Mittelmeerkonflikt, Flüchtlingsfrage und Libyen: Erdogan wird die EU weiter überraschen – so lange sie kein Konzept hat
Beim EU-Sondergipfel wird Erdogans Politik im Fokus stehen. Rasche Ergebnisse werden nicht erwartet. Stattdessen droht weiter Streit mit Ankara. Ein Kommentar.
Wenn die Staats- und Regierungschefs der EU am Donnerstag zu ihrem zweitägigen Gipfel in Brüssel zusammenkommen, wird Recep Tayyip Erdogan zwar nicht persönlich mit am Tisch sitzen – doch sein Land und seine Politik werden das Treffen dominieren.
Die türkische Außenpolitik im östlichen Mittelmeer, das Verhalten Ankaras in der Flüchtlingsfrage und das Engagement der Türkei im Libyen-Konflikt beschäftigen die EU mehr, als es den Politikern in Europa lieb ist. Doch eine gemeinsame Reaktion der EU auf Erdogans Verhalten gibt es bisher nicht.
Das liegt daran, dass die türkische Politik die verschiedenen EU-Länder in unterschiedlicher Weise berührt. Zypern und Griechenland wollen Sanktionen gegen Ankara, um Erdogan für die Spannungen im Gebietsstreit im Mittelmeer zu bestrafen. Frankreich ist besorgt wegen des türkischen Einflusses in Libyen, der französische Interessen in Nordafrika bedroht. Deutschland will Strafmaßnahmen gegen die Türkei verhindern, weil es sich von Verhandlungen mehr verspricht als von Sanktionen.
Allen EU-Politikern sitzt noch der Schock vom Frühjahr in den Gliedern, als Erdogan tausende Flüchtlinge an die türkische Grenze mit Griechenland schickte, um Europa unter Druck zu setzen.
Die Erwartungen an den Gipfel sind deshalb niedrig. Der türkische EU-Beitrittsprozess steht nur noch auf dem Papier. In Europa haben die Türkei und ihr Präsident einen so schlechten Ruf, dass kein europäischer Regierungschef auf Zugeständnisse an Ankara erpicht ist. Politiker in Ankara schimpfen gerne und häufig auf die Europäer, die angeblich nur reden und ihre Zusagen aus dem Flüchtlingspakt von 2016 nicht einhalten.
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Als die Türkei und Griechenland vor dem Gipfel neue Sondierungsgespräche über den Gebietsstreit in der Ägäis und um Mittelmeer vereinbarten, war das vor dem Hintergrund des desolaten Zustandes der Beziehungen schon ein Erfolg, auch wenn noch nicht einmal ein Datum für den Beginn der Verhandlungen bekannt ist.
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Ähnlich könnte es beim Gipfel mit den anderen strittigen Sachthemen laufen. Europa dürfte versuchen, mit Erdogans Regierung über deren Forderungen nach Visafreiheit, einer Modernisierung der Zollunion und einer Reform des Flüchtlingsabkommen zu reden, obwohl es keine rasche Ergebnisse geben wird: Eine Fortsetzung von Gesprächen über die vielen Streitpunkte ist derzeit das Äußerste, was die europäisch-türkischen Beziehungen hergeben.
Streitpotenzial mit der Türkei noch nicht ausgeschöpft
Wenn alles gut läuft, gewinnt die EU damit Zeit, um eine einheitliche Haltung gegenüber der Türkei zu finden und sich mit den Motiven hinter Erdogans Krawall-Politik von Griechenland bis Libyen auseinanderzusetzen. Der türkische Präsident will den Status seines Landes als Regionalmacht durchsetzen, die ihre eigenen Interessen offensiv vertritt. Nicht immer steckt ein fertiger Plan oder eine Strategie dahinter. Doch fast immer führt diese Haltung zu Krach mit anderen Staaten.
So ist das Streitpotenzial mit den derzeitigen Spannungen längst nicht ausgeschöpft. Im neuen Krieg zwischen dem türkischen Verbündeten Aserbaidschan und Armenien spielt Ankara mit dem Gedanken an eine Intervention. Künftige Konflikte auf dem Balkan könnten ebenfalls die Türkei auf den Plan rufen, die sich als Schutzmacht der Muslime in Bosnien und anderswo betrachtet. Solange die EU kein Türkei-Konzept hat, wird sie immer wieder von Erdogan überrascht werden.