor allem Gegengutachten für den Whyler Widerstand schrieb.
Michael Sailer arbeitet seit den 1980er Jahren als Atomexperte für das Öko-Institut. Er ist einer der Geschäftsführer des in Freiburg gegründeten Instituts, das in seinen Anfangsjahren vor allem Gegengutachten für den Whyler Widerstand schrieb.
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Sailer ist „in einem Ingenieurshaushalt“ aufgewachsen. Dort lernte er auch die andere Seite der Technik kennen. Sailer beschreibt sie so: „Die Tücke der Technik besteht darin, dass immer etwas versucht, schiefzugehen.“ Manchmal durfte er seinen Vater begleiten, wenn im Kraftwerk Reparaturen anstanden. Anlagen, bei denen viele einzelne Teile zusammen ein Ganzes ergeben, „sind unheimlich wartungsintensiv“. Das hat er früh gelernt.

Sailer war der Tschernobyl-Erklärer

Sailer hat dann Technische Chemie studiert in Darmstadt und schon 1980 beim Öko-Institut in Darmstadt angefangen. 1986 wurde Sailer der deutschen Öffentlichkeit bekannt, weil er und seine Kollegen in der Atomabteilung des unabhängigen Forschungsinstituts so ziemlich die Einzigen waren, denen die besorgten Deutschen nach der Atomkatastrophe in Tschernobyl noch etwas glaubten. Sailer hat in unzähligen Tagesschauen die Explosion in der Ukraine erklärt und gleichzeitig der zunehmend hysterischer werdenden Öffentlichkeit Alltagstipps gegeben.

Hennenhöfer gibt den Atomlobbyisten souverän

Gerald Hennenhöfer, mittlerweile 67 Jahre alt und seit Anfang des Jahres im Ruhestand, ist Jurist. Er hat im Bundesbauministerium in Bonn angefangen und sich dann zur „Kinderlandverschickung“ nach Ostberlin zu Günter Gaus gemeldet. Die Aufgabe der Ständigen Vertretung sei es damals gewesen, das „Elend der Teilung zu lindern“ und „Brücken über die Mauer“ zu bauen. Dort habe er nicht nur Diplomatie gelernt , sondern auch, „systemübergreifende Kompromisse“ zu schließen. Von Ostberlin wechselte er in den Berliner Senat, wo er fünf Jahre lang als Abteilungsleiter Wirtschaftspolitik und Energie arbeitete. „Das war meine erste Begegnung mit der Kernenergie und den Auseinandersetzungen darum“, berichtet er. „Der Erörterungstermin zum Forschungsreaktor Wannsee ist trotz aller Emotionen friedlich über die Bühne gegangen“, sagt er und grinst in sich hinein, die Augen werden dann schmal und blitzen. Hennenhöfer gibt souverän die Rolle des Atomlobbyisten. Er plustert sich auf, grinst dabei aber schon wieder, und gleich lümmelt er sich wieder in seinen Drehstuhl. Er stellt sich seinen Gegnern schon mal mit den Worten vor: „Hennenhöfer. Ich bin der Böse.“ Er und der Wortführer der Einwender gegen die Erweiterung des Wannsee-Reaktors, der Rechtsanwalt Klaus-Martin Groth, hätten sich aber „über den geordneten Ablauf verständigen können“, berichtet er. „Ich habe damals beim Senat sogar prüfen lassen, ob Maßnahmen zum Schutz gegen einen Flugzeugabsturz möglich sind “, sagt Hennenhöfer.

Gerald Hennenhöfer war bis Mai 2014 Abteilungsleiter Reaktorsicherheit im Bundesumweltminiserium. Er habe als "68er" die Atomenergie zunächst skeptisch gesehen, sagt er.
Gerald Hennenhöfer war bis Mai 2014 Abteilungsleiter Reaktorsicherheit im Bundesumweltminiserium. Er habe als "68er" die Atomenergie zunächst skeptisch gesehen, sagt er.
© Kai-Uwe Heinrich

Die Katastrophe in Tschernobyl erlebte Hennenhöfer als nicht-technischer Geschäftsführer der Gesellschaft für Reaktorsicherheit (GRS), wohin er aus der „Berliner Sackgasse“ wechselte. Sieben Jahre lang führte er die bis heute wichtigste Atomforschungseinrichtung in Deutschland. Hennenhöfer steht wie kaum ein anderer für die Atomlobby in Deutschland. Von 1994 bis 1998 war Hennenhöfer Abteilungsleiter für Reaktorsicherheit im Bundesumweltministerium. Dann wechselte er zur damaligen Viag, die später in Eon aufging, und verhandelte für das Unternehmen den Atomausstieg mit der rot-grünen Bundesregierung. Nach einer Zwischenstation in der Großkanzlei Redeker, Sellner, Dahs, wo Hennenhöfer unter anderem den früheren Betreiber des Skandalendlagers Asse, das Helmholtz-Zentrum München, vertrat, holte ihn der damalige Umweltminister Norbert Röttgen (CDU) wieder an die Spitze der Atomaufsicht. Anfangs widerstrebend, wie Hennenhöfer sagt, aber dann habe ihn die Beamtenpflicht und seine fachliche Verantwortung doch wieder auf den alten Posten geführt. Dort blieb er samt einer über das übliche Pensionsalter hinausreichenden Verlängerung, bis ihn Umweltministerin Barbara Hendricks (SPD) Anfang 2014 in den Ruhestand versetzte.

In Tschernobyl hätte Hennenhöfer gerne noch ein Problem gelöst

Hennenhöfer findet die öffentlichen Angriffe auf seine Person unfair. Denn „als Beamter konnte ich mich nicht wehren und zu unzutreffenden Sachverhalten Stellung nehmen“. Er sei für die Politik des Ministers in der Öffentlichkeit verantwortlich gemacht worden, habe aber nicht öffentlich reagieren können. Hennenhöfer war jedenfalls beeindruckt vom „Tiefgang der sicherheitstechnischen Bewertungen“ bei der GRS, die nach Tschernobyl allerdings die Brisanz der Katastrophe in der Öffentlichkeit völlig unterschätzte. Warum das Volk nicht glauben wollte, dass so etwas wie in Tschernobyl in westlichen Atomanlagen nicht passieren könne, haben die Techniker bei der GRS damals einfach nicht verstanden. Hennenhöfer sagt dagegen, mit der „Skepsis des 68ers“ sei ihm die Technologie damals auch „nicht geheuer“ gewesen. Heute würde Hennenhöfer in Tschernobyl gerne noch ein Projekt abschließen, nämlich den Bau einer neuen Schutzhülle über dem 1986 hektisch errichteten Sarkophag über der Kraftwerksruine. Das Bauwerk droht gegenwärtig an Geldmangel zu scheitern. Der Sarkophag wird aber immer löchriger. Bis vor kurzem hat sich Hennenhöfer als Chef der europäischen Atomregulierer, Ensreg, noch dafür eingesetzt, das Bauwerk fertigzustellen. Im Mai musste er den Posten aufgeben.

Von Töpfer zu Merkel

1994 rief ihn „zu meiner Verblüffung“ der damalige Umweltminister Klaus Töpfer (CDU) an und bat ihn, Abteilungsleiter der Reaktorsicherheitsabteilung zu werden. Es dauerte etwas, bis Töpfer ihn im Kabinett durchgesetzt hatte, weil sich der damalige Kanzler Helmut Kohl (CDU) an Hennenhöfers Parteilosigkeit gestört haben soll. „Töpfer wusste bis ins Detail Bescheid. Es gab immer ausführliche Diskussionen mit ihm“, erzählt er. Doch dann war Töpfer schnell weg und ihm folgte Angela Merkel (CDU).

Zur späteren Kanzlerin hat Hennenhöfer ein „offenes Verhältnis“ gehabt. Dazu mag beigetragen haben, dass er wegen seiner kurzen Zeit im Umweltministerium nicht als eingeschworener Töpfer-Mann galt. Mit denen hatte Merkel nämlich in großer Zahl zu tun. In der Öffentlichkeit herrschte damals der Eindruck, dass Töpfer kaum Fehler gemacht hatte. Ein Beispiel: die Wiederaufnahme der Einlagerung von atomaren Abfällen im ehemaligen Atomendlager der DDR in Morsleben. Auch der an der innerdeutschen Grenze in Sachsen-Anhalt gelegene Salzstock Morsleben ist ein Skandalendlager. Doch Töpfer habe schon 1992 entschieden, das Lager weiter zu betreiben, nachdem Gutachter bestätigt hätten, dass „Morsleben langzeitsicher geschlossen werden“ könne. Töpfer habe so versucht, die Schließung durch die Endlagerbeiträge zu finanzieren. Hennenhöfer sagt, es habe an „sachlichen Argumenten gefehlt, das zu ändern“.

Mit den Jahren wuchs der Respekt voreinander

Wann sich Hennenhöfer und Sailer zum ersten Mal begegnet sind, weiß keiner der beiden genau zu sagen. Sailer sagt: „Ich rede mit jedem.“ Schon früh habe er mit Leuten in der Nuklearindustrie Kontakt gehabt. „Dort gab es auch Leute, die besorgt waren“, sagt er. 1999 ist Sailer jedenfalls in die Reaktorsicherheitskommission (RSK) berufen worden, sein Kollege beim Öko-Institut, Lothar Hahn, wurde Vorsitzender der RSK, nachdem Jürgen Trittin (Grüne) Umweltminister geworden war. Sailer hat derweil die rot-grüne Koalition in Hessen und ihren Umweltminister Joschka Fischer (Grüne) in Sachen Biblis beraten. Das Atomkraftwerk, betrieben von RWE, galt als störanfällig, und Fischer war entschlossen, es RWE schwer zu machen. Dass die besonders gründliche Überprüfung in den beiden Reaktoren in Biblis tausende falsch montierter Dübel zu Tage förderte, hat in der Öffentlichkeit den Eindruck verstärkt, dass RWE in Hessen einen „Schrottreaktor“ in Betrieb hatte. Doch das Duo Merkel/Hennenhöfer hat es Fischer mehrfach mit bundesaufsichtlichen Anordnungen unmöglich gemacht, Sicherheitsauflagen durchzusetzen. Dabei sieht sich Hennenhöfer als „Sicherheitsmann“.

Sailer sagt mit Respekt in der Stimme, dass Hennenhöfer schon „vertieft nachdenkt“. Hennenhöfer ist beeindruckt von dem Wissen, das sich Sailer mit den Jahren angeeignet hat. Er habe ihn über viele Jahre hinweg als kompetenten und streitbaren Gesprächspartner kennengelernt. Dass seit 1999 „die ganze fachliche Breite“ der Atomwissenschaft in der RSK vertreten war und später im AK Endlager drei Jahre lang an einem Konzept für ein Atomendlager in Deutschland gearbeitet hat, hat das Verständnis auf beiden Seiten erhöht. Sailer erkannte erst mit einer gewissen Schadenfreude, später aber eher einer gewissen Besorgnis, dass sich in der etablierten Atomszene viele „bis auf’s Messer bekämpft“ haben. Hennenhöfer wiederum will nun wirklich nicht für jeden umstrittenen Atomforscher in Haftung genommen werden, auch wenn er sich nicht distanziert. Er kneift dann die Augen zusammen und überlegt sich sichtlich, ob er aufbrausen soll – und lässt es dann lieber.

Der Streit um die Endlagerung

Wobei Hennenhöfer keineswegs altersmilde geworden ist. Bei seinem Auftritt in der Endlagerkommission wütete er offen gegen den von ihm wenig geschätzten Chef des BfS, Wolfram König. Trittin hat König zum Chef des BfS gemacht, er hat seither vier Umweltminister überlebt, obwohl zumindest zwei – auch auf Hennenhöfers Betreiben – versucht haben, ihn loszuwerden. Jedenfalls sagte Hennenhöfer mit Blick auf die jahrelangen Verzögerungen beim Bau des Endlagers für schwach- und mittelradioaktive Abfälle Schacht Konrad bei Salzgitter, da sei ja zu sehen, dass Bau und Betrieb von Endlagern „nicht die Königsdisziplin des BfS“ seien.

Die Abneigung gegen König teilt Hennenhöfer übrigens mit Michael Sailer, der seit Jahren Vorsitzender der Endlagerkommission ist, dem wichtigsten Beratungsgremium der Regierung in Sachen Atomendlager. Sailer wäre es lieber gewesen, wenn es möglich gewesen wäre, das Skandalendlager in Asse auf andere Weise sicher zu schließen, als den Atommüll wieder aus dem Salzstock herauszuklauben. Das BfS versucht das derzeit, weil eine sichere Schließung auf andere Weise nicht möglich scheint.

Mit der „Lex Asse“ hat der Bundestag diesen Weg nicht nur gebilligt, sondern auch etwas beschleunigt. Anders, davon waren die fünf Berichterstatterinnen aller Bundestagsparteien in der vergangenen Legislaturperiode überzeugt, könnte das Vertrauen der Bürger in der Region nicht zurückgewonnen werden. Sailer findet, dass die Asse mit ihren relativ geringen radioaktiven Lasten vom „eigentlichen Problem“ ablenke – nämlich ein Endlager für den hochradioaktiven Müll zu finden. In einem sind sich übrigens König, Sailer und Hennenhöfer vollkommen einig. Alle drei sagen: „Jetzt muss aufgeräumt werden.“

In einer früheren Version des Textes ist der baden-württembergische Umweltminister fälschlich als Vorstandsmitglied des Öko-Instituts bezeichnet worden. Er hat dieses Amt 2011 abgegeben und schied ganz aus dem Institut aus. Wir bedauern den Fehler, den wir im Text inzwischen korrigiert haben.

Dagmar Dehmer

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