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Der Menschenrechtler Peter Steudtner saß drei Monate lang in der Türkei in Untersuchungshaft.
© AFP

Rückkehr nach Deutschland: Weshalb Peter Steudtner in der Türkei freikam

Die Freilassung des Berliner Menschenrechtlers kam für die meisten Beobachter überraschend. Was sind die politischen Hintergründe? Die wichtigsten Fragen und Antworten.

Als Peter Steudtner die Monate in türkischer Haft gedanklich Revue passieren lässt, kommen ihm die Tränen. In der Nacht zum Donnerstag steht der Berliner Menschenrechtler zusammen mit seinen Leidensgenossen vor dem Gefängnis in Silivri westlich von Istanbul, ein türkisches Gericht hat sie gerade nach einer ganztägigen Verhandlung auf freien Fuß gesetzt. Danken wolle er allen, die sich auf „juristischer und diplomatischer Ebene“ für die Inhaftierten eingesetzt hätten, sagte Steudtner.

Wie kam die Freilassung zustande?

Steudtner und seine Kollegen waren am Mittwoch im Gerichtssaal Zeugen einer auffälligen Wandlung in der Haltung der türkischen Justiz geworden: Im krassen Widerspruch zu den über Monate erhobenen Vorwürfen an die Menschenrechtler, sie hätten sich Anfang Juli auf der Insel Büyükada zur Vorbereitung eines Umsturzversuches getroffen, beantragte die Staatsanwaltschaft die Freilassung der Beschuldigten. Das Gericht stimmte zu.

Nun geht der Prozess gegen die Aktivisten zwar am 22. November weiter, doch zumindest für Steudtner und den Schweden Gharavi ist die Sache ausgestanden. Niemand erwartet, dass sie im November in die Türkei zurückkehren werden, um erneut vor Gericht zu erscheinen. Selbst bei einer Verurteilung sind sie sicher, solange sie nicht mehr in die Türkei reisen. Sie wurden am Donnerstagabend in Berlin erwartet.

Welche Rolle spielte Gerhard Schröder?

Außenminister Sigmar Gabriel (SPD) hat sich offenbar entschieden, seinen alten Freund Gerhard Schröder als Vermittler nach Ankara zu schicken. Nur ein sehr kleiner Kreis in Berlin war eingeweiht. Im September traf der Altkanzler mit dem türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan zusammen, den er noch aus seiner Zeit als Bundeskanzler kannte. Damals war Erdogan Ministerpräsident der Türkei. Von Erdogan hieß es, Schröder sei der einzige deutsche Politiker, den er schätze. Berührungsängste im Umgang mit Autokraten hat Schröder nicht, schließlich zählt er den russischen Präsidenten Wladimir Putin zu seinen Freunden. Vor der Reise nach Ankara traf sich Schröder mit Bundeskanzlerin Angela Merkel, die der Mission ihren Segen gab.

Gabriel dankte Schröder für die Vermittlung und fand lobende Worte für die Regierung in Ankara: „Die türkische Regierung hat alle Zusagen eingehalten“, sagte Gabriel dem „Spiegel“. Unklar ist allerdings bisher, ob Schröder dem türkischen Staatschef eine Gegenleistung versprochen hat – und wenn ja, welche.

Wie unabhängig ist die türkische Justiz?

Während Steudtner seine Sachen packte, wurde deutlich, dass offenbar ein Zusammenspiel mehrerer Faktoren das Happy End ermöglichte. Erdogan soll Schröder zugesagt haben, den Berliner Aktivisten per Regierungsbeschluss nach Hause zu schicken, wenn er verurteilt werden sollte. Das wurde wegen der Entscheidung zur vorläufigen Freilassung der Angeklagten überflüssig.

Doch auch bei diesem Beschluss dürfte eine politische Intervention eine Rolle gespielt haben. In einem Fall wie dem von Steudtner und Co., in dem Erdogan persönlich die Beschuldigten als Staatsfeinde beschimpft, wird sich kein türkischer Staatsanwalt oder Richter allein auf rechtsstaatliche Grundsätze verlassen. Die türkische Regierung kontrolliert die Besetzung der Gerichte und hat seit dem Putschversuch des vergangenen Jahres mehr als 4000 unbotmäßige Richter abgesetzt. Wahrscheinlich hätten Richter und Staatsanwalt in Istanbul einen Hinweis aus Ankara erhalten, kommentierte der amerikanische Türkei-Experte Howard Eissenstat auf Twitter.

Möglicherweise zeigte sich bei Steudtner die Folge deutscher Wirtschaftssanktionen, die seit Monaten angedroht werden. Zuletzt hatte die Bundesregierung bei europäischen Kreditinstitutionen auf schärfere Bedingungen für Türkei-Geschäfte gedrängt. Als wichtigster Handelspartner der Türkei kann die Bundesrepublik ihren Unmut über die Behandlung ihrer Staatsbürger durch die türkische Justiz mit spürbaren Konsequenzen verbinden. Nach Steudtners Freilassung kommt die Forderung auf, der deutsche Druck auf die Türkei müsse weiter forciert werden, um auch die Freilassung anderer Häftlinge zu erreichen.

Gibt es nun weitere Freilassungen?

Fest steht, dass Erdogan seine eigenen Anhänger mit der Kursänderung im Fall der angeklagten Menschenrechtler überraschte. Die regierungsnahe Presse hatte Steudtner und die anderen über Monate als gewiefte Geheimagenten beschrieben, die auf Büyükada einen Aufstand gegen Erdogan und die Zerstörung der staatlichen Einheit der Türkei geplant hätten. Dass dieselben Personen nun plötzlich auf freien Fuß gesetzt wurden, zerstörte dieses Feindbild. Die erdogantreue Zeitung „Yeni Akit“ nannte die Freilassungen deshalb einen „Skandal“.

Klar wurde am Tag nach Steudtners Haftentlassung aber auch, dass der glimpfliche Ausgang seines Prozesses keine Schlussfolgerung für das Schicksal anderer deutscher oder türkischer Häftlinge in der Türkei zulässt. Steudtner kam rund hundert Tage nach seiner Verhaftung vor Gericht – der deutsch-türkische Journalist Deniz Yücel sitzt dagegen seit Februar ohne Anklageschrift hinter Gittern. Niemand weiß, wann Yücel vor den Richter kommt.

Bei der ebenfalls angeklagten deutschen Übersetzerin Mesale Tolu hatte das zuständige Gericht eine Freilassung abgelehnt. Ihr Prozess soll am 18. Dezember fortgesetzt werden. In Izmir begann am Donnerstag der Prozess gegen den Vorsitzenden von Amnesty International in der Türkei, Taner Kilic, der auch im Istanbuler Prozess mitangeklagt war. Anders als die Staatsanwaltschaft in Istanbul beantragte die Anklage in Izmir die Fortsetzung der Untersuchungshaft für Kilic: Man müsse noch Beweismittel gegen den Angeklagten sammeln.

Ändert sich nun der Umgang der Türkei mit Andersdenkenden?

Es ist keine Änderung der harten Haltung der türkischen Regierung bei der Verfolgung ihrer Kritiker erkennbar. Während Steudtner die frohe Nachricht von seiner Freilassung feiern konnte, nahm die Istanbuler Polizei die Journalistin Zeynep Kuray wegen angeblich staatsfeindlicher Facebook-Mitteilungen fest. Das Polizeiverhör für den Unternehmer und Kulturförderer Osman Kavala, einen vorige Woche festgenommenen wichtigen Vertreter der türkischen Zivilgesellschaft, wurde am Donnerstag um weitere sieben Tage verlängern.

Wie ernst ist Erdogans Angebot eines Tauschhandels?

Mehrmals hat Erdogan öffentlich betont, dass westliche Häftlinge in der Türkei nur dann mit Freilassung rechnen können, wenn im Gegenzug angebliche türkische Staatsfeinde aus dem Ausland in die Türkei überstellt werden. Westliche Politiker werfen dem türkischen Staatspräsidenten deshalb vor, westliche Bürger in den Gefängnissen des Landes als „Geiseln“ zu betrachten. Die Bundesregierung in Berlin weist mögliche Tauschgeschäfte dieser Art empört zurück, doch Schröders Besuch bei Erdogan lässt neue Fragen nach möglichen Gegenleistungen der deutschen Seite für Steudtners Freilassung aufkommen. In türkischen Internetforen verbreitet sich bereits das Gerücht, Deutschland habe doch einem Tauschhandel zugestimmt: Im Gegenzug für die Freilassung Steudtners habe es in Deutschland sechs Festnahmen auf Bitten des türkischen Geheimdienstes MIT gegeben. Beweise dafür gibt es nicht.

Welche weiteren politischen Hintergründe gibt es?

Politisch wäre die weitere Inhaftierung der Menschenrechtler für Erdogan wohl zu kostspielig geworden. Denn sowohl im Inneren wie im Äußeren wachsen dem Staatschef die Probleme über den Kopf. Die Arbeitslosigkeit nimmt zu, die türkische Lira verliert weiter an Wert, eine neue Rechtspartei ist diese Woche unter Führung der populären Nationalistin Meral Aksener gegründet worden und bedroht die politische Zukunft Erdogans und dessen konservativ-religiöser Regierungspartei. In Syrien, im Verhältnis zum Irak und zum Iran musste Erdogan spektakuläre Kehrtwenden beginnen, die noch nicht abgeschlossen sind.

Wie wirkt sich die Haftentlassung auf Beziehungen der Türkei zum Westen aus?

Steudtners Freilassung bremst zunächst die Bildung einer größeren Front von EU-Staaten gegen Erdogans Türkei. Für Ankara scheint es gegenwärtig leichter, das Verhältnis zu Europa wieder zu reparieren als das Verhältnis zu den USA. So dauert die Visa-Krise auch nach dem Besuch einer großen Delegation aus Washington an. Diplomatische Vertretungen der USA in der Türkei geben weiter keine Visa aus als Reaktion auf die Festnahme von zwei Konsulatsmitarbeitern. Ankara hat den Streit noch verschärft und einen Haftbefehl für einen dritten US-Mitarbeiter erlassen.

Ungelöst sind weiter der Streit um die militärische Hilfe der USA für die Kurden in Syrien und um die Auslieferung des Predigers Fethullah Gülen. Ein Prozess in New York könnte für Erdogan selbst unangenehm werden: Vor Gericht stehen der Goldhändler Reza Zarraf, ein Manager der staatlichen türkischen Halkbank und – in Abwesenheit – ein ehemaliger Wirtschaftsminister Erdogans. Es geht um die Umgehung der Iran-Sanktionen. Zutage treten könnten aber auch hohe Schmiergeldzahlung an türkische Regierungskreise und die Familie Erdogans.

Was bedeutet Steudtners Freikommen für die deutsch-türkischen Beziehungen?

Noch-Außenminister Sigmar Gabriel sprach nach Steudtners Freilassung von einem ersten „Zeichen der Entspannung“. Jetzt hofft man in Berlin auf weitere positive Signale aus Ankara – besonders für die immer noch in der Türkei inhaftierten Deutschen Deniz Yücel, Mesale Tolu und andere. Sehr aufmerksam ist in der Bundesregierung registriert worden, dass sich der türkische Außenminister Mevlut Cavusoglu vor wenigen Wochen sehr deutlich für eine Annäherung ausgesprochen hatte. Er sei bereit, Anstrengungen für eine Normalisierung in den Beziehungen zu unternehmen, hatte Cavusoglu dem „Spiegel“ gesagt. „Ich habe meinem Freund Sigmar Gabriel schon vor der Wahl gesagt: Lass uns gemeinsam nach vorn blicken. Wenn ihr einen Schritt auf uns zugeht, gehen wir zwei auf euch zu.“

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