Ablenkungsmanöver einer neuen Regionalmacht: Das steckt tatsächlich hinter Erdogans Nazi-Vergleichen
Der türkische Präsident attackiert Europa und Deutschland so scharf wie selten zuvor. Was Erdogan damit bezweckt und welche Folgen das hat.
Eigentlich werden Demonstrationen in der Türkei wegen der Corona-Epidemie derzeit nicht genehmigt. Doch wenn es um Kundgebungen im Sinne der Regierung von Präsident Recep Tayyip Erdogan geht, ist das etwas anderes: In Istanbul und anderen Städten versammelten sich jetzt Gruppen syrischer Flüchtlinge, um gegen Frankreich zu protestieren.
Kurz zuvor hatte Erdogan dem Westen und insbesondere der Regierung in Paris einen „Großangriff“ auf den Islam vorgeworfen, seine Nazi-Vorwürfe gegen die Europäer aufgewärmt und zum Boykott französischer Waren aufgerufen. Erdogans antiwestliche Kampagne soll von der schlechten Wirtschaftslage in der Türkei ablenken und angebliche Feinde im Ausland für die Probleme des Landes verantwortlich machen.
Was wirft Erdogan Europa vor?
Die Türkei betreibt seit einiger Zeit eine aggressive Außenpolitik, die zu Streit mit Europa wegen der Grenzziehung im östlichen Mittelmeer geführt hat. Mit den USA liegt das Land wegen der Anschaffung eines modernen russischen Flugabwehrsystems über Kreuz.
Mit Russland wiederum wachsen die Spannungen wegen des türkischen Engagements an der Seite von Aserbaidschan im Krieg gegen Armenien wegen Berg-Karabach. Der eigenen Öffentlichkeit präsentiert Erdogan die Differenzen als Versuche angeblicher Feinde im Ausland, den Aufstieg der Türkei zur Regionalmacht zu verhindern.
Dasselbe Muster benutzt Ankara nun bei den Vorwürfen gegen Europa. Hauptzielscheibe ist der französische Staatspräsident Emmanuel Macron, der wegen des türkischen Vorgehens im Mittelmeer europäische Sanktionen gegen Ankara befürwortet und dem politischen Islamismus in Frankreich den Kampf angesagt hat.
Erdogan bezeichnet Macron als geisteskrank, schimpft aber auch auf Deutschland. So nimmt er die polizeiliche Durchsuchung einer türkischen Moschee in Berlin vorige Woche zum Anlass, den deutschen Behörden Rassismus und Islamfeindlichkeit vorzuwerfen.
Mit immer schärferen Tönen zeichnet Erdogan seit Tagen das Bild eines Westens, der es auf den Islam abgesehen habe. Feindseligkeit gegenüber Muslimen werde in einigen europäischen Ländern von Staatsoberhäuptern unterstützt, behauptete er am Montag in Anspielung auf Macron. „Sie sind Glieder einer Nazi-Kette.“
Islamfeindlichkeit im Westen sei umgeschlagen in einen „Großangriff auf unseren Koran, unseren Propheten und all unsere religiösen Werte“. Diese Begriffe wählt er nicht zum ersten Mal. Schon vor drei Jahren warf er Kanzlerin Angela Merkel Nazi-Methoden vor.
Warum greift der türkische Präsident gerade jetzt so heftig an?
Die Regierung braucht ein Thema, das die Öffentlichkeit fesselt, weil sich der Abwärtstrend der heimischen Wirtschaft derzeit dramatisch beschleunigt. Der Kurs der türkischen Lira ist gegenüber Dollar und Euro auf Rekord-Tiefstände abgesackt. Die Währung hat seit Jahresanfang gegenüber dem Dollar mehr als 25 Prozent an Wert verloren.
Erdogan und seine Minister reagieren mit einer Mischung aus Durchhalteparolen und Arroganz gegenüber den Sorgen der Bürger. Als der Präsident bei einem Besuch in der Provinz vor Kurzem von Normalbürgern zu hören bekam, sie könnten kein Brot mehr nach Hause bringen, antwortete er, das komme ihm „sehr übertrieben“ vor.
Durch Streit mit dem Westen kann Erdogan von diesen Themen ablenken und die politische Agenda bestimmen. Widerspruch muss er dabei nicht fürchten – die Regierung beherrscht die Justiz und einen Großteil der Medien.
Wohin führt Erdogan die Türkei?
Bei den Tiraden gegen den Westen geht es Erdogan aber nicht nur um ein Ablenkungsmanöver. Seine Regierung beansprucht ein Mitspracherecht bei regionalen Themen vom Kaukasus bis Nordafrika und sieht sich zudem als Beschützer und Fürsprecher der Muslime weltweit. Dahinter steckt ein verändertes Selbstverständnis des Landes: Die Türkei sieht sich nicht mehr als Teil des Westens, sondern als eigenständige Regionalmacht.
Nicht alle Großmächte greift er so scharf an wie Europa. So äußerte sich die türkische Regierung bis Dienstag nicht zum russischen Luftangriff in der syrischen Provinz Idlib vom Vortag, bei dem fast 80 Mitglieder einer Ankara-treuen Miliz ums Leben kamen. Auch über den Umgang Chinas mit der muslimischen Minderheit der Uiguren verliert der sonst so streitlustige Erdogan kein Wort.
Offenbar befürchtet der 66-Jährige, Moskau und Peking könnten härter auf Kritik reagieren als die EU. Erdogans Regierung betrachte Europa als „Papiertiger“, sagt Marc Pierini, früherer EU-Botschafter in Ankara.
Was will er erreichen?
Kurzfristig will Erdogan die Türkei zu einem regionalen Akteur machen, dessen Interessen von den Großmächten berücksichtigt werden müssen. Im Verhältnis zu Europa setzte Erdogan im Frühjahr bereits die Flüchtlinge als politischen Hebel ein, als er die Grenze zu Griechenland öffnete.
Jetzt will er die türkischen Minderheiten in Europa für seine Zwecke mobilisieren. Gelingt ihm das, könnte das für deutsche Politiker oder Macron bei den Neuwahlen im kommenden Jahr unangenehm werden. Als Präsident von sechs Millionen Türken in Europa warne er die dortigen Politiker davor, die Muslime gegen sich aufzubringen, sagte Erdogan am Montag.
Langfristig will der Präsident sein Land aus dem Schatten von Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk lösen. „Erdogan macht sich daran, ein neues Narrativ für die Türkei zu schreiben“, kommentiert der Journalist Mehmet Tezkan von der Nachrichtenplattform T24.
Erdogans Vision einer „neuen Türkei“ ist die einer muslimisch-konservativen, militärisch starken und national geeinten Präsidialrepublik – ganz anders als die Türkei Atatürks, in der die Westausrichtung Staatsräson war und die sich außenpolitisch meist zurückhielt.
Warum verhält sich Deutschland vergleichsweise ruhig?
Die Bundesregierung hat bisher europäische Sanktionen gegen die Türkei verhindert, weil sie argumentiert, dass ein Dialog mit Ankara mehr erreichen könne als wirtschaftlicher Druck oder politische Ausgrenzung.
Erdogans Provokationen gegen Griechenland im östlichen Mittelmeer und die Beschimpfungen gegen Macron bringen die Berliner Position jedoch in Schwierigkeiten.
Bis zum 10. Dezember wird sich die Bundesregierung etwas Neues überlegen müssen – an diesem Tag entscheidet der EU-Gipfel über Sanktionen gegen Ankara. Türkische Erdogan-Gegner im Exil werfen Deutschland eine Besänftigungspolitik vor, die der Realität des Regimes in Ankara nicht gerecht werde.
„Erdogan lebt von Konflikten“, sagt Politologe Cengiz Aktar, der ins Exil geflohen ist. Aktar und andere sind überzeugt, dass Erdogans Regierung eine außenpolitische Krise nach der anderen braucht, um sich an der Macht zu halten. Die neue Kampagne gegen Europa dürfte nicht die letzte Inszenierung aus Ankara gewesen sein.
Wie stark ist Erdogans Einfluss in Deutschland, und trägt seine Politik dazu bei, dass sich Muslime radikalisieren?
Erdogans Agitation sei auch für Deutschland gefährlich, heißt es warnend in Sicherheitskreisen. Mit der Hetze gegen den Westen „trägt er zur Emotionalisierung junger Türken und junger Muslime überhaupt bei“, sagt ein hochrangiger Experte. Die Hemmschwelle für Angriffe „wird durch Erdogans Sprüche runtergedreht“. Der Experte erinnerte deshalb daran, wozu junge radikalisierte Muslime fähig sind.
Im Juli 2006 hatten zwei libanesische Studenten im Hauptbahnhof Köln Bomben in zwei Regionalzügen abgestellt. Die Passagiere entgingen nur knapp einer Katastrophe, weil die in Koffern versteckten Sprengsätze wegen eines technischen Defekts nicht explodierten.
Tatmotiv war die Wut über den Nachdruck von Mohammed-Karikaturen in der deutschen Presse. Solche Fanatiker könnten sich auch durch Erdogans Agitation bestätigt fühlen, heißt es. „Erdogan läuft mit dem Feuerzeug über die Tankstelle.“
Auch wenn der türkische Staatschef am meisten Gehör bei Menschen mit türkischen Wurzeln findet, sehen Sicherheitskreise die Gefahr emotionaler Zustimmung gerade bei jungen, aufgeheizten Muslimen generell. „Erdogan präsentiert sich als der starke Mann, der anders als die angeblich weichgespülten islamischen Gemeinden in Deutschland Klartext redet.“
Erdogans Arm reicht weit in die türkische Gemeinschaft hinein. In einer Antwort der Bundesregierung auf die Anfrage der Linken-Politikerin Sevim Dagdelen heißt es dazu: „Der türkische Staat ist weiterhin bemüht, Einfluss auf türkeistämmige Gemeinschaften in Deutschland zu nehmen sowie punktuell den politischen Willensbildungs- und Entscheidungsfindungsprozess in der deutschen Gesellschaft insgesamt zu beeinflussen.“
Das geschieht zum Beispiel über die „Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion“ (Ditib), den bundesweit größten islamischen Verband. Er ist die deutsche Filiale des türkischen Amtes für religiöse Angelegenheiten (Diyanet).
Ditib-Imame werden von Ankara entsandt und bezahlt. Der Verein betreibt fast 900 der rund 2800 Moscheen in Deutschland. Gerade nach dem Putschversuch in der Türkei vom Sommer 2016 soll Erdogan Ditib als Sprachrohr für seine Politik genutzt haben – um sie für seinen Kampf gegen Fetullah Gülen und dessen Bewegung in Stellung zu bringen.
So wurde 2017 bekannt, dass Ditib-Imame Informationen über Gülen-Anhänger nach Ankara weitergaben.