Hilfsmissionen "Sea-Watch 3" und "Alan Kurdi": Die Erzählung der Rettungsorganisationen geht nicht auf
Sie müssten einen Nothafen anlaufen, ihr Vorgehen sei legal – so argumentieren private Rettungsinitiativen. Doch das muss man hinterfragen. Ein Kommentar.
In Deutschland gab es am Wochenende Solidaritätsdemonstrationen für private Seenotretter, trotz Ferien, und das gleich in mehreren Städten. Zuvor hatte die Hilfsorganisation "Sea Watch" mehr als eine Million Euro Spenden erhalten, nachdem die Kapitänin Carola Rackete das Schiff „Sea-Watch 3“ mit 40 Migranten an Bord trotz des Verbots der italienischen Behörden in einer ebenso spektakulären wie gemeingefährlichen Aktion in den Hafen der Mittelmeerinsel Lampedusa gesteuert hatte. Bei ihrem Anlegemanöver hatte sie laut der Anklage der Staatsanwaltschaft ein weit kleineres Boot der italienischen „Guardia di Finanza“ beinahe gerammt und dessen Besatzung in Lebensgefahr gebracht.
Der Konflikt macht Italiens Innenminister nur populärer
Deutsche Helfer finden es unerträglich, dass immer noch Flüchtlinge im Mittelmeer ertrinken. Sie beklagen das nicht nur, sie unternehmen etwas zur Rettung. Sie finden beträchtliche Unterstützung in der deutschen Gesellschaft. Sie werden sogar wie Helden gefeiert. 72 Prozent finden private Rettungsaktionen laut Deutschlandtrend gut. 73 Prozent sind gegen eine Bestrafung der Retter, falls die dabei das Recht brechen. Das ist die eine Seite.
Doch die meisten anderen Länder der EU scheinen diese positive Sicht nicht zu teilen, das ist die andere Seite. In Italien verschafft der Konflikt mit "Sea Watch" dem rechtspopulistischen Innenminister Matteo Salvini wachsende Popularität. Auch anderswo wächst der Rückhalt für eine härtere Linie in Migrationsfragen. In Polen und Ungarn sowieso, aber auch in Dänemark und in Spanien unter formal sozialdemokratischen Regierungen.
Wo überhaupt hat Deutschland Verbündete für einen weicheren Kurs? Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn fordert zwar, die EU solle ihre Gemeinschaftsaktion "Sophia" zur Bekämpfung von Schleppern und Rettung von Schiffbrüchigen wieder aufnehmen. Er findet aber kaum Resonanz. Die EU hatte "Sophia" im März beendet, weil es keine Einigkeit über das vorrangige Ziel gab und ebenso wenig darüber, was mit den aus dem Mittelmeer Geretteten geschehen solle.
Für die Rettungsaktion "Sophia" fehlt die Unterstützung
Hauptziel der EU-Mission war, Europas Grenzen gegen illegale Migration zu schützen, Schlepper zu bekämpfen und zu verhindern, dass Boote mit Flüchtlingen von Nordafrika ablegen und Kurs auf Europa nehmen. Schon im Rahmen von "Sophia" gab es freilich den Argwohn, dass Deutschland andere Schwerpunkte setze.
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Italien monierte, dass nahezu die Hälfte der geretteten Schiffbrüchigen - 22.500 von 50.000 - von der deutschen Marine nach Italien gebracht wurden. Die italienische Einsatzführung schickte die deutschen Schiffe in Gebiete abseits der Hauptfluchtrouten. Im Januar 2019 entschied Deutschland, vorerst keine Schiffe mehr für "Sophia" zur Verfügung zu stellen.
Italien legte zudem sein Veto gegen die bisherige Regelung ein, dass es für die Aufnahme der bei "Sophia" Geretteten zuständig sei. Es verlangt eine Verteilung. Die meisten EU-Staaten sind gegen solch eine Regelung. Die Chancen für eine Wiederaufnahme von "Sophia" sind also gering.
[Mehr zum Thema: Wer ist Carola Rackete? Das erzählen Weggefährten über die „Sea-Watch“-Kapitänin]
Deutschland ist der Sonderfall im Umgang mit der privaten Seenotrettung. Von hier stammen die meisten der privaten Rettungsschiffe, hier gibt es Unterstützung aus der Gesellschaft, den Medien, der Politik. Anderswo in Europa eher nicht. Es wird einsam um Deutschland - so wie 2015 auf dem Höhepunkt der Migrationskrise.
Aber ist das den Deutschen bewusst? Die Debatte wird so geführt, als sei die deutsche Haltung das Maß aller Dinge. Und als ginge es darum, andere europäische Völker zu erziehen und ihnen die eigene moralische Überlegenheit vorzuführen. In den Nachrichten der beiden großen öffentlich-rechtlichen Sender, "Tagessschau" und "Heute", kamen die Vertreter der Hilfsorganisationen am Wochenende breit zu Wort. Nur, wo waren die Gegenstimmen?
Der Umgang der Helfer mit dem Seerecht wirkt selektiv
Ansatzpunkte für kritische Rückfragen bieten die Darstellungen der Hilfsorganisationen genug, von der behaupteten Rechtslage bis zum behaupteten Notstand an Bord, der jetzt angebliche keine andere Wahl ließ, als das Einlaufen in einen italienischen Hafen trotz Verbots brachial zu erzwingen. Die Berufung auf Rechtsnormen wirkt selektiv. Wenn sie dem eigenen Standpunkt nutzen, sollen sie Gewicht haben; wenn nicht, werden sie ignoriert oder darf man sie aus Gewissensgründen missachten.
Das ist einer der Gründe, warum private Rettungsschiffe immer wieder zum juristischen Zankapfel wurden; warum ihnen Staaten, unter deren Flagge sie liefen, die Genehmigung entzogen; warum Schiffe beschlagnahmt wurden und Kapitäne sich vor Gericht verantworten mussten. Die Gegenbehauptung der Hilfsorganisationen, ihre Arbeit werde böswillig "kriminalisiert", klingt als Erklärung zu einfach. Wer sich in EU-Staaten an Recht und Gesetz hält, hat in der Regel keine Schwierigkeiten.
Zu den wiederkehrenden Vorwürfen gehört, dass Schiffe die Anweisungen der zuständigen Seenotrettungszentralen und Küstenwachen nicht befolgen. Und dass die Betreiber bei der Beflaggung und Registrierung den wahren Einsatzzweck verschleiern. An ein Schiff, dass angeblich für Forschungszwecke mit kleiner Besatzung auslaufen soll, werden geringere Anforderungen gestellt als an eines, das mit mehreren Dutzend Migranten tage- oder gar wochenlang auf See sein soll.
Wenn die Organisationen dann aber vor Libyens Küsten wie geplant Dutzende Schiffbrüchige aufgenommen haben, wird umgekehrt argumentiert: Das Schiff sei nicht dafür ausgerüstet, mit vielen Geretteten auf See zu bleiben. Die "Notlage" erzwinge das sofortige Einlaufen in einen Hafen, im Zweifel einen italienischen "Nothafen".
Die Abkommen zur Seenotrettung sind lückenhaft
Die internationalen Vorschriften zur Seenotrettung dienen dem Ziel, Menschen, die ungewollt in Not geraten, vor dem Ertrinken zu retten. Schiffe müssen gegebenenfalls ihren Kurs unterbrechen, die Betroffenen aufnehmen und in einen nahen Hafen bringen. Die Vorschriften sind weder für Fälle gemacht, in denen Migranten ungeeignete Boote besteigen und sich vorsätzlich in Seenot bringen, um auf diesem Weg nach Europa zu gelangen.
Noch sind sie für Fälle gedacht, in denen Schiffe gar nicht auf dem Kurs von A nach B sind, sondern in Nähe einer bekannten Migrationsroute auf Seenotfälle warten, um Schiffbrüchige aufzunehmen - und sie dann keinesfalls zurück an die afrikanische Küste zu bringen, sondern nach Europa.
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Hinterfragen darf man auch, ob es unzulässig ist, Gerettete an die afrikanische Küste zurückzubringen? In Tunesien, zum Beispiel, gibt es durchaus "sichere Häfen" im rechtlichen Sinne, sagen Völkerrechtler und sagt das Flüchtlingshilfswerk UNHCR. Bei Libyen sind sich die Völkerrechtler hingegen einig, dass die derzeitigen Zustände dort es verbieten, Schiffbrüchige nach Libyen zu bringen. Das gilt auch, wenn der Großteil der Menschen, die von den Rettern aufgefischt werden, zuvor aus eigenem Entschluss nach Libyen gegangen waren, um von dort aus über das Mittelmeer nach Europa zu gelangen.
Das Dilemma scheint unauflöslich. Auf der einen Seite übernehmen die privaten Seenotretter eine Aufgabe, die an sich Sache der EU-Staaten wäre. Sie füllen die Lücke und helfen Menschen in Not aus einer lebensbedrohlichen Lage. Auf der anderen Seite entsteht der Eindruck, dass die Schlepperorganisatoren die Hilfsbereitschaft der Seenotretter ausnutzen und es faktisch zu einer Art Arbeitsteilung kommt.
schreibt NutzerIn bernhardberlin
Kritiker halten den privaten Seenotrettern auch vor, sie würden durch ihr Verhalten zu "Pull"-Faktoren der Migration. Viele Migranten würden sich gar nicht auf die gefährliche Überfahrt machen, wenn die Schlepper ihnen nicht einreden könnten, dass die Retter da draußen auf See bereits auf sie warten. Die Hilfsorganisationen bestreiten einen solchen Zusammenhang. Der "Push"-Faktor sei entscheidend: die Not in den Herkunftsländern, die Menschen zur Flucht treibe.
Die Zahl der Migranten und der Ertrunkenen ist stark gesunken
Die Statistiken legen eine andere Interpretation nahe: Seit 2015, als die Mär um die Erde ging, Deutschland warte auf Migranten und nehme alle auf, sind sowohl die Zahlen der Migranten als auch der Geretteten als auch der Ertrinkenden stark gesunken. Die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini sagte, dank der Mission "Sophia" sei die Zahl der in Europa ankommenden Migrantinnen und Migranten von 2015 bis 2019 um mehr als 80 Prozent gesunken. 2016 ertranken laut Schätzungen 5.143 Menschen im Mittelmeer, 2017 3.139 Menschen, 2018 2.299 Menschen, im ersten Halbjahr 2019 597 Menschen. Jede Person ist eine zu viel. Aber auch über jedes Opfer weniger darf man erleichtert sein.
Die Art, wie der Konflikt zwischen privaten deutschen Seenotrettern und Italien ausgetragen wird, verschärft die bereits vorhandenen Krisen Europas. Die Ermahnungen von Bundespräsident Frank Walter Steinmeier, Außenminister Heiko Maas und Innenminister Horst Seehofer an die Adresse Italiens in den vergangenen Tagen mögen zwar vielen Deutschen aus dem Herzen sprechen. Sie tragen aber nicht dazu bei, dass Deutsche darüber nachdenken, warum sie so wenig Unterstützung für ihre Sicht der aktuellen Migrationsfragen in Europa finden.
Deutschland muss sich ehrlich machen
Deutschland muss sich ehrlich machen. Wenn die Bürger tatsächlich private Seenotrettung in überwältigender Mehrheit unterstützen, wie das der Deutschlandtrend nahelegt, sollten die Schiffe der deutschen Retter die Schiffbrüchigen direkt nach Deutschland bringen. Und sollte Deutschland sie aufnehmen. Es wäre ein ehrlicher Test, wie verankert diese Haltung ist. Und allemal lösungsorientierter, als sich wochenlang mit Salvini um die Einfahrt in einen italienischen Hafen zu streiten – von dem aus die Geretteten ja auch nach Deutschland kommen. Die Wiederholung dieser Übung stärkt nur den Zulauf für Salvini in Italien. Und vergrößert die Koalition der EU-Partner, die sich von Deutschland nicht moralisch belehren lassen wollen.