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Eine Schwester hält die Hand einer todkranken Bewohnerin eines Hospizes.
© Norbert Försterling/dpa

Gesundheitsminister blockiert Urteil: Darf der Staat beim Sterben helfen?

Für Gesundheitsminister Hermann Gröhe gilt: „Eine staatliche Behörde darf niemals Helfershelfer einer Selbsttötung werden.“ Das Bundesverwaltungsgericht sieht das anders.

Das Schicksal von Bettina Koch hat die Debatte um Sterbehilfe neu entfacht. 2002 stürzte die damals 51-Jährige, als sie Einkäufe aus ihrem Auto lud, und brach sich den Nacken an einem Blumenkübel. Gelähmt vom Hals an abwärts, litt sie dennoch unter Krämpfen und Schmerzen. Nach zwei Jahren Pein beantragte Koch beim Bundesamt für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) eine tödliche Dosis Natrium-Pentobarbital – ein Medikament und zugleich Mittel der Wahl für Sterbewillige. Der Patient wird ohnmächtig, dann setzt sein Atem aus.

Das BfArM lehnte ab. Koch nahm sich in der Schweiz das Leben, unterstützt von der Organisation Dignitas. Ihr Ehemann klagte im Namen der Toten weiter. Das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts, das am Ende des Rechtsstreits stand, schockierte manchen. Allen voran Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU). Im März vergangenen Jahres entschieden die Leipziger Richter, dass das Gröhe unterstellte BfArM in Ausnahmefällen zur Abgabe tödlicher Medikamente verpflichtet sein kann.

Für konservativ-christliche Politiker, zu denen sich der Protestant Gröhe zählt, ein Tabubruch. Der Staat als Sterbehelfer? So weit darf es aus seiner Sicht nicht kommen. Trotzdem ist Gröhe in der Pflicht. Das Urteil bindet die Behörden. Dem BfArM liegen aktuell 86 Anträge von Patienten vor, die für sich keinen anderen Ausweg sehen.

Gröhe will das Urteil nicht umsetzen. Er sucht nach Um- und Auswegen - mit allen Mitteln

Dafür sieht Gröhe einen Ausweg – der ihn davor bewahrt, das Urteil umsetzen zu müssen. Als es vor eineinhalb Jahren um sein ethisch brisantes Vorhaben ging, Arzneiversuche an Demenzkranken zu erleichtern, mussten die Parlamentarier dem Gesundheitsminister eine Debatte darüber förmlich abtrotzen. Nun ist es grade andersherum: Gröhe ruft wegen der ethischen Brisanz des Themas nach dem Bundestag. Das Parlament müsse gesetzlich klarstellen, dass eine staatliche Behörde „niemals Helfershelfer einer Selbsttötung werden“ dürfe.

Worum geht es? Der Staat dürfe unheilbar Kranken „in extremen Notlagen“ , urteilte das Bundesverwaltungsgericht, Medikamente zur Selbsttötung nicht vorenthalten. Seither stapeln sich im Bonner BfArM die Anträge. 86 sind es bereits. Und vier Antragsteller haben inzwischen Untätigkeitsklage eingereicht. Denn das Amt sieht sich nicht imstande, auf eigene Faust über Leben und Tod zu entscheiden. Und der frühere Verfassungsrichter Udo Di Fabio bestärkt den Minister. Per Gutachten empfiehlt er, den Vollzug des Urteils notfalls per Erlass zu stoppen – „bis zur Herbeiführung einer gesetzgeberischen Klärung“.

Ob ein derartiger Erlass vorgesehen ist, ist aus dem Ministerium nicht zu erfahren. Der Ball liege erst mal beim BfArM, weicht ein Sprecher aus. Dort werde die Umsetzung des Urteils geprüft. Ob es wenigstens eine zeitliche Vorgabe gibt? Keine Antwort. Wie lange die Prüfung dauere, könne derzeit „niemand so sicher abschließend abschätzen“, lautet die gewundene Auskunft. Dass sich die Antragsteller per definitionem in „extremer Notlage“ befinden, scheint auf das Tempo des Prüfverfahrens wenig Einfluss zu haben.

Der Bundestag könnte erneut debattieren und entscheiden

Auch der politische Gang der Dinge kann dauern. In den Bundestagsfraktionen stößt die Idee, das Parlament nochmals in Sachen Sterbehilfe zu aktivieren, jedenfalls parteiübergreifend auf Zustimmung. Neben Gröhe wünschen sich auch die Gesundheitsexpertinnen Kirsten Kappert-Gonther (Grüne), Kathrin Vogler (Linke) und Christine Aschenberg-Dugnus (FDP) eine Gesetzesregelung. Nur SPD-Experte Karl Lauterbach hält dagegen. Aus seiner Sicht braucht es keine Klarstellung, er hält das Leipziger Urteil für richtig.

Allerdings gibt es bei der SPD auch andere Meinungen. Die Sozialexpertin und kirchenpolitische Sprecherin der SPD, Kerstin Griese, etwa steht auf Gröhes Seite. Nach dem umstrittenen Urteil sei der Bundestag als Gesetzgeber gefragt, findet sie. Der Verkauf tödlicher Betäubungsmittel müsse grundsätzlich verboten bleiben. „Nur in Extremfällen, die individuell beurteilt werden müssen, kann es davon eine Ausnahme geben, indem ein Arzt entscheidet, welche Medikamente er abgibt.“

Der menschenrechtspolitische Sprecher der Unionsfraktion, Michael Brand, wird noch deutlicher. „Der Staat kann nicht verpflichtet werden, sich an der Durchführung eines Suizids zu beteiligen, auch nicht in extremen Ausnahmefällen“, sagt der CDU-Politiker. Das Leipziger Urteil nennt er verfassungsrechtlich unhaltbar. Und „lebensgefährlich“. Um den Vollzug des Urteils zu stoppen, gibt es aus seiner Sicht zwei Möglichkeiten: eine Normenkontrollklage vor dem Bundesverfassungsgericht oder eine Klarstellung durch den Bundestag. „Beide Wege sind denkbar“, sagt er.

Nur organisierte Beihilfe zum Suizid ist strafbar

Unter Strafe hat der Bundestag 2015 lediglich die organisierte Beihilfe zum Suizid gestellt. „Wer in der Absicht, die Selbsttötung eines anderen zu fördern, diesem hierzu geschäftsmäßig die Gelegenheit gewährt, verschafft oder vermittelt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft“, heißt es in dem Beschluss, für den eine Mehrheit von 360 Parlamentariern votierte. Ärztlich assistierter Suizid, ist demnach vom Grundsatz her verboten. Wenn Mediziner ihren Patienten im Not- und Einzelfall bei der Selbsttötung assistieren, haben sie nach dem Willen des Gesetzgebers aber nichts zu fürchten.

Das Leipziger Urteil bringt den gefundenen Konsens wieder durcheinander. Darf der Staat im Extremfall beim Suizid helfen, muss er das womöglich sogar? „Es stünde unserem Gemeinwesen gut an, diese für das Zusammenleben elementare Frage offen und dann ohne Fraktionsdisziplin im Bundestag zu diskutieren und dort gesetzliche Klarheit zu schaffen“, sagt der Vorsitzende des Deutschen Ethikrats, Peter Dabrock. Und Griese wird persönlich. „Ich will nicht in einer Gesellschaft leben, die suggeriert, die Selbsttötung sei ein guter Ausweg, oder dass sich alte, kranke und behinderte Menschen rechtfertigen müssen“, sagt sie.

Eine einheitliche Meinung werde es in den Fraktionen dazu sicher nicht geben, betont die SPD-Abgeordnete. Das habe die Diskussion von 2015 gezeigt, und das sei auch in Ordnung. „Bei Gewissensfragen zu Anfang und Ende des Lebens ist es gute parlamentarische Praxis, dass jeder einzelne Abgeordnete entscheidet und keine Fraktionsmeinung entwickelt wird.“

Gröhe lässt das Urteil prüfen und hinterfragen, statt es umzusetzen

Mit Di Fabio hatte das BfArM nach dem Richterspruch einen renommierten Experten beauftragt, der von Gröhes CDU einst als Verfassungsrichter ins Amt gebracht worden war. Mitte Januar veröffentlichte das BfArM dessen Gutachten, das ihm bereits seit November vorlag. Es kennzeichnet das Urteil als unzulässigen Eingriff in die gesetzgeberische Freiheit und empfiehlt dem Minister, sich per Erlass darüber hinwegzusetzen, bis das Parlament neue Regelungen vorgegeben hat.

Während die Klage der verstorbenen Bettina Koch in den Vorinstanzen noch abgewiesen wurde, weil das Mittel nur zu therapeutischen Zwecken, jedoch nicht für Suizide ausgegeben werde, nahmen die höchsten Verwaltungsrichter einen neuen Standpunkt ein. In „extremen Notlagen“ müsse es im Hinblick auf Menschenwürde und Persönlichkeitsrecht Ausnahmen geben, wenn unheilbar Erkrankte unerträglich litten und es keine zumutbaren Möglichkeiten gebe, sich auf andere Weise das Leben zu nehmen.

Für Klagen gegen Behörden wie das BfArM ist das Leipziger Gericht die Endstation. Bürger, die dort unterliegen, können zwar noch mit Hinweis auf ihre Grundrechte vor das Bundesverfassungsgericht nach Karlsruhe ziehen. Dem Staat dagegen ist dieser Weg versperrt. Er hat keine Grundrechte. Eine Chance, den konkreten Spruch in Karlsruhe prüfen und aufheben zu lassen, gibt es nicht.

Darf ein Minister ein Urteil ignorieren?

Ein ministerieller Erlass an das BfArM, das Urteil ignorieren zu dürfen, wäre für eine Exekutive, die der Justiz unterworfen ist, ein heikler Schritt. Solche so genannten Nichtanwendungserlasse sind aus der Finanzverwaltung bekannt. Gelegentlich werden Ämter angewiesen, Urteile des Bundesfinanzhofs zu missachten. Verfassungspolitisch sind die Verfahren hoch umstritten. In den Medien sind sie selten Thema, da Bürger durch die Erlasse meist steuerlich begünstigt werden.

Di Fabio überträgt die Steuererlasse auf die Situation todkranker Patienten. Die aktuell 86 Wartenden sind, wie das BfArM versichert, mit ihrem Sterbewunsch und in ihrer derzeitigen Lage ernst zu nehmen. Dennoch werden sie seit bald einem Jahr hingehalten. Gröhe fürchtet offenbar, sein Tabu später nicht wieder per Gesetz errichten zu können, wenn es zuvor einmal gebrochen würde.

Man wird Minister und BfArM nicht zu nahetreten, wenn man in dem Auftrag an Di Fabio eher politische Motive vermutet als einen Zugewinn an juristischer Erkenntnis. Der Gutachter und bekennende Katholik warnt seit langem vor einer „Gesellschaft, die ihre Hand zur Selbsttötung reicht“. Als Karlsruher Ex-Richter strahlt er im Abglanz früherer Amtsautorität. Auch dies dürfte ein Grund gewesen sein, ihn mit der Sache zu betrauen.

Die mediale Berichterstattung spielt für Gröhe eine wichtige Rolle

Es war abzusehen, dass Gröhe und BfArM mit ihrem Zögern Zeit gewinnen wollten. Der Tagesspiegel stellte daher frühzeitig einen Antrag auf Aktenherausgabe nach dem Informationsfreiheitsgesetz, der auch eine Herausgabe des Di-Fabio-Gutachtens einschloss. Parallel wurde regelmäßig nach dem Stand der Urteilsumsetzung gefragt. Im Dezember übersandte das Ministerium Unterlagen, hielt jedoch Gutachten und internen E-Mail-Verkehr der Behördenleitung zur Urteilsbewertung zurück. Tagesspiegel-Anfragen wurden seit Anfang Januar vollständig ignoriert.

Viel spricht dafür, dass Gröhe und das BfArM stattdessen ihnen in dieser Frage gewogene Medien kontaktierten, bevor das Gutachten an einem Montagnachmittag im Januar plötzlich veröffentlicht wurde. So erschien tags darauf etwa die „Frankfurter Allgemeine“ (FAZ), die das Leipziger Urteil wiederholt kritisiert hat, mit ausführlichen Zitaten des Ministers und des BfArM-Präsidenten sowie zustimmender Analyse. Damit war ein wichtiger Ton gesetzt, bevor andere berichten konnten.

Gröhe produziert Unklarheit, wo das Gericht klar war

Politik wird eben nicht nur mit veröffentlichter Meinung gemacht, sondern auch und vor allem mit Nachrichten. Dazu gehört auch Gröhes via FAZ verbreitete Botschaft, des Gesetzgeber müsse nun Unklarheiten beseitigen. Das Urteil des Leipziger Gerichts ist an Klarheit jedoch kaum zu übertreffen. Gröhes Strategie zielt deshalb darauf, es politisch zu unterlaufen. Die Unklarheiten, die er per Gesetz weggeschafft haben will, hat Gröhe mit seinem Gutachtenauftrag selbst erzeugt.

Bundesinstitut und Ministerium mauern auf die Frage, wann sie welche Medien vor ihren amtlichen Bekanntmachungen Mitte Januar über Gutachten-Inhalte informierten, um die politische Öffentlichkeit in ihrem Sinne vorzuformen. Der Minister möchte nicht einmal sagen, wann er seine in der FAZ wiedergegebenen Zitate geäußert hat. Eine Begründung für das Schweigen fehlt ebenfalls. Dabei sind Behörden verpflichtet, auf Anfrage über ihr amtliches Handeln Auskunft zu geben – auch über ihr Informationshandeln.

Mit derartigem Behördengebaren hat sich kürzlich ebenfalls das Bundesverwaltungsgericht beschäftigt, auf Antrag des Artikelverfassers. Ergebnis: Behörden sind über „selektive Informationsvermittlung“ an von ihnen bevorzugte Medien auskunftspflichtig. Mehr Transparenz für Politik-PR von staatlichen Stellen, lautet die Devise. Doch was in Leipzig höchstrichterlich geurteilt wird, scheint für manche wenig verbindlich zu sein.

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