Nach Haftentlassung in der Türkei: Deniz Yücel in Berlin gelandet
Der "Welt"-Korrespondent ist zurück in Deutschland. Freitagabend landete er in Tegel. In einer Videobotschaft sagt Yücel: "Ich weiß nicht, warum ich als Geisel genommen wurde."
Der "Welt"-Korrespondent Deniz Yücel hat die Türkei verlassen und ist in Berlin gelandet. Seine Maschine der Chartergesellschaft Aerowest landete am Freitagabend am militärischen Teil des Flughafens Tegel. Der Journalist war zuvor nach einem Jahr in türkischer Haft aus dem Gefängnis entlassen worden.
„Ich weiß immer noch nicht, warum ich vor einem Jahr verhaftet wurde, genauer, warum ich vor einem Jahr als Geisel genommen wurde - und ich weiß auch nicht, warum ich heute freigelassen wurde. Eine Anklage hab' ich immer noch nicht“, sagte Yücel in einer per Twitter verbreiteten Videobotschaft. „Natürlich freue ich mich, aber es bleibt etwas Bitteres zurück.“
„So wie meine Verhaftung nichts mit Recht und Gesetz und Rechtsstaatlichkeit zu tun hatte, hat auch meine Freilassung nichts mit alledem zu tun“, sagte der 44-Jährige sichtlich bewegt in dem Statement, das auf dem Twitter-Account „Freundeskreis #FreeDeniz“ verbreitet wurde. Er danke allen, die in der ganzen Zeit an seiner Seite gestanden hätten.
Yücel erinnerte daran, dass immer noch viele Kollegen in der Türkei in Haft sitzen. Er habe seinen Zellennachbarn zurückgelassen, einen türkischen Journalisten, der nur wegen seiner journalistischen Tätigkeit in Haft sitzt - „und viele andere Journalisten, die nichts anderes getan haben, als ihren Beruf auszuüben.“
Bürgermeister rechnet mit Yücel-Besuch im hessischen Flörsheim
Nach Ansicht des Flörsheimer Bürgermeisters könnte Yücel schon bald in seine hessische Heimat kommen. „Ich denke, dass er seinen Vater im Krankenhaus besucht“, sagte Michael Antenbrink (SPD) der Deutschen Presse-Agentur. Er hofft auf ein baldiges Treffen mit dem Journalisten: „Deniz Yücel wird sich melden, wenn er sich in der Verfassung dazu fühlt. Dann werden wir uns unterhalten.“ Wenn es eine gemeinsame Veranstaltung in Flörsheim geben könne, würde er sich darüber freuen. „Jetzt steht erstmal die Familie im Vordergrund“, sagte der Bürgermeister.
In Flörsheim, wo Yücels Eltern und seine Schwester leben, gab es am Freitag eine spontane Freuden-Demonstration und einen Autokorso. Auch in Berlin feierten Menschen mit einem Autokorso.
Die Türkei hatte den deutsch-türkischen Journalisten Deniz Yücel am Freitag aus der Haft entlassen. Sein Anwalt Veysel Ok teilte auf Twitter mit: „Und endlich gibt es für meinen Mandanten Deniz Yücel einen Entlassungsbefehl.“ Die Bundesregierung bestätigte die Freilassung. Am frühen Nachmittag twitterte Yücels Anwalt ein Foto, dass zeigt, wie Ehefrau Dilek Yücel seinen Mandanten vor dem Gefängnis in Empfang nimmt.
Yücels Freilassung wurde von dem Gericht nach der Vorlage einer Anklageschrift durch die Staatsanwaltschaft angeordnet. Wie die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu meldete, werden in der Anklage 18 Jahre Haft gefordert. Das Gericht habe die Anklageschrift angenommen und Yücel dann aus der Untersuchungshaft entlassen.
Der geschäftsführende Außenminister Sigmar Gabriel zeigte sich erfreut über die Entscheidung der türkischen Justiz. "Ich bin sehr froh über diesen Ausgang." Vor allem freue er sich für Yücel und dessen Familie. "Das ist ein guter Tag für uns alle." Ausdrücklich bedankte er sich bei der türkischen Regierung für "ihre Unterstützung bei der Verfahrensbeschleunigung".
Er habe in den letzten Monaten viele direkte Gespräche mit der türkischen Regierung zur Beschleunigung des Verfahrens geführt, sagte Gabriel weiter. Dazu hätten auch zwei Treffen mit dem türkischen Staatspräsidenten Erdogan gehört. Dabei habe die türkische Regierung immer Wert darauf gelegt, dass sie keinen politischen Einfluss auf die Gerichtsentscheidung nehmen werde. Die Unabhängigkeit der Gerichtsentscheidung sei immer ein zentrales Anliegen in allen Gesprächen gewesen. Gabriel bedankte sich beim türkischen Außenminister Mevlüt Cavusoglu, der die Gespräche möglich gemacht habe, sowie Bundeskanzlerin Angela Merkel "für ihr Vertrauen in die Arbeit des Auswärtigen Amtes in diesem schwierigen Fall".
Auch Angela Merkel begrüßte die Freilassung. "Ich freue mich wie viele, viele andere, dass er heute das Gefängnis verlassen konnte. Ich freue mich für ihn, für seine Frau und seine Familie, die ein schwieriges Jahr der Trennung durchmachen mussten", sagte sie in Berlin. Sie dankte allen, die das möglich gemacht haben, und schloss in diesen Dank ausdrücklich Außenminister Sigmar Gabriel ein.
Nach der Freilassung wollen Deutschland und die Türkei ihre Beziehungen zunächst in den Bereichen Wirtschaft, Energie und Sicherheit wieder verbessern. Das vereinbarten die Außenminister Gabriel und Cavusoglu am Freitagabend bei einem Treffen am Rande der Münchner Sicherheitskonferenz. „Wir haben eines dieser Probleme zwischen uns überwunden, nun müssen wir uns auf die positiveren Sachen konzentrieren“, sagte Cavusoglu, der Gabriel als seinen „lieben Freund“ bezeichnete. „Wir sind zwei Außenminister, die zusammenarbeiten, um unsere bilateralen Beziehungen zu stärken.“
Gabriel betonte, dass man unterschiedlicher Meinung sein könne, „aber in einer Weise des gegenseitigen Repekts“. Man müsse nun „nach gemeinsamen Wegen in unserer gemeinsamen Zukunft“ suchen.
„Weder saubere noch schmutzige Deals“
Gabriel bekräftigte später, dass es im Zusammenhang mit der Freilassung des Journalisten Deniz Yücel keine Zusagen an die Türkei gegeben habe. „Weder gab es saubere noch schmutzige Deals“, sagte der SPD-Politiker am Freitagabend im „heute journal“ des ZDF. „Für uns ist das eine juristische Entscheidung.“ Die türkische Seite habe keine Forderungen gestellt, und die deutsche Seite habe nichts anbieten können. Er wies darauf hin, dass noch fünf weitere Deutsche in der Türkei in Haft säßen.
Gabriel zufolge soll auch der frühere Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) geholfen haben, „Türen aufzumachen in Istanbul“. Schröder sei zweimal dort gewesen. Gabriel selbst bat nach Informationen des Rechercheverbunds von NDR, WDR und „SZ“ unter anderem während eines Treffens mit dem türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan in Rom Anfang Februar um die Freilassung Yücels. Andernfalls bleibe das Verhältnis zwischen Deutschland und der Türkei schwer belastet. Erdogan hatte in der italienischen Hauptstadt den Papst getroffen.
Eine Woche danach traf sich Gabriel dem Bericht zufolge auf Bitten der Türkei in Istanbul erneut mit Erdogan, um Einzelheiten des Falls zu besprechen. Teil der im Geheimen geführten Verhandlungen sei auch ein Treffen Schröders mit Erdogan im Januar gewesen. Bislang war die Reise vor allem mit der Freilassung des deutschen Menschenrechtlers Peter Steudtner in Verbindung gebracht worden.
Zu den Folgen der Freilassung für seine eigene politische Zukunft wollte sich Gabriel nicht äußern. Er habe kein Interesse daran, die Lösung eines humanitären Falls mit Personalfragen zu verknüpfen. „Ganz im Ernst, das war mir völlig egal, darum darf es nicht gehen“, versicherte er. Seit Oktober habe es Gespräche über eine Freilassung Yücels gegeben. Dass es in der SPD eine Personaldebatte über das Außenministerium geben werde, „das wussten wir damals nicht, und das darf uns auch nicht interessieren. Das wäre ja abenteuerlich“.
Forderung aus SPD: Gabriel soll Außenminister bleiben
In der SPD wurden nach Bekanntwerden von Yücels Freilassung erneut Rufe laut, Gabriel in einer neuen großen Koalition im Amt des Außenministers zu belassen. Der SPD-Bundestagsabgeordnete Axel Schäfer sprach von einem „Riesenerfolg für den Außenminister“, der Tag und Nacht für Yücels Freilassung gearbeitet habe. „Jetzt gibt es noch weniger Grund, Gabriel abzulösen“, sagte Schäfer dem Tagesspiegel. „Die SPD hat niemand besseren für das Außenamt.“
In der Parteispitze gibt es große Vorbehalte gegen eine weitere Amtszeit Gabriels. Führende Sozialdemokraten befürchten, dass sich der ehemalige Vorsitzende im Fall einer neuerlichen Berufung an die Spitze des Auswärtigen Amts nicht auf die Außenpolitik beschränken würde. Gabriel könne sich nicht unterordnen und werde versuchen, die Autorität der designierten Parteichefin Andrea Nahles und des designierten Vizekanzlers Olaf Scholz zu untergraben, heißt es.
Nahles spricht von "Freudentag" - ohne Gabriel zu erwähnen
Nahles selbst rief Gabriel zur Zurückhaltung in eigener Sache auf. "Es ist jetzt nicht die Zeit, dass Einzelne eine Kampagne für sich selbst starten", sagte Nahles dem "Spiegel". "Die Mitglieder der SPD haben die Faxen dicke von den ewigen Personaldebatten." Es gehe jetzt darum, bei den Parteimitgliedern um Zustimmung zum Koalitionsvertrag zu werben.
Später nahm Nahles auch zu Yücels Freilassung Stellung. "Das ist ein Freudentag für uns alle, vor allem für seine Familie und seine Freundinnen und Freunde. Doch wir werden nicht vergessen und uns weiter dafür einsetzen, dass auch alle anderen zu Unrecht inhaftierten Deutschen in der Türkei so schnell wie möglich wieder in Freiheit sein werden." Gabriels Rolle erwähnte sie nicht.
Erst am Vortag Treffen von Merkel und Yildirim
Der Fall war zuletzt der größte Streitpunkt im Verhältnis zur Türkei. Yücel saß ein Jahr ohne Anklage in der Türkei im Gefängnis. Der „Welt“-Korrespondent hatte sich am 14. Februar 2017 freiwillig der Istanbuler Polizei gestellt, nachdem wegen seiner Berichterstattung über den türkischen Energieminister nach ihm gesucht worden war. Zwei Wochen später, am 27. Februar, kam Yücel aus dem Polizeigewahrsam in Untersuchungshaft. Der Haftrichter warf ihm Terrorpropaganda und Aufwiegelung der Bevölkerung vor. Zuletzt war aber Bewegung in den Fall gekommen.
Kanzlerin Merkel (CDU) hatte am Donnerstag nach einem Treffen mit dem türkischen Ministerpräsidenten Binali Yildirim gesagt, sie habe Yildirim darauf hingewiesen, „dass dieser Fall eine besondere Dringlichkeit für uns hat“. Vor seinem Deutschland-Besuch hatte Yildirim der ARD gesagt, er hoffe auf eine baldige Freilassung Yücels. Gabriel sagte Mitte der Woche bei einem Besuch in Belgrad: „Ich bin relativ optimistisch, dass wir doch jetzt bald zu einer Gerichtsentscheidung kommen.“ Der SPD-Politiker fügte an: „Und ich hoffe natürlich, dass die positiv für Deniz Yücel ausgeht.“
Im Oktober hatte ein türkisches Gericht die Freilassung des deutschen Menschenrechtlers Peter Steudtner verfügt und keine Ausreisesperre verhängt. Er konnte nach Deutschland zurückkehren, obwohl der Prozess gegen ihn weiterläuft. Steudtners Freilassung - und auch die der Übersetzerin Mesale Tolu - hat zu einer leichten Entspannung des deutsch-türkischen Verhältnisses geführt. (mit dpa, Reuters, AFP, epd)