Europas Wahlrecht verletzt eherne Prinzipien: Das Parlament als Demokratie in Reinkultur? Eine Illusion!
Das EU-Parlament fühlt sich über den Europäischen Rat erhaben. Doch an seiner Repräsentativität gibt es Zweifel. Eine Kolumne.
Von Verrat ist die Rede, von nicht gut zu machendem Schaden. Vor allem die CSU ist empört, die SPD beleidigt. Harald Martenstein vergleicht am Sonntag in seiner Tagesspiegel-Kolumne die Entscheidungsfindung in der Europäischen Union mit den desaströsen Entwicklungen in Europa und Deutschland 1789, 1917 und 1989. Da zerbrachen Systeme, „weil Mächtige dachten, es ginge dauerhaft und ohne ihre Völker“.
Haben die Staats- und Regierungschefs mit ihrer Missachtung der Spitzenkandidatenregel also geradezu demokratie-zerstörend agiert? Haben sie die Wählerinnen und Wähler Europas verhöhnt, indem sie weder für Manfred Weber noch für Frans Timmermans eine Position fanden, die mit den Erwartungen des Christsozialen und des Sozialdemokraten – und mit den Hoffnungen ihrer Wähler - übereinstimmten?
Dass die Art, in der Ursula von den Leyen plötzlich als Kandidatin für das Amt der Kommissionspräsidentin auf den Schild gehoben wurde, stark wie ein Hinterzimmerdeal wirken musste, werden nicht einmal die bestreiten können, die ihn eingefädelt haben – Emmanuel Macron vielleicht ausgenommen, von dem inzwischen bekannt ist, dass er die deutsche Verteidigungsministerin schon länger auf seinem Zettel hatte. Eine Politikerin übrigens, deren Renommée in Europa ein völlig anderes ist als in Deutschland. So viele sich auf dem internationalen Parkett sicher bewegende und sprachgewandte Politiker mit langjähriger Regierungserfahrung hat die deutsche Politik nämlich nicht zu bieten. Das war ja auch der Grund für das Scheitern des CSU-Mannes Manfred Weber bei seiner Bewerbung um den Posten des Kommissionspräsidenten.
Timmermans und Weber ohne Absprache
Was viele seiner Parteifreunde, aber auch solche der Sozialdemokraten, nicht wahrhaben wollen: Das Spitzenkandidatenprinzip funktionierte vor fünf Jahren nur, weil sich bereits vor der Wahl der Konservative Jean-Claude Juncker und der Sozialdemokrat Martin Schulz verabredet hatten. Der, dessen Partei besser abschneiden würde, sollte Kommissionspräsident werden, der Zweitplatzierte dann Parlamentspräsident. Gehalten hat die Verabredung nur, weil beide Parteien zusammen die nötige absolute Mehrheit im EP erreicht hatten. Jetzt aber haben Europäische Volksparteien und Sozialdemokraten die Mehrheit verloren. Außerdem gab es zwischen Timmermans und Weber auch keine Abreden.
Nun spielte plötzlich eine Rolle, dass sich der Begriff „Spitzenkandidat“ in keinem europäischen Vertrag finden lässt. Da steht nur, dass die Staats- und Regierungschefs bei ihrem Personalvorschlag das Ergebnis der Europa-Wahl „berücksichtigen“ müssen. Und das haben sie unstrittig – erst in Osaka, dann beim EU-Gipfel. Zu anderen Vorschlägen berechtigt waren sie allemal, denn selbstverständlich sind sie alle demokratisch legitimiert. Dass sie Staats- und Regierungschefs wurden, Koalitionen in ihren Ländern bilden konnten, war das Ergebnis geheimer und gleicher Wahlen.
Ein Abgeordneter für 914.000 Bürger oder nur 76.000
An der Repräsentativität des Europäischen Parlamentes, das sich über den Europäischen Rat so erhaben fühlt, zweifeln hingegen renommierte Wissenschaftler. So kritisierte der Berliner Historiker Heinrich August Winkler am 29. Juni in einer Analyse in der FAZ, es verfügten „die Mitgliedsstaaten über vertraglich zugesicherte Mandatskontigente, die die kleineren Staaten bevorzugen und die größeren benachteiligen“. Der Verzicht auf das Prinzip „one person, one vote“ gehe auf Kosten der demokratischen Legitimation. Und sein Mainzer Kollege Andreas Rödder schrieb eine Woche später in der „Welt“, das „Europäische Parlament ist nicht im klassischen Sinne demokratisch gewählt“.
Was beide Wissenschaftler verärgert: In Deutschland repräsentiert ein EP-Abgeordneter 914.000 Bürger, in Malta hingegen nur 76.000, in Zypern 142.000. Würden in ganz Europa die gleichen Kriterien gelten, würde Deutschland, läge man den Zypern-Maßstab zugrunde, 1155 Parlamentarier nach Brüssel und Straßburg schicken. Frankreich statt der 79, die das Wahlrecht zugesteht, 881 Abgeordnete. Nun ist klar, dass ein Parlament mit annähernd 7000 Abgeordneten nicht arbeitsfähig wäre. Aber das eherne Prinzip „ohne man, one vote“ wird eben so ausgehebelt.
Winkler und Rödder geht es darum, mit der Illusion aufzuräumen, das Europäische Parlament sei Demokratie in Reinkultur, der Europäische Rat hingegen eine Hinterzimmer-Kamarilla. Darüber nachzudenken, könnte auch in Deutschland die Gemüter beruhigen.